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Vom Strukturalismus und Ähnlichem

  • Hans-Harald Müller / Marcel Lepper (Hg.): Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910-1975. (marbacher schriften. neue folge 5) Göttingen: Wallstein 2010. 416 S. Broschiert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-8353-0505-2.
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Zwei Annahmen waren es, die laut den Herausgebern des vorliegenden Tagungsbandes der gleichnamigen Marbacher Tagung im November 2007 die Richtung vorgaben: Die Ansicht, dass die deutsche Philologie lange »gegen die Rezeption des Strukturalismus resistent gewesen sei«, und die Ansicht, »dass es in Deutschland einen Strukturalismus oder zumindest ›Prästrukturalismus‹ eigener Prägung gegeben habe« (S. 8). Die erste These weisen die Herausgeber mit Hinweis auf Arbeiten von Wolf-Dieter Stempel und Klaas-Hinrich Ehlers gleich zurück. Welche Erkenntnisse liefert der Band im Hinblick auf die zweite Annahme?

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Überblick

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Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste (unter dem Titel »Begriffsklärung«) und der letzte (»Ende oder Kontinuität?«) enthalten jeweils zwei, der mittlere (»Theoriegeschichte und Fallstudien«) zwölf Beiträge. Während die beiden ersten Studien die Begriffe des Strukturalismus resp. der Struktur mit einschlägigen Komplementärbegriffen – Carlos Spoerhase mit Hermeneutik, Dirk Werle mit Ereignis – erhellen und in teils systematischer, teils theoriegeschichtlicher Perspektive verorten, zieht Michael Titzmann am Schluss des Bandes eine Bilanz, in der er den Beitrag strukturalistischer Kategorien nicht nur zur literaturwissenschaftlichen Theoriebildung, sondern auch zur Institution Literaturwissenschaft skizziert. Der andere Beitrag im Schlussabschnitt, von Marcel Lepper verfasst, resümiert und erörtert Versionen vom Ende des Strukturalismus.

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Die restlichen Aufsätze und Fallstudien haben jeweils einzelne Aspekte zum Thema, die den großen Bereich ›Strukturalismus‹ in unterschiedlichen Facetten beleuchten. Sie lassen sich trotz einigen Überschneidungen (die z. B. in der Person Roman Jakobsons manifest werden) in linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge unterteilen, wofür auch die institutionelle Herkunft der Autoren – aus germanistischer Literaturwissenschaft und Linguistik – spricht.

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Beiträge zur Linguistik

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Dass der Strukturalismus in der deutschen Linguistik seinen festen theoriegeschichtlichen Platz hat, dürfte kaum in Frage stehen. Heinz Vater stellt in seinem Beitrag über »Strukturalismus und Generative Grammatik in Deutschland« fest, dass sich letztere »aus dem Strukturalismus entwickelt« habe (S. 135), auch wenn sie der Linguistik schließlich ein ganz neues Profil gegeben habe. In seinem Beitrag gibt Vater sehr prägnante Kurzdarstellungen zunächst der nach geographischen Gesichtspunkten geordneten Varianten des Strukturalismus (Prag, Kopenhagen, USA) und dann der verschiedenen Entwicklungsstadien der Generativen Grammatik (»Frühphase« mit Chomskys Syntactic Structures von 1957, »klassische Phase« der sechziger Jahre mit der Standard Theory, »spät-klassische Phase« der siebziger und achtziger Jahre mit der Extended Standard Theory, X-bar Theory und Government-Binding Theory und »Spätphase« mit dem Minimalist Program). Insbesondere mit steigendem Komplexitätsgrad der Theorien wird es dem mit ihnen nicht vertrauten Leser schwierig zu erkennen, worauf es eigentlich ankommt. Zum Abschluss skizziert Vater den Rezeptionsverlauf in der BRD und DDR bis in die neunziger Jahre, wobei er darauf hinweist, dass paradoxerweise die US-amerikanische Theorie der generativen Grammatik ausgerechnet zuerst in der DDR aufgegriffen wurde, zu einer Zeit schon (in den sechziger Jahren), als in der BRD nur der Strukturalismus zur Kenntnis genommen wurde (vgl. S. 150 f.).

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Vater weist auch auf Ferdinand de Saussures Beitrag zur Entstehung des Strukturalismus hin (S. 127). Genau dieses Aspekts nimmt sich Ludwig Jäger in seinem Beitrag an, der Vaters unmittelbar vorausgeht. Jäger problematisiert den Anteil von Saussure an dem von seinen Schülern herausgegebenen Vorlesungsskript Cours de linguistique générale aus dem Jahr 1916, das später zur Gründungsurkunde des Strukturalismus gemacht wurde. Anhand von verschiedenen Zeugnissen – u. a. auch den 1996 gefundenen »Gartenhausnotizen« – versucht Jäger zu zeigen, dass Saussures »Ansichten mit Grundannahmen des Saussureschen Strukturalismus inkompatibel sind« (S. 118), wobei er auf eine stattliche Anzahl eigener Arbeiten verweisen kann, die der vorliegende Beitrag resümiert.

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Weniger theoretisch als institutionengeschichtlich ist ein anderer Beitrag fokussiert: Ulrike Haß geht dem Zusammenhang von Computertechnologie und Strukturalismus nach, den sie in die These fasst, dass die Technologisierung der (germanistischen) Linguistik nicht »ohne den Strukturalismus stattgefunden hätte« (S 214). In einer »Probebohrung im Bergwerk der Quellen« (S. 194) zeichnet sie zunächst die Konflikte nach, die aus den unterschiedlichen Zielvorgaben der frühen Computerlinguistik (Algorithmisierung) und den Befunden der theoretischen Linguistik entstanden, um danach »forschungspolitische und finanzielle Folgen« des Großprojekts ›Linguistische Datenverarbeitung‹ (1971–1980) zu erörtern.

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Literaturwissenschaftliche Beiträge

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Mit dem letzten Beitrag verbunden ist Petra Bodens Studie zum kybernetischen Strukturalismus. Darin skizziert sie zunächst die Entstehung der Kybernetik, um im Anschluss dem strukturalistischen Interesse an der Kybernetik nachzugehen, bevor sie den allgemeinen Zusammenhang an Max Benses »Labor-Ästhetik« exemplarisch untersucht.

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Hans-Harald Müller macht auf drei deutschsprachige »formalistische und strukturalistische Theorieansätze um 1910« aufmerksam, die das Bestreben einte, »die Datenmengen zu organisieren« (S. 218), die im Laufe positivistischer Quellenforschung angefallen waren: Volkskundliche Sagen-, Epen- und Märchenforschung, philologische Romanforschung und das Forschungsprogramm der allgemeinen Kunstwissenschaft.

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Der eingangs angesprochenen Themensetzung kommt Eberhard Lämmert am nächsten: Er erörtert »Strukturale Typologien in der Literaturwissenschaft zwischen 1945 und 1960« und kommt in der Gegenüberstellung mit strukturalistischen Ansätzen zu einem vorsichtig abwägenden Ergebnis: Es sei »eher kühn« (S. 266), die Ansätze der morphologischen Poetik von Günther Müller und seiner Schüler, Käte Hamburgers Logik der Dichtung von 1957 oder Volker Klotz’ Geschlossene und offene Form im Drama (1960) und ähnlich gelagerte Typologien mit einer strukturalistischen Herangehensweise gleichzusetzen. Dennoch sei »mindestens ein vergleichbarer Vorsatz, die Literaturwissenschaft zu erneuern«, auszumachen, der nach Lämmert in der Zielsetzung bestand, synchrone Kategorien zur Erfassung von Eigenschaften dichterischer Rede zu finden.

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Wilfried Barner über Friedrich Beißner und Wilhelm Voßkamp über Wolfgang Kayser nehmen sich zweier Exponenten der Nachkriegsgermanistik an, die aus unterschiedlichen Gründen in einen (Kontrast-)Zusammenhang mit dem Strukturalismus gestellt werden können. Kaysers Forschungsinteresse galt der dichterischen Sprache im Allgemeinen und mag daher, was den Gegenstand angeht, dem strukturalistischen Interesse ähnlich gewesen sein. Aber bei Kayser tritt nach Voßkamp die Ontologie an die Stelle der Semiotik (vgl. S. 304). Deutlicher konturiert Barner den leiseren Beißner als Persönlichkeit im Wissenschaftsbetrieb, der seine »Theorie-Skepsis« auch in seinen Vorlesungen zur Poetik (die Barner aufgrund von Archivmaterial rekonstruiert) nicht verleugnen konnte, aber als einer der ersten akademischen Kafka-Forscher und akademischer Lehrer nicht zu unterschätzenden Einfluss hatte und somit als exemplarischer Vertreter einer »Übergangszeit« gelten kann, die, so Barner, »gerade durch solche Wissenschaftsphänomene e contrario […] präziser erkennbar« werde (S. 297).

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Dem eigentlichen Strukturalismus näher kommen die letzten drei Beiträge des zweiten Abschnitts. Ben Hutchinson untersucht »Jean Amérys Dialog mit dem französischen Strukturalismus« und sorgt dafür, dass auch der außerakademische Bereich der Publizistik und damit die öffentliche Wahrnehmung des Strukturalismus Eingang in den Band findet. Er versucht dem Anti-Strukturalisten Améry in seinem Sprachgebrauch Affinitäten zum Strukturalismus nachzuweisen.

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Myriam Richter und Bernd Hamacher hingegen untersuchen einen Aspekt, der auch für die meisten akademischen Vertreter in der Regel verborgen sein dürfte: »Strukturalismus im Goethe-Wörterbuch«, den das Verfasserteam im Hinblick auf die konkurrierenden methodischen Überzeugungen der Verantwortlichen sowie im Hinblick auf die deutsch-deutsche Gemengelage, die sich bei den am Wörterbuch beteiligten Instituten in Ost und West mehr oder weniger in nuce offenbart, anhand von Akten und Protokollen analysiert.

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Den Abschnitt beschließt Jörg Schönert mit drei Beispielen, die den »Strukturalismus in der Praxis« zeigen. Anhand ausgewählter Publikationen von Helga Gallas, Jürgen Link und Michael Titzmann demonstriert Schönert drei Weisen der literaturwissenschaftlichen Aneignung des Strukturalismus, die er in drei Phasen bzw. Wege gliedert: Übersetzungen strukturalistischer Grundlagentexte und Forschungsreferate (Gallas) sowie Studienbücher zur Textanalyse/-interpretation (Link und Titzmann).

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Unterschlagen habe ich bislang, dass der zweite Abschnitt des Bandes mit Ralf Klausnitzers Abhandlung über »Transnationale Wanderungsbewegungen des Strukturalismus« beginnt, die er mit einer Reflexion auf »Theorie-Transfer und kulturelle Adaption« einleitet. Auf diesen und auf Spoerhases Beitrag möchte ich etwas detaillierter eingehen, um einige historische und systematische Aspekte des Bandes exemplarisch zu vertiefen.

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Beispiel Theoriegeschichte

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In drei Hauptkapiteln zeichnet Klausnitzer die bekannte Verbreitungsgeschichte des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus nach, die geltenden Vorstellungen gemäß mit dem Beginn des russischen Formalismus einsetzt und sich ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Tschechoslowakei zunächst über Teile Europas und ab den vierziger Jahren auch über die Vereinigten Staaten fortsetzt, bis sie in den sechziger Jahren schließlich Deutschland erreicht. Solch eine tour d’horizon kann naturgemäß die Prozesse nur schlaglichtartig erfassen. Im Zentrum des Geschehens steht Roman Jakobson, dessen Wanderungsbewegungen (und dessen Version der Strukturalismusgenese) Klausnitzers Darstellung sich in großen Teilen zum Maßstab nimmt.

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Dabei wäre es meiner Ansicht nach den Versuch Wert, Jakobsons Version zu hinterfragen. Jakobson hat es geschafft, mit Victor Erlich und Elmar Holenstein zwei Gewährsleute in der wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung von Formalismus und Strukturalismus zu positionieren, auf deren Versionen die meisten folgenden Arbeiten aufbauen. Doch so verdienstvoll und kenntnisreich diese Arbeiten ohne Zweifel sind: Sie sind unverkennbar Jakobsons Perspektive verpflichtet. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Klausnitzer rekapituliert Jakobsons Hinweis, dass der MLK (der Moskauer Linguistenkreis) 1915, der Opojaz (die Petersburger Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache) 1916 gegründet worden sei. Das ist durchaus richtig. Und erweckt trotzdem einen falschen Eindruck, den irreführenden Eindruck nämlich, dass die innovativen Impulse in der Poetik von Jakobson und aus Moskau, d. h. von der Linguistik ausgegangen seien. Doch wie Jindřich Toman und Anton Čudakov deutlich machen, sind die Mitglieder des MLK 1916 noch mit intensiver dialektologischer Feldforschung befasst, als die Petrograder Opojaz-Formalisten ihren ersten Band zur Theorie der poetischen Sprache (= Sborniki po teorii poėtičeskogo jazyka. Petrograd 1916.) publizieren und Viktor Šklovskij für den zweiten Band im Spätherbst des Jahres seinen später als Manifest des russischen Formalismus angesehenen Aufsatz Iskusstvo, kak priem (»Kunst als Verfahren«) schreibt. 1

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Jakobson hatte einen Vorteil: Er lebte in einer freien Welt, während all seinen Kollegen in der Sowjetunion (bzw. in der ČSSR) auch nach Jahrzehnten noch großer Ärger drohte, sobald man sie mit ihrer formalistischen Vergangenheit konfrontierte (so z. B. während der sog. Kosmopolitismus-Kampagne am Ende der vierziger Jahre). Nicht von ungefähr appelliert Viktor Žirmunskij, der im Übrigen so viel oder so wenig Formalist war wie Oskar Walzel, 1970 in einem Brief an Šklovskij, dass er als einer der letzten lebenden Zeitzeugen seine Version der Ereignisse (Tynjanov, Tomaševskij, Ėjchenbaum waren bereits in den vierziger und fünfziger Jahren verstorben) dokumentieren solle. 2

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Entsprechend der Version Jakobsons hebt Klausnitzer auch die Bedeutung der Phänomenologie Husserls für die Entwicklung des russischen Formalismus hervor und geht daneben auf Anton Martys Ideen ein. Meines Wissens war der Neukantianismus in Russland damals jedoch viel einflussreicher, nicht zuletzt durch die Vermittlung Andrej Belyjs, eines der kreativsten und verrücktesten Ideengeber der russischen Avantgarde. 3 Jakobsons ehrenwertes Ziel war es, im Westen für Verständnis für die Ideen des russischen Formalismus zu werben (und seine eigene Rolle festzuschreiben). Seine theoriegeschichtlich dubiose Strategie aber könnte gewesen sein, dieses Ziel mit dem Vergleich mit im Westen populären Strömungen zu erreichen, deren Kontakt mit den Formalisten aber durchaus in Frage steht. Es mag für ihn selbst nahe gelegen haben, in der Frage nach den Wurzeln des Formalismus Husserl ins Spiel zu bringen, mit dessen Werk er als Student an der Moskauer Universität bekannt geworden war. Für die Bekanntschaft der Petrograder Formalisten mit Husserl zu diesem Zeitpunkt spricht jedoch gar nichts. Wenn nicht wichtiger, so doch ebenso erwähnenswert waren für die Petrograder wie auch für den Moskauer Jakobson autochthone Traditionen, mit denen sie sich auseinandersetzten. Dazu zählen nicht zuletzt die von den russischen Formalisten teils geschmähten, teils belächelten Sprachforscher Jan Baudouin de Courtenay und Aleksandr Potebnja, deren Arbeiten zu Sprachfunktionen, zur Unterscheidung zwischen poetischer und praktischer Sprache und zur Poetizität die nächstliegenden Anknüpfungspunkte waren.

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Die diesen problematischen Details zum Trotz enorm kenntnisreiche Studie Klausnitzers, die zudem noch einige für die Theoriegeschichtsschreibung wertvolle methodologische Überlegungen enthält, gibt einen guten Überblick über das schwer zu überschauende Gebiet und macht zugleich deutlich, dass es sich lohnt, die in groben Zügen bekannte Geschichte des Strukturalismus in Detailuntersuchungen besser auszuleuchten.

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Beispiel Begriffsklärung

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Mit dem Untertitel »Über einige Schwierigkeiten strukturaler Verfahren im Spannungsfeld von Textanalyse und Interpretation« charakterisiert Carlos Spoerhase seinen Beitrag »Strukturalismus und Hermeneutik«, der den Band nach der dreiseitigen Einleitung der Herausgeber eröffnet. Spoerhase fokussiert seine Darstellung zunächst auf die französische Diskussion mit Positionen von Ricœur, Genette und Todorov, wobei er einleitend präzisiert, dass in den meisten Darstellungen unter dem zugrunde liegenden Hermeneutikbegriff nicht die allgemeine »Methodenlehre der Interpretation« zu verstehen sei, sondern ein einzelner »Interpretationansatz neben anderen« (S. 13 f.).

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Ricœurs Gegenüberstellung von Strukturalismus und Hermeneutik, so die These des Autors, finde sich auch in der systematischen Unterscheidung zwischen Analyse und Interpretation wieder, und zwar im Sinne des Unterschieds zwischen Analyse als »Identifikation und Deskription von Strukturen« und Interpretation als »Zuschreibung und Kontextualisierung von Bedeutungen« (S. 20). Der genaue Zusammenhang dieser zwei begrifflichen Gegenüberstellungen bleibt etwas unterbelichtet, denn Spoerhase merkt völlig zu Recht an, dass Analyse und Interpretation als »unidirektional« aufeinander aufbauend gedacht werden, während Strukturalismus und Hermeneutik eher als Alternativen galten. Stattdessen diskutiert Spoerhase im weiteren Verlauf ausschließlich das systematische Verhältnis von Analyse und Interpretation, indem er dieser die beiden Verfahren kontrastierenden Position (O. Jahraus, H.-H. Müller/T. Kindt) eine andere Position (M. Titzmann) gegenüberstellt, der gemäß die beiden Verfahren nicht zu trennen sind. Spoerhase stellt an die erste Position (Müller/Kindt), deren Analysebegriff durch das Kriterium interpretationstheoretischer Neutralität gekennzeichnet ist, zunächst die Frage, »ob nicht bereits die Datenselektion auf analytischer Ebene im Hinblick auf Semantisierungspotential dieser Daten auf interpretatorischer Ebene erfolgt« (S. 23). Mit anderen Worten: Ist nicht jede Analyseoperation schon durch »interpretative Rücksichten ›kontaminiert‹«(ebd.)? Ohne eindeutig dazu Stellung zu nehmen, fasst Spoerhase die zweite Position als mögliche Alternative zu der unliebsamen Konsequenz auf, die sich aus einer strengen Scheidung von Analyse und Interpretation ergibt: Die Analyse sei aufgrund der an sie gerichteten Neutralitätsanforderung ihres »zielführenden Charakters beraubt, weil schlechterdings alle Textdaten erfasst und nicht nur diejenigen Daten gesucht werden, die für das hermeneutische [= allgemein-interpretative] Forschungsinteresse […] relevant sind« (S. 24).

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Demgegenüber zeigt Spoerhase anhand von Titzmanns Position, wonach Analyse und Interpretation zusammenfallen, dass die Ergebnisse dieser Prozedur von poetologischen Rahmenannahmen abhängen, also nicht neutral sind (wobei die Neutralität nun nicht mehr interpretationstheoretisch, sondern objekttheoretisch bestimmt ist). Als eine solche poetologische Rahmenannahme rekonstruiert Spoerhase Titzmanns Überzeugung, dass divergierende Interpretationen (einer Textstelle) unbefriedigend seien, im Kontrast zu der entgegengesetzten Ansicht von R. Barthes in S/Z, wonach es gerade darauf ankomme, die »semantische Pluralität« von Bedeutungen festzustellen (S. 28). Titzmanns implizite »Präsumtion der vollständigen Semantizität« literarischer Texte (S. 30), also der Annahme, dass jedes Element eine ästhetische Funktion habe, die die Analyse entdecken müsse, führe im Verbund mit der Präsumtion der Widerspruchsfreiheit zu dem Problem, dass jede Analyse/Interpretation nur vorläufig sein könne, sofern sie zu dem Ergebnis divergierender Bedeutungen komme. Diese Konzeption charakterisiert Spoerhase als einen erkenntnisoptimistischen Ansatz. Aus der Perspektive einer alternativen Hermeneutik, »die unter den Bedingungen grundsätzlich unvollständigen und falliblen Wissens« funktioniert (S. 32), sei Titzmanns Ansatz »empirisch insensitiv, weil poetologisch rigide« (S. 33).

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Spoerhases Schlusspointe ist nun aber, dass die damit nachgewiesene mangelnde poetologische Neutralität »keine Adäquatheitsbedingung literaturwissenschaftlicher Interpretationskonzeptionen« (S. 37) sei und sich die Probleme von Titzmanns Position nicht diesem Mangel, sondern ihrer poetologischen Rigidität verdankten. (Mir stellt sich hier allerdings die Frage, wie die poetologische Rigidität mit dem zusammenhängt, was man »hermeneutische Rigidität« nennen könnte, worunter ich den von Spoerhase diagnostizierten Erkenntnisoptimismus verstehe.) Spoerhase schließt mit dem Hinweis, dass die poetologische Rigidität mit dem Postulat einer zu allgemeinen Vorstellung von Literarizität zu tun habe und durch eine gattungsspezifisch und historisch differenzierte Theorie (bzw. durch mehrere) vermieden werden könne.

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Diese Auseinandersetzung mit strukturalistischen Annahmen weist schon ganz zu Anfang des Bandes jenseits einzelner Fallstudien darauf hin, was die Literaturwissenschaft dem Strukturalismus außer vielen Anregungen zu verdanken hat: Die Möglichkeit, sich auf hohem Niveau mit literaturwissenschaftlichen Erkenntnisansprüchen auseinandersetzen. Wenn man denn will, könnte man dem wenigstens die Aufforderung entnehmen, dass man sich ebenso anspruchsvoll und gewissenhaft darüber Rechenschaft ablegen sollte, aus welchen Gründen man den Strukturalismus ablehnt, wie einige seiner Vertreter ihre Ansprüche formuliert und begründet haben, anstatt, wie es häufig geschieht, nur pauschal auf die Einseitigkeit des Strukturalismus hinzuweisen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. den Kommentar von Anton Čudakov et al. in: Jurij N. Tynjanov: Poėtika, istorija literatury, kino. Moskau 1977, sowie Jindřich Toman: The Magic of a Common Language. Jakobson, Mathesius, Trubetzkoy, and the Prague Linguistic Circle. Cambridge, Mass. 1995.   zurück
Vgl. Boris Ėjchenbaum / Viktor Žirmunskij: Perepiska. In: Tynjanovskij sbornik. Tret’i Tynjanovskie čtenija. Riga 1988, S. 256–329. Darin korrigiert Žirmunskij in einem Brief vom 6.9.1970 eine Gedächtnislücke Šklovskijs und fügt hinzu (in meiner Übersetzung): »Ich schreibe Dir darüber, weil Du jetzt der einzig übrig gebliebene Zeuge der ruhmreichen Geschichte des Opojaz bist. Roman Jakobson entstellt diese Geschichte bewusst […].« Es folgt das erwähnte Beispiel mit der Datierung der Anfänge.   zurück
Vgl. den von der literarischen Avantgarde breit rezipierten Sammelband mit Aufsätzen von Andrej Belyj: Simvolizm. Moskau 1910 [Nachdruck: München 1969]. Sprachmystik und Neukantianismus geben sich darin die Hand. Der Mathematikersohn Belyj veröffentlicht darin aber auch einen ausführlichen Beitrag mit einer statistischen Analyse von Verstexten.   zurück