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Dem eigenen Leben eine Struktur geben

Lebensphasen der Frühen Neuzeit im Spiegel autobiographischer Dokumente

  • Kaspar von Greyerz: Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 303 S. 32 Abb. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-525-35893-1.
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Der Einband des zu besprechenden Buches zeigt das Gemälde Die sieben Lebensalter des Weibes von Hans Baldung Grien aus dem Jahr 1544. Zusammen mit dem Untertitel ›Lebensstufen‹ erweckt dies den Eindruck, als gehe es in der neuen Monographie des Basler Frühneuzeithistorikers Kaspar von Greyerz in erster Linie um die vergleichende Wertung der verschiedenen Lebensalter durch die Zeitgenossen. Tatsächlich spielen solcherlei Fragen im Buch eine nicht geringe Rolle, sowohl demographische Befunde und ihre Konsequenzen für die Selbstwahrnehmung der Beteiligten wie auch kulturanthropologische Überlegungen zur ›Liminalität‹ einzelner Lebensabschnitte und zur Ausdifferenzierung der sogenannten ›rites de passage‹ werden erörtert.

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Allerdings, so erweist sich schon bei einem kursorischen Blick auf die diversen Kapitel, bietet der Verfasser doch auch über weite Strecken grundlegende Informationen zu einzelnen, mit dem normativen Verlauf einer Biographie in Verbindung stehenden Aspekten des menschlichen Lebens, wie wir sie bereits aus den geläufigen sozialhistorischen Darstellungen des frühneuzeitlichen Alltagslebens kennen. 1 Des Weiteren fällt auf, dass von Greyerz sich weitgehend auf autobiographische Zeugnisse (Hauschroniken, Tagebücher, memoirenartige Texte und so weiter) stützt, was die Frage aufwirft, inwieweit die Fokussierung auf bestimmte, zum Teil genuin literarische Textsorten bei der Analyse reflektiert wurde. Im Folgenden gilt es also einerseits zu überprüfen, worin der Gewinn der Studie für die Frühneuzeitgeschichtsschreibung besteht, und andererseits, ob den spezifischen Bedingungen der textlichen Präsentationsform des Materials Rechnung getragen wurde.

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Geschichtswissenschaftliche
Basisentscheidungen

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Zur Verortung der Studie im Kontext der aktuellen Geschichtswissenschaft möchte sich der Rezensent, da selbst kein Fachhistoriker, nicht im Detail äußern. Leider markiert von Greyerz nicht – jedenfalls nicht an prominenter Stelle im Buch – das Ziel, das er mit seiner Untersuchung der Lebensstufen des frühneuzeitlichen Menschen verfolgt. Wohl wird deutlich, dass es ihm darum geht, das von Arnold van Gennep entwickelte und von Victor Turner und anderen weiter verfolgte Modell der ›rites de passage‹ (Übergangsriten) 2 auf die Strukturen des frühneuzeitlichen Alltagslebens anzuwenden (vergleiche S. 123) und Differenzen zur Moderne herauszuarbeiten. Tatsächlich wird am Schluss des Buches, offenbar als zentrales Ergebnis der Analysen, der Befund präsentiert, dass die besonders relevanten ›rites de marge‹ (Schwellen- und Umwandlungsriten) sich in der Frühen Neuzeit markant von entsprechenden Phänomenen späterer Zeiten unterschieden beziehungsweise überhaupt nur in der Vormoderne existierten.

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Während eine vorübergehende Ablösung von Handwerksgesellen und Studenten aus ihrem sozialen Umfeld mit nachfolgender Integration in die Herkunftsstrukturen durchaus Parallelen zu modernen Lebensformen aufweise – dies freilich cum grano salis –, gebe es andere Schwellenphasen, die »spezifisch vormodern« (S. 233) seien: den ›liminalen‹ Zustand des (noch) ungetauften Neugeborenen (genauer S. 61–68), die zeitweilige Isolation der Wöchnerin bis zur rituellen Wiederaufnahme in die Gemeinschaft beim ersten öffentlichen Kirchgang (S. 68 f., auch S. 47 ff.) und

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die Liminalität von bestimmten Toten, die aufgrund einer im Leben begangenen, ungesühnt gebliebenen schweren Sünde oder aufgrund eines Fluchs als Wiedergänger bzw. als Gespenster in regelmäßigen Abständen ins Reich der Lebenden zurückkehren müssen (S. 236, dazu auch S. 222 mit Anmerkung 37).
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Wie der Titel des Buches »Passagen und Stationen« andeutet, ist das Interesse des Autors nicht ausschließlich auf die Formen des Übergangs von einer Lebensphase in die andere gerichtet. In den Abschnitten, die der Kindheit gewidmet sind, wird zwar auf die alte Frage rekurriert, ob diese schon in der Frühen Neuzeit oder »erst mit dem Entstehen der bürgerlichen Familie seit dem späten 18. Jahrhundert« (S. 73) als eigenständige Lebensstufe anerkannt worden sei. Dann widmet sich von Greyerz aber doch ausführlich den unterschiedlichen Formen häuslicher und schulischer Erziehung – einschließlich der geschlechtsspezifischen und sozialen Differenzierungen –, ohne dass expressis verbis auf den womöglich ›liminalen‹ Status der Kinderzeit eingegangen würde.

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In anderen Fällen lassen sich ›Passage‹ und ›Station‹ in der Darstellung leicht trennen: Wenn einem Kapitel »Verlobung und Heirat« (S. 141–159) ein anderes mit dem Titel »Ehe, Haushalt und Familie« (S. 161–196) folgt, wird man im ersteren zu Recht eine Untersuchung evidenter Übergangsphänomene beziehungsweise -riten wie Brautwerbung, Eheversprechen, Aufgebot, Trauung, Hochzeitsnacht und so weiter erwarten. Es entspricht indessen dem Bedürfnis des Autors nach umfassender Darstellung des sozialen Kontextes, wenn am Beginn des Abschnitts ausführlich über das durchschnittliche Heiratsalter und die epochenspezifischen Probleme bei der Findung eines Partners oder einer Partnerin referiert wird.

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Dass die Makroepoche der Frühen Neuzeit, die hier sehr großzügig gefasst wird – 15. bis spätes 18. Jahrhundert, in mancher Hinsicht sogar darüber hinaus reichend –, nicht unerheblichen internen Wandlungsprozessen unterlag, wird vom Verfasser immer wieder deutlich artikuliert. Vielfach wird mit dem Einsetzen der Aufklärung eine gewichtige Neuorientierung markiert, die es im Zuge der Säkularisierung und Pragmatisierung des Eheverständnisses zunehmend ermöglichte, »eine Scheidung [allein] wegen Ehezerrüttung zu erreichen« (S. 176), oder bewirkte, dass »weniger einseitig über die Hinfälligkeit des Alters gesprochen und geschrieben und vielmehr auf die Autorität und Vernunft alter Menschen Bezug genommen« wurde (S. 208). Letzteres hatte freilich nicht zum wenigsten damit zu tun, dass die verbesserten medizinischen und hygienischen Bedingungen es den Menschen ermöglichten, gezielt auf die Verlängerung eines aktiven und gesunden Lebens hinzuwirken (vgl. S. 209).

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Es finden sich auch pauschale Hinweise wie der, dass mit der Aufklärung »eine stärkere Trennung privater und öffentlicher Bereiche« (S. 232) einher ging. Die Debatte um die notwendige Modifizierung von Otto Brunners Konzept des ›Ganzen Hauses‹ 3 wird rekapituliert, ohne dass – soweit ich sehe – von Greyerz sich zu einer gänzlich neuen Bewertung des Phänomens entschlösse (vgl. S. 26 f., 189 f.). Das Gleiche gilt für die wiederholt angesprochene Frage nach dem Einfluss der »durch Thomas Hobbes in seinem Leviathan (1651) vorexerzierte[n] cartesianisch-individualistische[n] Wende« (S. 26) auf das frühneuzeitliche Verständnis von »Ehe und Familie […] als Grundlage der sozialen Vergemeinschaftung« (S. 232, vgl. S. 189).

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Gliederung, Quellenkorpus,
Informationsgehalt

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In seiner »Einführung« (S. 9–45) rekapituliert der Verfasser zunächst die Einteilungsparadigmen, nach denen die Menschen in der Vormoderne das Leben zu gliedern pflegten. Neben den gebräuchlichen Zehnjahresschritten gab es demnach auch die auf Siebenerschritten aufbauende Klimakterientheorie, die um das 50. Jahr (7 x 7) das Leben auf den ›absteigenden Ast‹ brachte, was in eindrucksvollen Treppengrafiken veranschaulicht wurde (Abbildung S. 17, vergleiche auch S. 198 f.). Unter der Teilüberschrift »Ehe, Familie, Haus« wird erläutert, warum seit dem Aufkommen der Reformation und bis zum Ende der alteuropäischen Gesellschaftsstrukturen jene drei Aspekte »für eine Betrachtung der verschiedenen Lebensphasen … zentral« (S. 24) waren.

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Bei aller gebotenen zeitlichen und geschlechtsspezifischen Binnendifferenzierung lässt sich doch für die Frühe Neuzeit generell konstatieren, dass das Durchlaufen verschiedener familienständischer Stufen eine Grundbedingung für vollständige gesellschaftliche Integration des Individuums bildete. Unter der Rubrik »Demographische Rahmenbedingungen« werden sodann Phänomene wie das ›European marriage pattern‹ beschrieben, das sich aus Parametern wie dem Heiratsalter oder dem ›intergenetischen Intervall‹ (Zeitraum zwischen zwei Geburten) ergibt; außerdem wird erläutert, inwieweit Epidemien, Kinder- und Wochenbettsterblichkeit, Verzögerungen bei der Wiederverheiratung und Geburtenkontrolle die Bevölkerungsentwicklung beeinflussten.

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Die Dokumentation des verwendeten Quellenmaterials zeigt, dass der Verfasser sich weitgehend auf Mitteleuropa – mit einer überproportionalen Berücksichtigung der Schweiz 4 – sowie auf Quellen in deutscher Sprache beschränkt. Von den 44 näher untersuchten Selbstzeugnissen sind nur wenige (Johann Valentin Andreae, Johannes Butzbach, Johannes Gast, Konrad Pellikan, Johannes Rütiner; teilweise Johann Morhard) in lateinischer Sprache abgefasst. Dies ist zu rechtfertigen, wenn man bedenkt, dass auch die zahlreichen Selbstzeugnisse von Frauen und Angehörigen nicht-gelehrter Bevölkerungsgruppen Berücksichtigung finden sollten. 5 Man hätte allerdings bei den Latein schreibenden Humanisten die Zitate (auch) im Original anbringen und auf die sehr spezifischen Strukturen des humanistischen autobiographischen Schreibens eingehen sollen. 6 Im Übrigen ist festzuhalten, dass die zahlenmäßige Dominanz der protestantischen (lutherischen und reformierten) Autobiographien gegenüber den (fünf) katholischen der größeren Bedeutung schriftlicher Selbstvergewisserung im protestantischen Bereich entsprechen dürfte. Dass indessen nur ein jüdisches Selbstzeugnis – die Memoiren der Glückl von Hameln – vertreten ist, erscheint etwas ungeschickt, zumal die wenigen Zitate aus diesem Text kaum die Spezifika jüdischen Lebens im frühneuzeitlichen Mitteleuropa erkennen lassen.

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Im Hauptteil des Buches werden die wichtigsten ›Stationen‹ und ›Passagen‹ des frühneuzeitlichen Lebens systematisch beschrieben, von »Geburt und Taufe« über »Kindheit«, »Die Jugend und ihre Rituale«, »Gesellenzeit und Studium«, »Verlobung und Heirat«, »Ehe, Haushalt und Familie« bis zu »Alter« und »Tod«. Über das zu Beginn dieser Rezension Festgestellte hinaus ist vor allem zu bemerken, dass mit geradezu buchhalterischer Genauigkeit und vielfach im Anschluss an neuere Spezialforschungen alle wichtigen und weniger wichtigen Aspekte des sozialen Miteinanders, soweit sie sich bestimmten Lebensphasen zuordnen lassen, beschrieben und dokumentiert werden.

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Während im Hinblick auf geläufige Themen wie Ehe (kirchliche Trauung, Ehegerichte und so weiter) und Tod viel Allgemeinwissen rekapituliert wird, erfährt man etwa zu den Ritualen der Jugend (S. 107–121) mancherlei Details über frühneuzeitliche Knabenschaften, Licht- und Spinnstubenbräuche sowie diverse Rügerituale, die außerhalb der genuinen Volkskulturforschung kaum bekannt sein dürften, aber in ihren teils integrativen, teils subversiven Funktionen (bis hin zur Inszenierung einer verkehrten, karnevalesken Welt, vgl. S. 116–118) Analogien zu Verhaltensmustern in anderen Bevölkerungsschichten wie etwa der studentischen Kultur (hierzu vor allem S. 133–140) aufzeigen.

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Desiderate aus literaturwissenschaftlicher
Perspektive

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Der Verfasser betont zu Beginn der Studie, diese gehe aus seiner

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Beschäftigung mit Selbstzeugnissen des 15. bis 19. Jahrhunderts, d.h. mit Autobiographien, Tagebüchern, Familien- und anderen Chroniken, als Quellen der Geschichtswissenschaft hervor (S. 7).
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In einem Hinweis zur gewählten Methode heißt es an anderer Stelle, die Fokussierung auf Selbstzeugnisse sei nicht unbedenklich, da diese »immer nur eine vielfältig gebrochene, weil inhaltlich selektive und sprachlich domestizierte individuelle und kollektive ›Erfahrungsgeschichte‹ bieten können« (S. 44), weshalb es sinnvoll sei, als »Korrektiv« zuweilen auch »normative Texte […] von obrigkeitlichen Mandaten und Gesetzen bis zu Erziehungstraktaten« (S. 45) heranzuziehen.

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In Zusammenhang mit den Selbstzeugnissen, die »hermeneutisch« anzugehen seien, ist von der »Textualität dieser Quellengattung« (S. 44) die Rede. Allerdings bleibt der Autor hier sehr zurückhaltend. Gelegentlich wird von der ›panegyrischen‹ Struktur einer Lobrede auf die Ehefrau gesprochen (S. 190), einmal weist von Greyerz – in einem Forschungsreferat – darauf hin, dass »zur Artikulierung von Emotionen und Ängsten sowie von Sehnsüchten und Phantasien vorwiegend auf literarische Vorbilder zurückgegriffen wurde« (S. 218 f.). Zuweilen wird literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit auch bemüht, um Sachverhalte unterschiedlicher Art zu beschreiben, so etwa bezeichnet der Verfasser mit »schwarzer« beziehungsweise »weißer Legende« (S. 73) die Theorien, wonach der Kindheit in der Frühen Neuzeit geringere oder größere Aufmerksamkeit zuteil geworden sei, 7 oder nennt das »Lebensstufenmodell, das die einzelnen Lebensabschnitte als Treppenstufen in auf- und absteigender Form voneinander unterscheidet«, einen »vorrangig metaphorische[n] Kommentar zum menschlichen Lebensverlauf« (S. 231).

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Alles in allem bleibt die Zugangsweise allerdings dezidiert historiographisch. Das Literaturverzeichnis weist eine ganze Reihe von – allgemeinen, regionalen oder personenbezogenen – Studien zu Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit auf, die durchweg von Geschichts- oder Sozialwissenschaftlern stammen. 8 Genuin literaturwissenschaftliche Arbeiten bleiben fast konsequent ausgeschlossen. Neuere monographische Untersuchungen zu deutschen und Schweizer Autobiographien der Frühen Neuzeit wie die von Inge Bernheiden 9 , Stephan Pastenaci 10 , Hans Rudolf Velten 11 oder Barbara Schmid, 12 die teilweise dieselben Texte analysieren wie von Greyerz, oder gar die literaturtheoretisch avancierte Arbeit zur humanistischen Autobiographie von Karl Enenkel (siehe oben) sind ebenso wenig berücksichtigt wie epochenübergreifende Standardwerke. 13

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Es soll an dieser Stelle nicht grundsätzlich diskutiert werden, inwiefern historiographische und literaturwissenschaftliche Methoden sich sinnvoll ergänzen können – wofür etwa die von Rudolf Dekker und Winfried Schulze initiierten Studien zu den sogenannten ›Ego-Dokumenten‹, aber durchaus auch Untersuchungen von Kaspar von Greyerz und seinem Umfeld stehen 14 –, vielmehr ist hier nur auf einige Fälle hinzuweisen, in denen durch die Vernachlässigung der Textfunktion die Analyse eines autobiographischen Zeugnisses etwas problematisch wird. In einem Passus über die »geschlechtsspezifisch unterschiedliche Situation der Brautwerbung« (S. 148) präsentiert von Greyerz drei Selbstzeugnisse von Personen des 17. und 18. Jahrhunderts, eines Mannes und zweier Frauen, und weist damit – nicht überraschend – die aktive Rolle des Mannes und die zeitbedingt eher passive der Frau nach. Allerdings wird neben zwei autobiographischen Aufzeichnungen von Schweizer Bürgern, von denen eine sich als Histori des Lebens gibt (Johann Heinrich Hummel) und die andere offenbar zur Unterweisung der Kinder diente (Regula von Orelli-Escher: Erzählung an die 2 Knaben), auch ein Brief der in jeder Hinsicht exzeptionellen, damals fünfzehnjährigen Göttinger Professorentochter Dorothea Schlözer vorgelegt, die nach Ansicht des Verfassers eine »aufklärerisch beeinflusste jugendliche Vorstellung von einer Heirat allein aus Vernunftgründen« (S. 149 f.) vertritt. Es geht freilich in diesem Brief, anders als in den beiden autobiographischen Berichten, gar nicht um eine konkrete Heiratsanbahnung, vielmehr schreibt sich die junge Frau hier im Einverständnis mit einer gleichgesinnten Freundin in den zeitgenössischen Emanzipationsdiskurs ein, wobei sie Reichweite und Grenzen ihrer Entscheidungsfreiheit unverbindlich und in ironischem Plauderton reflektiert. 15

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Generell sollte jede Auswertung von Ego-Dokumenten von der – mehr oder minder evidenten – Konstruiertheit der Texte ausgehen. Kaspar von Greyerz tut dies auch, wenn er etwa im Bezug auf den Personalteil von Leichenpredigten von einer »Konstruktion der Erinnerung« (S. 219) spricht 16 oder hinsichtlich einer der wenigen herangezogenen Humanistenbiographien (hier des Hieronymus Wolf) betont, dass dessen »Klage über das Leiden des Alters« (S. 209) weniger empirisch rückgebunden als rhetorisch-funktional eingesetzt sei. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hätte man sich allerdings gewünscht, dass die topische 17 Fundierung vieler Selbstaussagen klarer markiert und dass eine deutliche Modifikation der Wirklichkeit, wie sie der Verfasser bei so prominenten Autobiographen wie Konrad Pellikan oder Justus Möser konstatiert, nicht durch Zuschreibungen wie »Hagiographie« oder »Beschönigung« (S. 191) diskreditiert würde.

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Pellikan wie Möser loben ihre verstorbenen Frauen in einer Weise, die nicht nur den Zeitumständen, sondern auch der Textsorte und Verbreitungsform angemessen erscheint. Der Humanist Pellikan begann 1544 mit der Niederschrift seines Cronicon C.P.R. ad filium et nepotes, einer Chronik also, die den männlichen Nachgeborenen zur eigenen Orientierung zugedacht war. Über die Gattin schrieb er hier, er »wage nicht zu behaupten, dass sie mich während dieser ganzen Zeit auch nur eine einzige Stunde lang bei meinen zahlreichen gelehrten Arbeiten gestört hätte« (S. 143). 18 Der in der Chronik festgehaltene Ist-Zustand wird, wie von Greyerz an anderer Stelle auch betont, in »didaktische[r] Funktion« (S. 191) an die Nachkommen weitergegeben. Die frühneuzeitliche Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau war in der Blütezeit des Humanismus, als die entsagungsvolle Arbeit des Philologen 19 in der Topik heroischer ›labores‹ gefeiert wurde, durch eben jenen existenziellen (und den Söhnen zu vermittelnden) Aspekt gekennzeichnet, dass die Frau dem Mann für seine gelehrte Tätigkeit die nötige Muße zu ermöglichen hatte.

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Umgekehrt ließe sich in Mösers Lobrede auf seine 1760 verstorbene Frau auf beispielhafte Weise eine Verschränkung des empfindsamen und des aufklärerisch-ökonomischen Diskurses nachweisen – ein Befund, der durch die zitierten Ausführungen von Claudia Opitz zur Rollenzuschreibung der Geschlechter ja auch nahe gelegt wird (S. 186). Es wäre aber eben auch sinnvoll, die literarische ›Gemachtheit‹ solcher Texte hervorzuheben, um zu demonstrieren, dass die Dokumente über ihren historischen Quellenwert hinaus auch als Medien der intersubjektiven Verständigung, und zwar im Rückgriff auf wirkungsvolle rhetorisch-literarische Kommunikationsstrategien, eingesetzt wurden.

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Fazit

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Alles in allem bietet der Band, der wohl zugleich für ein fachwissenschaftliches wie für ein breiteres Lesepublikum konzipiert ist, eine Fülle von Informationen über alles das, was in der Frühen Neuzeit mit dem (gottgewollten) Ablauf des menschlichen Lebens, mit Phasen der Etablierung und Phasen des Übergangs, mit Integration und Ausgrenzung und so weiter in Verbindung gebracht wurde. Differenzierungen in epochenspezifischer, stratifikatorischer, konfessioneller und bildungsmäßiger Hinsicht werden vorgenommen, als Gliederungsschema dienen allerdings die Abfolge der Lebensphasen selbst sowie innerhalb dieser die einzelnen sozialen Kommunikationsformen, Rituale und Bräuche, die in teilweise fast enzyklopädischer Form abgehandelt werden – weshalb übrigens neben dem beigegebenen Orts- und Namensregister auch ein Sachregister sinnvoll gewesen wäre.

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Die Kritik, die aus genuin literaturwissenschaftlicher Perspektive geäußert wurde, kann insofern relativiert werden, als für ein breites Spektrum historischer Wissenschaften von der Sozial- und Bildungsgeschichte bis zur Europäischen Ethnologie nicht nur vielfältige Informationen bereit gestellt werden, sondern auch ein guter Einblick in aktuelle Forschungsdiskussionen geboten wird. Die vielfach recht nachlässige Handhabung der Interpunktions- und Silbentrennungsregeln fällt wiederum dem Germanisten besonders auf und soll hier weniger dem Autor als dem Lektorat zur Last gelegt werden.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. 3 Bde. München 1990–1994 u.ö.; Paul Münch: Lebensformen der Frühen Neuzeit 1500–1800. Frankfurt / Berlin 1992 u.ö.   zurück
Arnold van Gennep: Les rites de passage. Paris 1909.   zurück
Otto Brunner: Das ›Ganze Haus‹ und die alteuropäische Ökonomik [zuerst 1956]. In: O.B.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 21968, S. 103–127.   zurück
Der Verfasser hat sich an den Beständen der unter seiner Leitung aufgebauten Baseler Selbstzeugnisse-Datenbank orientiert (http://selbstzeugnisse.histsem.unibas.ch). Von den drei benutzten Autobiographien, die bislang nicht ediert wurden (Josef Furttenbach, Ulm; Georg Kölderer, Augsburg; Johann Rudolf Huber, Basel), wird die erste derzeit von einem Arbeitskreis um Kaspar von Greyerz zum Druck vorbereitet (http://histsem.unibas.ch/forschung/projekte/projektseiten/furttenbach-edition).   zurück
Insgesamt ist das Spektrum der systematisch ausgewerteten Autorinnen und Autoren (Liste S. 279 f.) denkbar breit angelegt. Unter den Verfassern deutschsprachiger Autobiographien besitzen zumindest Ulrich Bräker, Charlotte von Einem, Lucas Geizkofler, Thomas und Felix Platter oder die Visionärin Anna Vetter einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Literatur- und / oder Kulturgeschichte. Andere Figuren sind zumindest in Spezialforschungen zur Autobiographie prominent vertreten.   zurück
Vgl. Karl A. E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin / New York 2008. Zum Phänomen der ›Diskurseinschreibung‹ in der humanistischen Literatur ist generell – nicht nur im Zusammenhang mit Ego-Dokumenten – diese anregende Studie zu konsultieren (bes. S. 828 ff.).   zurück
So laut Rudolf Dekker: Childhood, Memory and Autobiography in Holland. From the Golden Age to Romanticism. London 2000.   zurück
Auffällig ist die starke Berücksichtigung von Bänden der geschichtswissenschaftlichen Reihe »Selbstzeugnisse der Neuzeit«, die von Alf Lüdtke, Hans Medick, Jan Peters, Claudia Ulbrich, Kaspar von Greyerz und Dorothee Wierling im Böhlau-Verlag herausgegeben wird.   zurück
Inge Bernheiden: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum. (Literarhistorische Untersuchungen 12) Frankfurt u.a. 1988.   zurück
10 
Stephan Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Historischen Psychologie. (Literatur – Imagination – Realität 6) Trier 1993.   zurück
11 
Hans Rudolf Velten: Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert. (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 29) Heidelberg 1995.   zurück
12 
Barbara Schmid: Schreiben für Status und Herrschaft: Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Zürich 2006.   zurück
13 
Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975 [dt. Der autobiographische Pakt. Frankfurt 1994]; Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. (Wege der Forschung 565) Darmstadt 1989; Michaela Holdenried: Autobiographie. (Reclams Universal-Bibliothek 17624) Stuttgart 2000. Vgl. aus germanistischer Perspekive jetzt die knappe Übersicht bei Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 5) München 2009, S. 839–850 (»Autobiographische Literaturformen«).   zurück
14 
Vgl. Winfried Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2) Berlin 1996; Kaspar von Greyerz u.a. (Hrsg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9) Köln u.a. 2001, vgl. hier besonders den einleitenden Beitrag von Fabian Brändle u.a.: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung (S. 3–31).   zurück
15 
Vgl. Bärbel und Horst Kern: Madame Doctorin Schlözer. Ein Frauenleben in den Widersprüchen der Aufklärung. München 1988.   zurück
16 
Der Verfasser bezieht sich auf die wichtige neue Studie von Sebastian Leutert: Geschichten vom Tod. Tod und Sterben in Deutschschweizer und oberdeutschen Selbstzeugnissen des 16. und 17. Jahrhunderts. (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 178) Basel 2007. Die herausragende Bedeutung von Leichenpredigten für praktisch alle historisch fundierten Wissenschaften wird seit einigen Jahrzehnten insbesondere durch die Arbeiten von Rudolf Lenz propagiert. Vgl. R.L.: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte. (Marburger Personalschriften-Forschungen 10) Sigmaringen 1990.   zurück
17 
Gerade auch der von Hieronymus Wolf aufgegriffene Topos wird seit der Antike unendlich oft verwendet. Der locus classicus für die pro & contra diskutierte Altersklage stammt aus Terenz, Phormio 575 (»senectus ipsa est morbus«).   zurück
18 
Der Verfasser zitiert hier eine deutsche Übersetzung des lateinisch abgefassten Textes. Die Stelle gefiel ihm offenbar so gut, dass er sie S. 190 f. gleich noch einmal wiedergab.   zurück
19 
Pellikan machte sich vor allem als Hebraist und Bibelkommentator einen Namen.   zurück