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Geschichte der deutschen Poetik im internationalen Kontext (1770-1960)

  • Sandra Richter: A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770-1960. Berlin: Walter de Gruyter 2010. XIV, 455 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 9783110222449.
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Eine enge Verschmelzung von Poetik und Ästhetik

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Sandra Richter stellt in dem Band A History of Poetics zwei Jahrhunderte, die überreich an ästhetischen und poetologischen Betrachtungen waren, gewandt und scharfsinnig dar. Sie lässt sich von der ungeheuren Materialmenge, die es zu untersuchen gilt, in keiner Weise einschüchtern und gibt dem englischsprachigen Leser ein wertvolles Instrument an die Hand, mit dem er sich auf einem Gebiet zurechtfinden kann, das oft in allzu enge Untersuchungsbereiche aufgeteilt wird. Aus den verschiedenen Gesichtspunkten, die sich für eine Auseinandersetzung mit diesem Band anbieten, wird für die Besprechung die enge Beziehung von philosophischer Ästhetik und Poetik ausgewählt. Wie die Autorin zu Recht bemerkt, ist es seit dem 18. und bis ins 20. Jahrhundert hinein außerordentlich schwer, eine Trennung zwischen Ästhetik und Poetik zu vollziehen. Das philosophische und das dichterische Denken beeinflussten und überholten sich wechselseitig, schon bevor der revolutionäre Kantsche Kritizismus sich ausbreitete.

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Schönheit, Kreativität und sittliches Gefühl

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Die Synergie von der »Anstrengung des Begriffs« (Hegel) und der Dichtung wird von Richter sogleich zu einem zentralen Anliegen gemacht. Ausgehend von der Definition Heinrich Ludens behandelt die Autorin im ersten Kapitel Eclectic Poetics: Popular Philosophy das Werk einiger bedeutender Denker zwischen 1770 und 1790 wie Charles Batteaux, Denis Diderot und Edmund Burke. So erfährt der Leser, dass diese »Eklektiker« ihre Inspiration aus anthropologischen und psychologischen Fragestellungen beziehen, dem Ursprung der verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen auf den Grund gehen und nach einem Vergleich derselben zu dem Schluss kommen, dass die Literatur eine höhere Kunstform ist als die anderen.

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Die Entstehungsvoraussetzungen und die wesentlichen Leitlinien der jeweils behandelten Poetik werden synthetisch in einen theoretischen Rahmen eingebettet, woraus sich ein lebendig dargestellter historisch-kritischer Überblick über alle für die Entwicklung der Literaturwissenschaft direkt oder indirekt relevanten Texte ergibt. Eines der bedeutendsten und beliebtesten Werke der Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, und zwar die Allgemeine Theorie der schönen Künste von Johann Georg Sulzer (1771–1774), für die der Autor die Erscheinungsform des Lexikons wählte, die besonders in Frankreich (dank Bayle, Lacombe, Pernéty) bereits in Mode war, wird in erster Linie erörtert. Die Ästhetik wurde hier als Philosophie der schönen Künste mit einer moralisierenden Tendenz verstanden. Harmonie und sittliches Empfinden gehen Hand in Hand, bis sie sich schließlich vermischen, wie es später in der Philosophie Gotthilf Samuel Steinbarts der Fall sein wird, der 1786 diese Auffassung teilweise wieder aufnimmt und eine Geschmackwissenschaft entwickelt, in der sittliche Gefühle erst nach dem ästhetischen Wohlgefallen entstehen können. Auf diese enge Verknüpfung von ästhetischer Reflexion und Sittlichkeit wirft Sandra Richter neues Licht durch die Analyse der populären Ästhetik von Johann Joachim Eschenburg, Johann August Eberhard und Johann Jacob Engel, die die Ästhetik als Teil der Erfahrungsseelenlehre betrachten.

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Der relevante Einfluss der Philosophie auf die Poetik lässt sich jedoch besonders im Hinblick auf Kants theoretisches Erbe besser begreifen. Richter konzentriert sich daher auf die kritische und systematische Poetik von Johann Heinrich Gottlob Heusinger und Christian August Heinrich C. Clodius. Mit seinem Handbuch der Aesthetik von 1797 möchte Heusinger sogar »Dilettanten« bei der Entwicklung von Geschmacksurteilen unterstützen (vgl. Kap. 2 Transcendental Poetics and Beyond: Immanuel Kant’s Critical Successors 1790–1800). Vollkommenheit, Sittlichkeit und Annehmlichkeit werden zu den drei Grundprinzipien des Kunstwerks. In Anlehnung an das von Kant in der Kritik der Urteilskraft vorgeschlagene freie Spiel von Vorstellung und Verstand verwebt sich die Dichtung mit der Anmut des Spiels wie es im Entwurf einer systematischen Poesie von 1804 der Fall ist, wo Clodius zwischen bedingter und unbedingter Kunst unterscheidet. Die Dichtung darf die Wirklichkeit nicht nachahmen, weil sie eine schöpferische Kraft besitzt und eine spielende Kunst ist. Anders als Clodius vertritt Joseph Hillebrand in seinem Lehrbuch der Literar-Aesthetik von 1827 eine nüchternere und wissenschaftlichere Vorstellung von Schönheit, die ihn zu einer realistischen Poetik führt, in der das Schöne seine Wurzeln in der Wirklichkeit hat. Die Poetik ist also eine schöpferische Wiederaufnahme des Wirklichen, bei der Elemente, die im Leben schon vorhanden sind, in poetischen Worten wieder geboren werden.

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Geschichte, Kunstlehre und Poetik

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Auf der anderen Seite entsteht gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Richtung, die die Verfasserin im dritten Kapitel, Historical and Genetic Poetics, sorgfältig untersucht. Sie schreibt zu Recht der fließenden, reichen Gedankenwelt Johann Gottfried Herders für die Entwicklung der ethnographischen und anthropologischen Poetik eine entscheidende Rolle zu. Herder entfernte sich von der Klassik und wandte sich jener Dichtung zu, die aus der Authentizität der unwiederholbaren Individualität des Einzelnen entspringt. Gleichzeitig befreite sich Herder aus den engen Verflechtungen von Moral und Ästhetik. Im Grundriß der eleganten Literatur von 1774 arbeitet Justus Herwig in Übereinstimmung mit dem geschichtlichen Ansatz Herders keine poetologischen Grundtendenzen heraus, sondern widmet sich einer eher chronologischen Abhandlung der Literatur verschiedener europäischer und asiatischer Länder. Der Rezipient wird dadurch zum Richter über die Schönheit und Hässlichkeit der Dichtung erhoben, in der Überzeugung, dass die Seele eines jeden Volkes Samen der Dichtkunst birgt, die keimen werden. Es sollte dann ein kosmopolitischer Denker wie August Wilhelm von Schlegel sein, der sich an einer historisch begründeten Gesamtpoetik versuchte. Die Ästhetik wird als Kunstlehre oder Poetik aufgefasst, wobei der schöpferische Aspekt der Phantasie wesentlich ist. In jeder künstlerischen Ausdrucksform, von der Naturpoesie bis zur Kunstpoesie, tritt »das Poetische« auf und nimmt Gestalt an vor dem Hintergrund einer von »gränzenloser Progressivität« beseelten Unendlichkeit. Die Verknüpfung von Empfindsamkeit der Poetik und Akribie der philosophischen Reflexion bildet den Kern dieses Abschnitts.

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Die wechselseitige Inspiration von Poetik und Philosophie tritt dann in Schellings Ästhetik weiter in den Vordergrund. Dies wird im vierten Kapitel, Logostheological Poetics beyond Friedrich Wilhelm Joseph Schelling deutlich, in dem die Verfasserin zunächst von Schellings Auffassung der Kunst als »Spiegel des Weltganzen« und Ausdruck des Absoluten ausgeht, wobei die Tragödie den Gipfel der Kunstschöpfung darstellt, bevor die weiteren Auswirkungen auf die Ästhetik von Ast, Loreye und Johann Jacob Wagner behandelt werden.

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Post-idealistische Ästhetik

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In Kapitel 5 lenkt Richter die Aufmerksamkeit auf die komplizierte Entwicklung der post-idealistischen Poetik und widmet sich dem hedonistischen, antimetaphysischen und antitranszendentalem Denken Friedrich Bouterweks, das heute vergessen, aber zu seiner Zeit sehr bekannt war, wie die verschiedenen Auflagen seiner Ästhetik von 1806 beweisen. Sie geht dann näher auf die religiöse Poetik Wilhelm Wackernagels ein, dessen berühmtestes Werk Poetik, Rhetorik, Stilistik (entstanden 1836, erschienen aber erst 1873) auf eine religiöse Anthropologie gegründet ist. Auf die komplizierte Hegel-Rezeption auch außerhalb der engen Grenzen des Hegelianismus legt die Verfasserin dann einen besonderen Akzent. Die berühmten Berliner Ästhetik-Vorlesungen Hegels aus den zwanziger Jahren und die nach Hegels Tod von Heinrich Gustav Hotho besorgte Publikation beeinflussten die jüngere Generation, darunter vor allem Christian Hermann Weisse und später Friedrich Th. Vischer. Der »unorthodoxe« Weisse, der in der Sprache und im Wort die Objektivierung des Geistes erkennt, schreibt der Dichtung in seinem System der Ästhetik als Wissenschaft von der Idee der Schönheit eine zentrale Rolle als Geschöpf und Erscheinung des schaffenden Prinzips und als konkreten Ausdruck des schöpferischen Ideals zu. Einen Widerhall des Hegelismus findet man weiterhin in der monumentalen Ästhetik Vischers, in der sich eine spekulative Ästhetik Hegelscher Prägung entfaltet. Auf dem von Heusinger und Vischer vorgezeichneten Weg behandelt dann Rudolf Karl Gottschall das selbstbezogene Moment in der Literatur auf der Suche nach einer »latenten Poetik«, um eine Lücke zu füllen, die auf metaphysischem Unwissen der Ästhetik beruht. Der fruchtbarste Ansatzpunkt in Gottschalls Poetik ist zweifellos, wie Richter unterstreicht, seine Aufmerksamkeit für das Zeitgenössische, aufgrund derer die Dichtung danach streben muss, den Zeitgeist wiederzugeben und in enger Zeitnähe mit ihm zu verbleiben. Diese Intention machte seinen erfolgreichen Text, der nicht weniger als sechs Auflagen zählte, zu einer unentbehrlichen Quelle für die poetologische Entwicklung zwischen 1850 und 1890.

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Evolutionismus, psychologische und
geschichtliche Poetik

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Über den Hegelianismus hinaus wird der psychologische und empiristische Hintergrund der Ästhetik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Detail veranschaulicht. Bei Moriz Carriere begegnen wir zuerst einem neuen methodischen Herangehen an die Dichtung (vgl. Kap. 6 Pre-Empirical and Empirical Poetics since 1820). Vor dem Hintergrund der Darwinschen Theorien soll hier die literarische Entwicklung dadurch verstanden werden, dass beobachtet und gesammelt wird, was sich auf die schönen Gegenstände bezieht. Ein erklärtermaßen empiristisches und subjektives Vorgehen, das die Tradition eindeutig zurückweist, wird von Fechner vorgeschlagen, der über die alte objektive Spekulation der Systeme von Kant, Schelling und Hegel, die als »Riesen mit thönernen Füßen« bezeichnet werden, hinausgehen will. Daran anknüpfend untersucht Richter das poetologische Denken des jungen Dilthey, der in seinem Werk Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik von 1887 im Zusammenhang mit einer allgegenwärtig werdenden Geschmacksanarchie den Tod der aristotelischen Poetik und den daraus folgenden Abschluss einer langen poetologischen Ära ankündigt und eine neue historisch- anthropologische und psychologische Poetik anstrebt, die auf ästhetischer Erziehung beruht. Auf der Suche nach den Ursprüngen der Poesie begibt Dilthey sich in das Netz der Verflechtungen von poetischem Schaffen und Kritik und präsentiert die Einbildungskraft des Dichters als außergewöhnliches Talent, das den unwiderstehlichen Drang zu schreiben verspürt und oft absichtslos zum poetischen Wort führt. Im achten Kapitel, Poetics and Geisteswissenschaften, geht Richter der Entwicklung von Diltheys Studien in Richtung einer geschichtlichen Poetik nach, in der der Dichter als Genie der Nation einer ganzen Gemeinschaft Ausdruck verleiht. Auch der Ursprung der Poesie aus der Heiterkeit und ihre Schlüsselfunktion als Zaubermacht der Menschen in der Poetik Wilhelm Scherers werden genauer betrachtet.

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Dichtung, sprachliche Plastizität und
phänomenologische Poetik

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Der flüssige Stoff, der dem Dichter zur Verfügung steht, um seine unsterblichen geistigen Schöpfungen zu verwirklichen, die nicht auf materielle Grenzen, sondern höchstens auf Hindernisse stoßen können, die auf das Empfinden und Geschick ihres Schöpfers zurückgehen, ist Gegenstand einer gründlichen Untersuchung in Kapitel 9, The Turn Towards Language: Theodor A. Meyer (1901). Richter behandelt die unendliche Plastizität des poetischen Worts mit Bezug auf das Werk Das Stilgesetz der Poesie, das 1901 große Begeisterung entfachte, als es von Alexander Meyer, dem Nachfolger Vischers an der Universität Stuttgart und dessen erbittertem Kritiker, veröffentlicht wurde. Das Ziel, das Meyer mit seiner formalistischen Auffassung der Literatur anstrebt, ist die Werkimmanenz und die Befreiung der Dichtung von aller Doppeldeutigkeit und Vagheit. Die Kraft der dichterischen Schöpfung, die immer über die Absichten des Autors, und seien sie noch so anspruchsvoll, hinausgeht und sie in dem unendlichen, unvorhersehbaren Geflecht der Rezeption weit überholt, ist Gegenstand einer gewissenhaften Erörterung in Kapitel 10, Phenomenological and Ontological Poetics: Edmund Husserl and Roman Ingarden. Vor dem Hintergrund der Husserlschen Philosophie versucht Ingarden, den ontologischen Status der Kunst zu definieren. Er hält ihn für das ausschließliche Ergebnis intentionaler Akte, wie aus Das literarische Kunstwerk von 1931 hervorgeht, in dem er die Wesensanatomie, die Grundstruktur und die Seinsweise des literarischen Werks aufspüren will, das gleichzeitig die Realität (im intentionalen Akt des Schreibens) und die Idealität (im Akt der Rezeption) in sich vereinigt. Der Verfasserin gelingt es hier, eine ausgezeichnete übergreifende Zusammenschau der Poetik zu liefern, wobei sie sich nicht nur auf die Darstellung historischer Zusammenhänge beschränkt, was an sich schon sehr verdienstvoll wäre, sondern auch auf die impliziten theoretischen Grundlagen eingeht. Dem Einfluss, der von der transzendentalen Ästhetik Husserls – und speziell von der Theorie der Wahrnehmung als geistiger Akt und intentionaler Erfahrung – auf die Poetik ausgeht, gilt ihre besondere Aufmerksamkeit.

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Das Aufspüren der engen Verflechtungen von Philosophie und Literatur zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Band und kommt im elften Kapitel Antropology, Existentialism and Hermeneutics: the influence of Søren Kierkegaard and Martin Heidegger noch einmal zum Tragen. Hier geht Richter ausführlich auf die Annäherung von Poetik und Anthropologie ein, die in eine anthropologische Poetik mündet. Interessanterweise orientiert sich die Poetik am philosophischen Denken, von dem sie auch Hauptbegriffe (wie Heideggers Stimmung oder Dasein) und hermeneutische Verfahren übernimmt. Wie reich die Hermeneutik als Interpretationskunst ist, wird von der Autorin am Beispiel einer gründlichen synthetischen Analyse des Werks Theophil Spoerris, insbesondere seines Präludiums zur Poesie (1929) vorgestellt, bei dem er zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Dichtung nicht erklärt, sondern nur gedeutet werden kann. Dafür liefert die Philosophie natürlich unerschöpfliche Anregungen. Ein bemerkenswertes Beispiel sind die an den hart erkämpften Gedanken und dem schwierigen Leben des Katholiken Pascal und des Protestanten Kierkegaard orientierten existenziellen Paradigmen, die das Wesen von Spoerris »normativem Menschen« bestimmen, der sein Leben den höchsten Zielen weiht und versucht, die Widersprüche in der menschlichen Existenz zu überwinden.

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Den Grenzlinien und Überschneidungen von Ästhetik und Poetik kann man bis zu den Nachklängen des Existenzialismus Heideggerscher Prägung in der Literaturwissenschaft nachspüren. Die Entscheidung der Autorin, auf die frühe Rezeption von Heideggers Philosophie in der Literaturwissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzugehen, ist lobenswert, da diese Phase in der Heidegger-Forschung gewöhnlich übergangen wird. Aus der existenzialistischen Poetik Johannes Pfeiffers, in der dionysische Elemente (wie Rhythmus und Melodie) mit apollinischen (wie der grammatischen Struktur) eins werden, bezieht Richter einen weiteren wichtigen Anstoß zur Untersuchung der wechselseitigen Beeinflussung von Philosophie und Dichtung. Das gleiche gilt für Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters von Emil Staiger, der sich unter dem Einfluss der Lektüre von Heideggers Sein und Zeit eingehend mit der Zeitlichkeit befasst, wobei seine Überlegungen allerdings unabhängig von Heidegger sind und er dafürhält, dass man bei der Textinterpretation behutsam vorzugehen habe. Die Analyse des Sprachkunstwerks steht im Mittelpunkt des zwölften Kapitels The After-Life of the Artwork of Language. Richter bezieht sich auf Wolfgang Kayser, der im Jahr 1948 mit dem berühmten Buch Das sprachliche Kunstwerk eine bedeutende und sehr populäre Einführung in die Literatur, die die Dichtung als sprachliches Kunstwerk betrachtete, lieferte. Weniger originell, aber dennoch bemerkenswert ist Die Dichtung – Wesen – Form – Dasein von Herbert Seidler aus dem Jahr 1959, in dem der Einfluss Heideggers deutlich zu erkennen ist. Stil und Zeit sind Wesensmerkmale, die die poetischen Gattungen unterscheiden, wobei die durchgehende Bewegung, die verschiedenen Wiederholungen, die Ausgewogenheit der Glieder und der eigene Raum eine wichtige Rolle spielen.

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Politik und Poetik

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Neben den vielschichtigen Auswirkungen der Philosophie auf die Poetik gibt Richter jedoch auch den historischen Ereignissen, die ihren Schatten auf die Literaturwissenschaft warfen, angemessenen Raum. Die dunklen, vom Nationalsozialismus geprägten dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts spiegeln sich in den Poetiken der Zeit wider. Einige sind zum Teil offen politisiert, andere beteiligen sich nur indirekt an den rassistischen und biologistischen Diffamierungen, wie Sandra Richter in Kapitel 13 zeigt. Sie untersucht dabei vor allem die von Obenauer und Kindermann veröffentlichten Arbeiten, die offen faschistisches Gedankengut vertreten. Richter konzentriert sich auf die politischen Entscheidungen im Bereich der Ästhetik, die Hitler durch eine emphatische und die Macht zelebrierende Kunst, sowie durch eine »deutsche« Poetik durchsetzen wollte, um die Massen zu manipulieren. Mit der von ihm für seine nationalsozialistische Poetik herangezogene völkische und politische Dichtung will Karl Justus Obenauer die enge Verbindung von Dichter und Volksgeist bekräftigen. Mit der Verknüpfung der Begriffe Volkskörper, Volksgeist und Volksseele in dem Wort »Volkheit« vertritt Kindermann eine radikale Ausprägung rassistischer Germanistik. Richter behandelt ebenfalls die Poetiken, die sich der Biologie annähern und untersucht die Beziehungen zwischen Seele und Körper, wie sie in den antisemitisch geprägten Gedanken zu einer biologischen Literaturbetrachtung von Ludwig Büttner (1939) anzutreffen sind. In Günther Müllers Poetik entfällt der Antisemitismus. Er präsentiert die morphologische Poetik als Gestaltkunde. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Versuch, Veränderungen im dichterischen Werk nachzuvollziehen.

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Literatur in der Zeit der Reproduzierbarkeit

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In Kapitel 14, New Approaches in a Reproductive Era, geht es um den 1938 nach Amerika emigrierten Joachim Maass, und zwar insbesondere um sein 1949 erschienenes Werk Die Geheimwissenschaft der Literatur. Acht Vorlesungen zu einer Ästhetik des Dichterischen. Maass legt darin seine Erfahrung als Erzähler dar und beruft sich auf die großen Meister der Literatur wie Kafka, Rilke, Mann und Hesse. Max Wehrlis Allgemeine Literaturwissenschaft (1951), das Werk eines Dichters und Professors zugleich, wird von Richter mit Blick auf die Differenzierung herangezogen, die er zwischen Poetik und Literaturtheorie vornimmt und die er als erster in dieser Prononciertheit formuliert. In anderen Dingen bleibt er eher traditionell, etwa wenn es um die Bestimmung von ›Schaffen‹, ›Werk‹ und ›Verstehen‹ geht. Der Stil ist nicht der Mensch, sondern er evoziert Stimmung. Nach Ansicht der Autorin gilt die undefinierbare Natur der literarischen Stimmung ebenso für die Inspiration, die sich, wie sie in Kapitel 15, Tendencies, Trends and Sunken Ideas, erklärt, kaum auf den Punkt bringen lässt. Richter versucht, diese Schwierigkeiten zu überwinden, indem sie die Kultur der Verantwortung heranzieht als idealen Nährboden für die Entwicklungsbedingungen eines kritischen Bewusstseins wie des Geschichtsbewusstseins, einer klaren Ausrichtung, der Korrektheit und Angemessenheit, die Voraussetzung für jegliches wirklich inspirierte schöpferische Tun sind.

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Schlussbemerkungen und Fazit

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Eine ausgezeichnete Bibliographie, die Sandra Richter in Zusammenarbeit mit Anja Zenk, Jasmin Azazmah und Eva Jost erstellt hat, bildet den Abschluss des Bandes, der in seiner äußerst gewissenhaften Darlegung der Geschichte der Poetik in zwei Jahrhunderten zu einem hervorragenden Bezugspunkt für die Interpretation der Leitlinien der ästhetischen und poetologischen Geistesgeschichte wird. Mit ihrer gut lesbaren Studie ist es Richter gelungen, eine bislang sehr unübersichtliche Grenzdimension für die Philosophen und die Literaturwissenschaftler ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und das komplizierte Verhältnis von Poetik und Ästhetik zu erhellen. In seiner Poetik aus dem Jahr 1888 klagte Wilhelm Scherer über das Fehlen eines »Hilfsmittels zur Orientierung«. Diese Lücke hat Richter erfolgreich geschlossen.