IASLonline

Porträts in der dänisch-norwegischen Literatur

  • Joachim Schiedermair: (V)erklärte Gesichter. Der Porträtdiskurs in der Literatur des dänisch-norwegischen Idealismus. (Stiftung für Romantikforschung 43) Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 364 S. Kartoniert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3852-5.
[1] 

Diese Studie zum Porträtdiskurs ist eine leicht umgearbeitete Habilitationsschrift, mit der der Autor, mittlerweile Professor für Neuere skandinavische Literaturen in Greifswald, 2006 an der Ludwig-Maximilians-Universität München habilitiert wurde. Sie entstand im Kontext des DFG-Projektes NORDBILDTEXT, das von 1999 bis 2003 am Institut für Nordische Philologie an der LMU angesiedelt war, und nimmt ihren Ausgangspunkt in der Funktion des Bildes als »Leitmetapher des Erkenntnisprozesses« (S. 10), als »Modell der Weltwahrnehmung und Weltaneignung« (S. 11). Das besondere Interesse Schiedermairs gilt indes nicht den zumindest außerhalb der Skandinavistik bereits häufig behandelten epistemologischen Frage‑ und Problemstellungen. Stattdessen fordert er die Hinwendung zur conditio ethica des Porträtdiskurses (S. 12) bzw. die Untersuchung des »Konnex von Erkenntnis, Ästhetik und Ethik« (S. 14). Ein solches Untersuchungsinteresse impliziert nicht zuletzt auch eine Fokussierung auf den Zusammenhang der Konstruktion von Weiblichkeit mit dem idealistischen Diskurs über das Porträt. Seine Studie will Schiedermair verstanden wissen als Beitrag der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft bzw. literaturwissenschaftlichen Skandinavistik zu einer noch im Entstehen begriffenen Bildwissenschaft – und um es gleich vorwegzuschicken: Der Beitrag ist ein durchaus gewichtiger.

[2] 

Schiedermairs einleitende Darlegungen zum ›disziplinären Ort‹ seiner Studie diskutieren allerdings nicht, welche anderen Ansätze für die Analyse des literarischen Porträtdiskurses noch denkbar gewesen wären. Die Intermedialitätsforschung wird so (wenn ich aufmerksam genug gelesen habe) kein einziges Mal auch nur erwähnt, obwohl der Porträtdiskurs – als literarischer – nun zweifelsohne ein intermedialer ist bzw. als ein intermedialer aspektuiert werden könnte. Man darf vermuten, dass die in der Intermedialitätsforschung der letzten Jahre zu beobachtende Konzentration auf sterile Klassifikationssysteme, eine Tendenz zum Medienessentialismus sowie die Ausblendung ethischer Fragen die Gründe für die Nicht-Thematisierung dieses ja recht produktiven Forschungsfeldes sind. Aber es hätte die Wahl des eigenen Ansatzes und dessen Erkenntnisleistung noch plausibler gemacht, wenn dies explizit diskutiert worden wäre.

[3] 

Gegliedert ist die Studie in insgesamt vier Hauptteile, die sich mit dem Porträtdiskurs im Idealismus (die Texte stammen im Wesentlichen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) aus allgemein-theoretischer, zeitgenössisch-metaästhetischer und literarisch-genderorientierter Perspektive auseinandersetzen. Als Resümee dient eine Analyse des Porträtdiskurses in Søren Kierkegaards Forførerens Dagbog [Das Tagebuch des Verführers] (1843). Sein Vorgehen bezeichnet Schiedermair selbst an einer späten Stelle im Text als »Versuch eines textnahen, hermeneutischen Nachbuchstabierens« (S. 242) des historischen Horizontes der Texte. Dass Schiedermair auch mit in den Literaturwissenschaften kanonisierten neueren Theoriebildungen (Barthes, Baudrillard, Butler, Foucault, Genette, Lacan, Lévinas, Luhmann etc.) vertraut ist und kritisch mit ihnen umzugehen vermag, wird allerdings an zahllosen Stellen in der Abhandlung deutlich. Immer wieder wird auf Überlegungen dieser Theoretiker referiert, wobei Schiedermairs Rückgriff auf diese applikativ motiviert ist und daher mit einem klaren, unmittelbaren Erkenntnisgewinn für den jeweiligen Argumentationsschritt einhergeht. Positiv hervorzuheben ist auch, dass die Studie keine überflüssigen Digressionen enthält und stilistisch gut lesbar ist; Schiedermair gelingt es zumeist, auch komplexe Sachverhalte in einer klaren Sprache darzulegen.

[4] 

Teil A leistet zunächst die Erarbeitung des idealistischen Paradigmas des Porträts. Als Einstiegspunkt dient eine didaktische, sehr anschauliche und zugleich ausgesprochen scharfsinnige Analyse von C.W. Eckersbergs Gemälde Kvinde foran et Speil. In dem sich anschließenden kenntnisreichen Überblick über die Porträtästhetik seit der Renaissance skizziert Schiedermair, wie sich die Opposition von Idealisierung und Ähnlichkeit im 19. Jahrhundert auf die Opposition zwischen einem substantiellen Innen und einem akzidentiellen Außen/Äußeren verschiebt: Es gilt jetzt im Idealismus, das ›wahre‹ Gesicht als das des wahrhaft Ähnlichen im Sinne von Idealität herauszuarbeiten, wodurch die Ähnlichkeitsbeziehung zum Sichtbaren hin aufgelöst wird. Gleichzeitig wird so eine Aufwertung des Malenden und seines schöpferischen Aktes sowie eine beginnende Autonomisierung der Kunst impliziert. Mit dieser Entwicklung einher gehen entsprechende Veränderungen in der Pragmatik des Porträts als kulturelle Praxis: Das Porträt wurde zunehmend als zweckentbunden aufgefasst, kulminierend dann in der Porträttheorie des Idealismus, die sich auf den Modus der ästhetischen Anschauung beschränkte und Porträts als Kunstprodukt nutzte. Dass bei dieser Entwicklung nicht von monolithischen Phasen, sondern eher von Überlagerungen auszugehen ist, demonstriert Schiedermair sehr anschaulich und überzeugend zugleich an den en passant-Erwähnungen von Porträts in Herman Bangs De fire Djævle [Die vier Teufel] (1890): In diesem Text erscheinen Rudimente eines älteren Diskurses über eine Porträtpraxis, die nichts mit der Einschreibung des Porträts in die zeitgenössische Theorie zu tun haben.

[5] 

Teil A endet mit der für Schiedermairs Vorhaben zentralen Eröffnung der ethischen Dimension des Porträtdiskurses. »Verklärung und Erklärung sind im klassischen Porträtdiskurs eins« (S. 57), konstatiert Schiedermair; gefordert sei daher ein ethischer Blick auf das Porträt. Für seine Kritik an der Praxis der rein ästhetischen Anschauung greift er auf Lévinas’ philosophische Ideolatriekritik zurück. Zur Konturierung von dessen Überlegungen werden, den Horizont des 19. Jahrhunderts transzendierend, Texte zweier schwedischer moderner Autoren, P.O. Enquist und Tomas Tranströmer, herangezogen. Die Andersheit des Anderen kann nicht »in einem Muster der Sichtbarkeit erfasst werden« (S. 76), d.h. aus der radikalen Inkommensurabilität des Anderen bei Lévinas folgt die These, »dass ein Porträt ein Erlebnis der Nicht-Abbildbarkeit des Dargestellten vermitteln kann« (S. 83).

[6] 

Teil B bietet dem Leser eine Analyse metaästhetischer bzw. metaästhetisch zu lesender Texte aus dem idealistischen Zeitalter (Johan Ludvig Heibergs Vorlesungen, Henrik Hertz’ Naturen og Kunsten, Camilla Colletts Det smukkeste Billede, Henrik Wergelands Jan van Huysums Blomsterstykke), die sich mit dem Kunstcharakter des Porträts auseinandersetzen und solchermaßen Ästhetik und Epistemologie des Porträts diskutieren. Wie Teil A und C wird auch dieser Teil durch eine anschauliche Analyse eines Werkes der bildenden Kunst (hier: Lucie Ingemanns Et Kors omgivet af Blomster staaende paa et Fjeld) eingeleitet, die didaktisch in die Problemstellung des jeweiligen Kapitels einführt. Während bei Heiberg eine semiotisch zu nennende Annäherung an das Bild bzw. Porträt herausgearbeitet wird, bewege Hertz sich in Richtung einer phänomenologischen Annäherung. Die Analyse von Colletts Det smukkeste Billede ist zweifellos einer der Höhepunkte der Studie: Überzeugend wird nachgewiesen, wie die Koppelung zwischen der »Ewigkeit des Kunstideals« und der »Statik des Weiblichkeitsideals« (S. 145), der Nexus zwischen erzwungener weiblicher Passivität und dem ›klassischen‹ Porträt in Colletts Text zum Eintreten für das neue Porträtmedium der Photographie führt.

[7] 

Das letzte Beispiel im ›metaästhetischen‹ Teil B ist dann Wergelands in der Forschung vieldiskutierter Text Jan van Huysums Blomsterstykke. Auch wenn Schiedermairs Einschätzung zu teilen ist, dass dies kein Text über die laokoonistische Differenz und Hierarchisierung der Kunstarten, sondern ein metaästhetischer Text über Kunst generell sei, drängt sich doch die Frage auf, mit welcher Berechtigung dieser Text über ein Stillleben im Kontext des Porträtdiskurses dermaßen ausführlich diskutiert wird: Die Analyse von Jan van Huysums Blomsterstykke – sicherlich einer der komplexesten literarischen Texte in den skandinavischen Literaturen des 19. Jahrhunderts – ist die längste aller Textanalysen überhaupt. Schiedermair greift diesen möglichen Einwand allerdings selbst auf (vgl. S. 83), indem er das Kapitel zum einen als »Exkurs« bezeichnet und zum anderen ausführt, dass der Text zwar eingestandenermaßen »über weite Strecken nichts mit dem Porträt zu tun« habe (S. 83), aber erst im Genre des Porträts der Gewaltakt der ›erkennenden‹ Ästhetik deutlich werde (S. 180f), »die das dargestellte Modell im Malakt in ein Objekt verwandelt. Man kann also zusammenfassen: Die am Modus der Erkenntnis geformte Ästhetik wird in der Metapher des Bildes, die potentiellen Übergriffe dieser Ästhetik werden in der Metapher des Porträts sagbar« (S. 181). Dennoch kann man sich als Leser nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass das Kapitel mehr durch den (hochinteressanten) Primärtext selbst und weniger durch die eigentliche Problemstellung des Porträtdiskurses motiviert ist.

[8] 

Eine indirekte Bestätigung erhält diese Vermutung, wenn der Autor weder im Kontext dieses Kapitels noch im Literaturverzeichnis darauf verweist, dass er bereits 2006 in der in Norwegen erscheinenden Edda einen norwegischsprachigen Aufsatz zum Erhabenen in Jan van Huysums Blomsterstykke veröffentlicht hat: »Sublime ekfraser. Det opphøyede som semiotisk prosess i Henrik Wergelands Jan van Huysums Blomsterstykke«. 1 In diesem Aufsatz, dessen Formulierungen zum Teil wiedergängerartig im »Exkurs« auftauchen, sind einige wesentliche Erkenntnisse der Schiedermairschen Lesart des Textes in (V)erklärte Gesichter bereits vorweggenommen worden. Aber auch die Differenzen sind auffällig, denn signifikanterweise referiert Schiedermair 2006 bei seiner Interpretation von Jan van Huysums Blomsterstykke kein einziges Mal auf den Porträtdiskurs.

[9] 

In Teil C fährt Schiedermair mit der Lektüre von Texten fort, die »nicht über das Porträt [sprechen], sondern mit dem Porträt über ein bestimmtes anderes Thema« (S. 15): Paludan-Müllers Kjærlighed ved Hoffet, Gyllembourgs En Episode, Hertz’ Portraitet und Topsøes Daphne. Fokussiert wird jetzt die Überschneidung von rousseauistischem Weiblichkeitsdiskurs und idealistischem Porträtdiskurs im 19. Jahrhundert. Der Einstieg erfolgt wiederum über ein bekanntes Gemälde, nämlich über eine erhellende Interpretation von Wilhelm Marstrands berühmter Darstellung der Familie Heiberg-Gyllembourg. Schiedermair interpretiert das Bild hellsichtig und überzeugend als »Bild eines [kulturellen] Paradigmenwechsels« (S. 195) in der Gegenüberstellung von Thomasine Gyllembourg einerseits und Johanne Luise Heiberg anderseits. Letztere musste zudem in ihrer Doppelrolle als Frau und Schauspielerin paradoxerweise eine natürlich-naive, unmittelbar ›lesbare‹ Weiblichkeit und eine reflexiv-naive Schauspielerei vereinen. Schon bei Paludan-Müller wird das Porträt dann »zum Indikator für die analoge und sich deshalb ausschließende Konstruktion von Weiblichkeit und Kunst« (S. 216).

[10] 

Eingefügt in Teil C ist ein zweiter expliziter Exkurs, der zwar wie der erste zu Wergelands Jan van Huysums Blomsterstykke durchaus gedankenanregend ist, aber auch zu Widerspruch herausfordert. Die explizit skizzenhaften Darlegungen zur heimlichen »Verwandtschaft« (S. 241) bzw. »Familienähnlichkeit« (S. 251) – die familiale Metaphorik ist wohl Wittgenstein entlehnt – von Postmoderne und 19. Jahrhundert formulieren die These einer »inneren Verwandtschaft der Texte aus dem Umfeld des Idealismus und der Theorien des (Post)Strukturalismus und der Dekonstruktion« (S. 242). Entsprechend behauptet Schiedermair, dass seine Textlektüren zwar »eine Nähe zu Arbeiten aus dem poststrukturalen Lager« (ebd.) hätten, diese Lektüren sich aber aus den Texten selbst ergäben, nämlich de facto »ausschließlich eine Rekonstruktion der Texte« (S. 241) seien. Der Nachweis der ›Verwandtschaft‹ wird indes geführt, indem zum einen in der Merkmalliste über die mit sex und gender korrelierten Begriffe auf S. 247 f. ein Oppositionspaar großzügig komplett gestrichen wird und das fünfte Paar umgedreht wird, und weil zum anderen Butlers Überlegungen zu Gender in Gender Trouble, die angeblich eine analoge Struktur zum idealistischen Paradigma aufweisen, ebenso großzügig als pars pro toto für ›die‹ Postmoderne stehen sollen. Dass Butlers Ausführungen (die Schiedermair beeindruckend auf ihre Prämissen zurückführt) längst nicht diesen Status beanspruchen können, wird nicht zuletzt durch die zitierte Kritik Toril Mois deutlich, die als Theoretikerin nun sicherlich ebenfalls der Postmoderne zuzurechnen ist.

[11] 

Schiedermair hat zweifellos Recht, wenn er folgende Gemeinsamkeiten zwischen einem idealistischen Porträtdiskurs im 19. Jahrhundert und einem Poststrukturalismus à la Butler betont:

[12] 
Zum einen wird in beiden Fällen Person-sein mit der Identität von Bestimmungsmerkmalen gleichgesetzt; zum zweiten fassen beide den Körper als einen nachträglichen, historisch variablen Effekt auf; zum dritten sehen sie eine einheitliche Triebkraft am Werk, die Übergänge zwischen scheinbar unvereinbaren Optionen schafft; und zum vierten kann man beide Paradigmen in der metaphorische [sic] Logik des Bildes darstellen. (S. 251)
[13] 

Aber es stellt sich die Frage, ob nicht gerade im Hinblick auf eine ethische Perspektivierung des Porträtdiskurses eher die Differenz statt der Verwandtschaft betont werden sollte. Den entscheidenden Unterschied zwischen Butlers Theoriebildung und dem idealistischen Paradigma spricht Schiedermair selbst an: »Butler zielt auf einen historischen Relativismus, der Idealismus auf ewige Wahrheit« (S. 249) – doch erstaunlicherweise scheint Schiedermair sich nicht recht für diesen doch fundamentalen Unterschied zu interessieren, sondern hebt stattdessen die analoge Struktur der Paradigmen hervor.

[14] 

Der letzte Teil der Studie (Teil D) bündelt durch eine und in einer Analyse des Porträtdiskurses in Søren Kierkegaards Forførerens Dagbog alle bisher vorgebrachten wichtigeren Aspekte. Der idealistische Porträtdiskurs wird in diesem Text einer ethischen Kritik unterzogen, die sich darin zeigt, wie Johannes, dessen Äußerungen mit der idealistischen Porträttheorie unterlegt sind, mit seinen mentalen Porträts umgeht. Kierkegaard wendet sich gegen die Idealität des Porträts, weil diese die Zeitlichkeit und damit das eigentlich Menschliche ausschließe (S. 315), und führt so »das Paradigma, das die Texte des 19. Jahrhunderts trug, auf ein Ende zu« (S. 16).

[15] 

Schiedermair zeigt sich in seinen Textlektüren wie in seinen Bildinterpretationen (die diskutierten Bilder sind in guten Reproduktionen im Anhang dokumentiert) als ein begabter, sorgfältiger Analyst, dessen Beobachtungen immer wieder imponierend sind. Seine Argumentation vermag durchweg zu beeindrucken, ebenso seine Vertrautheit mit der Philosophie (vor allem der des 19. Jahrhunderts), der skandinavischen Literaturgeschichte sowie der einschlägigen Forschung. Hervorzuheben ist auch die beeindruckende Textauswahl in dieser ja thetisch organisierten Abhandlung: Denn viele der behandelten Texte aus dem idealistischen Zeitraum des 19. Jahrhunderts, also vor dem sog. Modernen Durchbruch ab den siebziger Jahren, waren in der Forschung bislang eher Marginalien der Literaturgeschichte. Allerdings hätte man als Leser gerne erfahren, nach welchen Kriterien die Textauswahl eigentlich erfolgte: Warum wurde ein Text wie Hanna Irgens’ »Familiebilledet. Sidestykke til Familieportraitet af Apel« aus deren Originale Fortællinger og Eventyr (1822) nicht berücksichtigt, um ein völlig willkürliches Beispiel zu nennen?

[16] 

Das Buch stellt zweifellos eine wesentliche Bereicherung sowohl für eine zukünftige ›Bildwissenschaft‹ als auch für die bereits existierende Skandinavistik dar – es sind ihm möglichst viele Leser zu wünschen.

 
 

Anmerkungen

In: Heft 2, S. 180–130.   zurück