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Utopische Wechselwirkungen

Einfluss und Rezeption naturwissenschaftlicher Entdeckungen auf utopisch-künstlerische Entwürfe

  • Mary Kemperink / Leonieke Vermeer (Hg.): Utopianism and the Sciences 1880-1930. (Groningen Studies in Cultural Change Vol. XXXVII) Leuven, Paris, Walpole: Peeters 2010. 204 S. Gebunden. EUR (D) 51,00.
    ISBN: 978-9-04-292298-3.
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Das letzte Viertel des 19. sowie das erste Viertel des 20. Jahrhunderts waren durch wichtige technische, naturwissenschaftliche und mediale Neuerungen gekennzeichnet. Vom Automobil zum Film, von der Evolutionstheorie zur Entropie, von den Röntgenstahlen zur Relativitätstheorie und Quantenphysik reichen die Schlagworte, die in den heutigen Kulturwissenschaften für diesen Abschnitt der Moderne als paradigmatisch diskutiert werden. Hinter diesen Neuerungen steht das wissenschaftsmethodische Programm des Positivismus, das neben seiner auf Apparate und Messverfahren konzentrierten Vorgehensweise vor allem aber auch ein Versprechen ausgab: dass das Verstehen der Welt bloß noch eine Frage der Messgenauigkeit sei. Daraus abgeleitete Utopien, die sich der einzelnen Technologien und Disziplinen bedienten, führten in ihren Entwürfen aus, was als Wissenschaftsprogramm auf der Agenda stand.

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So dauerte es nicht lange, bis beispielsweise aus der Darwin’schen Evolutionstheorie und ihren vielfältigen Verstehensmöglichkeiten jenes »survival of the fittest« des Sozialdarwinismus abgeleitet wurde, nach welchem die »fittest« als die »Besten« zu verstehen seien und sich die Evolution des Menschen daher zwangsläufig auf eine Verbesserung der Menschheit auswirken würde. Dass daraus Ideen von eugenischer Sozialhygiene bis zum »Übermenschentum« (in seiner Verständnisbandbreite von Friedrich Nietzsche bis H. G. Wells) erwuchsen, die gemeinsam auf ein Telos zusteuerten, war in der argumentativen »Richtungsweisung« der Evolutionstheorie bereits angelegt. Es ging hier, wie auch in zahlreichen anderen Wissenschaften, um die Projektierung und Projektion von Zukunft, welche sich mit Mitteln von Wissenschaft vorhersagen lassen sollte.

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Wissenschaftliche Aspekte der Utopie

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Der von Mary Kemperink und Leonieke Vermeer herausgegebene Sammelband Utopianism and the Sciences, 1880–1930 wirft einen Blick auf diesen Zeitraum und untersucht nicht nur die wissenschaftshistorischen Aspekte der Utopie (wie der Titel verkürzend verstanden werden könnte), sondern vor allem die Wechselwirkungen zwischen den Programmen und Rhetoriken von wissenschaftlichem und künstlerischem (Malerei, Literatur, Architektur, …) Utopianismus. Hierzu liefern die Herausgeber im Vorwort des Buches zunächst eine möglichst weitgefasste Definition:

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We regard the fundamental charactersitic of utopianism to be a belief in and a contribution to the realisation of a better world. This belief can be realistic or unrealistic, logical or illogical, applied or left confined to the drawing table, examined critically by utopianists themselves or by others in handsight. (S. X)
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Diese weitgehend nicht normativ formulierte Annäherung an das Konzept des Utopianismus versucht zunächst den negativen Nimbus, den der Utopie-Begriff gerade nach dem Niedergang der sozialistischen Utopien Osteuropas in den letzten Jahrzehnten bekommen hat, durch Implementierung von »Fiktion« zu vermeiden. Wie die Beiträge des Sammelbandes zeigen, stehen natur- und sozialwissenschaftliche Utopien nämlich keineswegs konträr zu den »utopian fictions« des 19. Jahrhunderts (etwa eines Samuel Butlers mit seinem 1872 erschienen Roman »Erewhon«); vielmehr bedienen sich beide Textgattungen derselben Rhetorik um ihre Zukunftsbilder zu zeichnen.

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Medientechnische Zusammenhänge von Licht und Raum

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So sucht gleich der erste Text von Linda Dalrymple Henderson am »Topos« der »vierten Dimension« die Verschränkungen zwischen moderner Einstein’scher Raum-Zeit-Physik und der modernistischen Architektur des Bauhaus’, namentlich ihres berühmten Vertreters Lazlo Moholy-Nagy. Dieser hatte bereits in den1920er-Jahren die bis dahin »bloß räumlich« darstellende Kunst der Bildhauerei mithilfe gezielten Einsatzes von Licht um die Dimension der Zeit erweitert. Sein »Light-Space Modulator« als »kinetische Plastik« führt dem Betrachter dieses Konzept bereits vor Augen; ist der Apparat selbst zwar das Artefakt; das, was er tut, jedoch erst die Kunst (die wiederum den Betrachter die Zusammenhänge von Licht- und Bewegungserscheinungen verdeutlichen soll). Um die medientechnischen Zusammenhänge von Licht und Raum kreisen zu dieser Zeit ebenfalls Fotografien vom Inneren des Körpers, erstellt mithilfe der Körpergrenzen-überwindenden, 1895 von Wilhelm Konrad Röntgen entdeckten X-Strahlung. Auch diese Verbindung spricht Henderson an und überführt die durch Röntgenfotografien stattgefundene zweidimensionale Auffaltung des Körpers auf Fotopapier in die Ästhetik des Kubismus, welche eine analoge topografische Verformungsästhetik praktiziert und damit dem von der Fotografie bedrohtem Realismus der Portrait-Malerei ein regelrecht analytisches Kunst- und utopisches Körperkonzept entgegenstellt.

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Entropie

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Dem Entdecker des zweiten Gesetzes der Thermodynamik, Rudolf Clausius und der von ihm 1865 so benannten »Entropie«, verdanken sich ebenfalls markante Utopien jener Zeit. Leonieke Vermeer untersucht den Einfluss, den dieses aus physikalischer Perspektive ja eher dystopische Naturgesetz auf die Kultur jener Zeit genommen hat. Entropie meint, dass in einem geschlossenen System alle Energie bestrebt ist, sich mit der Zeit gleichmäßig zu verteilen und aus energetischer Unordnung so von selbst Ordnung entsteht. Daraus resultiert nicht nur die Unumkehrbarkeit von zeitlichen Ereignissen, sondern vor allem auch ein Schicksal des Universums (als ein eben solches abgeschlossenes System), das dereinst in einem Zustand absoluter Energiegleichverteilung den so genannten »Kältetot« sterben wird. Vor diesem Hintergrund erschien Clausius’ Zeitgenossen nun alles menschliche Streben zunächst als ein vergeblicher Versuch, »Unordnung« in dieses nach totaler Ordnung strebende System zu bringen. Die utopischen Beschäftigungen mit der Entropie fanden jedoch genau hierin auch etwas Positives: Nachdem das zweite thermodynamische Gesetz bis Ende des 19. Jahrhunderts kaum Beachtung außerhalb physikalischer Interessentenkreise gefunden hatte, integrierte es der Philosoph Herbert Spencer in sein Gedankengebäude, von wo aus es in die Kultur diffundieren konnte.

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Schon 1873 kam eine Interpretation der Energiegleichverteilung auf, die diesen Prozess als allgemeines Gesetz zum Streben nach Stabilität und Gleichheit und damit positiv las. Neben futuristisch-literarischen Adaptionen fand die Entropie vor allem in spiritistischen Diskursen große Beachtung. Vermeer nennt hier die Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky. Aber auch hinduistische Strömungen griffen das Konzept auf und versuchten das entropische Telos als das Nirwana identifizierten. Wie bei nicht wenigen anderen komplexen naturwissenschaftlichen Theorien dieser Zeit waren es derartige Adaptionen, die für eine Popularisierung von Fachwissen sorgten, wie Vermeer feststellt: Der französische Astronom verhalf der Entropie mit seinem Roman Das Ende der Welt im Jahre 1894 zum Durchbruch; danach kannte man das thermodynamische Gesetz auch außerhalb physikalischer Institute.

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Evolution

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Als drittes Beispiel für eine solche interdiskursive Wechselwirkung des Utopianismus kann das von Cor Hermans untersuchte Aufgreifen der Evolutionstheorie durch die zeitgenössische Literaturproduktion genannt werden. Dass Darwins Theorie und deren Adaption zu einer Abstammungslehre durch den Zoologen Ernst Häckel zahlreiche »sozialdarwinistische« Utopien nach sich zog, ist bereits angedeutet worden. Auf welche Weise sich die utopische Literatur dieser Theorie stilistisch angenommen hat, stellt Hermans anhand von George Berhard Shaws Men and Superman und H. G. Wells A Modern Utopia vor. Beide Autoren befanden sich über den wissenschaftlichen Gegenstand in brieflicher Diskussion miteinander, was sich in ihren Werken inhaltlich niederschlägt. Markant erscheint, dass beide mehr im Sinn hatten als bloß Literatur zu produzieren: Ähnlich wie der bereits erwähnte Samuel Butler (der von Hermans ebenfalls in diesem Zusammenhang erwähnt wird), entwarfen sie utopisch-politische Fiktionen und stellten sich damit indirekt in die Traditionen von Tommaso Campanellas Der Sonnenstaat (1602) und Thomas Morus’ Utopia (1516), den Wells in seinem Werk gleichzeitig zitiert und »erweitert«.

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Der markante Unterschied zu diesen Renaissance-Theorien bestand nun darin, dass die Biologie mit der Evolutionstheorie eine faktische Grundlage für die Fiktionen Wells’ und Shaws lieferte, so dass deren fiktionalen Zukunftsentwürfe gleichsam die Qualität von deduktiven Prolongation erhielten. Diese waren allerdings mit größerer stilistischer Freiheit vorgetragen, hinter der sich – wie Hermans unterstreicht – dennoch kaum verbergen ließ, dass insbesondere Shaw dabei die Eugenik im Sinn hatte. Das vormalige Verständnis von Utopie als »ferner Ort« (und ferne Zeit) wich einem Neuverständnis: Wells’ modernes Utopia sei, im Gegensatz zu Morus’ Konzept, kein Anderswo, sondern ein genetisch-biologisches »Anderswie«, das eine Super-Spezies vorstellt, die ihre animalische Vergangenheit überwunden hat.

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Engführung von Utopie und Wissenschaft

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Schon an diesen drei Beispielen zeigt, sich, wie fruchtbar die Engführung von Utopie und Wissenschaft im aspektierten Zeitraum gewesen ist, und wie folgenreich für die Zeit danach die Verquickung von Kunst und fachakademischen Diskursen wurde. Sicherlich hat es diese Interdependenzen auch zuvor gegeben. (Erwähnenswert scheint hier beispielsweise die Entwicklung räumlicher Perspektivik in der Malerei, die einen ästhetisch-epistemologischen Umbruch nach sich zog, nach welchem dargestellte Größe und politische Bedeutung topografisch voneinander entkoppelt wurden.) Doch vor allem die Industrielle Revolution und mit ihr die Entwicklungsbeschleunigung von Technologien und Wissenschaften führten zu jenem fruchtbaren »Sinnverlust«, auf dem die gegenseitige inhaltliche und stilistische Adaption von Utopien und Wissenschaft gedeihen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere nach der weiteren Popularisierung von Relativitäts- und Quantenphysik, potenzierten sich die utopisch-künstlerischen Auseinandersetzungen mit Naturwissenschaften und gebaren eine »Science Fiction«, die gleichzeitig als Angstprojektion und deren Rationalisierung fungierte.

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Fazit

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Der im Peeters-Verlag herausgegebene Hardcover-Sammelband berücksichtigt vor allem niederländische Diskurse, die – wie sich anhand der Quellen schnell zeigt – aber bereits eine enorme Vielfalt besitzen. Die Untersuchung nun auf weitere nationale und internationale Diskurse auszudehnen und vor allem weitere »utopische Wissenschaften« (insbesondere die Technik besitzt hier enormes Potenzial) auszudehnen, wäre ein sinnvolles und vielversprechendes Unterfangen. Die jetzt allenthalben (wie an der Berliner FU) entstehenden Studiengänge für Zukunftsforschung sollten diesen historischen Blick auf in ihre Programme integrieren, um ihr eigenes Programm historisch und diskursanalytisch einordnen zu können.