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Auf der Suche nach dem verlorenen Wissen
der Literatur / Wissenschaft

  • Christian Kohlross: Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie (1800-2000). (Lettre) Bielefeld: transcript 2010. 230 S. Kartoniert. EUR (D) 28,80.
    ISBN: 978-3-8376-1272-1.
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In seiner jüngsten Veröffentlichung über Die poetische Erkundung der wirklichen Welt. Literarische Epistemologie (1800–2000) entfaltet der Germanist Christian Kohlross die Überzeugung, dass literarische Texte aufgrund ihrer spezifisch poetischen Form einen unabdingbaren Beitrag zum Erkennen der Wirklichkeit leisten, Literatur also ein genuin epistemologisches Projekt ist. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist zunächst einmal ein historischer. Um 1800, so Kohlross, sei es im Zuge der Aufklärung dazu gekommen, dass Wahrheit nicht mehr als geoffenbarte oder von Autoritäten gesetzte betrachtet wurde, sondern nunmehr das als wahr anerkannt wurde, was sich empirisch rechtfertigen ließ, also einer bestimmten Art der Darstellung genügte. In diesem Zusammenhang kam es Kohlross zu Folge erst zu einer grundlegenden Aufwertung der sprachlichen Form und dann zur Etablierung des Gedankens, dass auch und gerade die poetische Darstellung der Welt zu epistemischen Zwecken verwendet werden könne. Außerdem wurde die philosophische Erkenntnistheorie zunehmend als mangelhaft empfunden. Dieser Mangel wurde darin gesehen, dass die Philosophie, weil sie sich am platonisch geprägten Wissensbegriff als wahre, gerechtfertigte Überzeugung orientierte, nur propositionales Wissen, also nur »etwas Positives, in Aussagesätzen Behauptbares« (S. 15) als wahr anerkennen konnte, nicht aber etwas, das über diese Art von Positivität oder Faktizität hinausging. Aufgrund dieser Verschiebungen im Wissensgefüge entwickelte sich eine Art ästhetisches Konkurrenzunternehmen zur philosophischen Erkenntnistheorie, das davon ausging, dass Literatur als Medium des Wissens »eine besondere, nicht durch die Gesetze der klassischen Logik limitierte Weise des Schließens ermöglicht« (S. 29). Wie ein solches Schließen und entsprechendes Erschließen von Wirklichkeit zu denken ist, versucht Kohlross in seinem Buch aufzuzeigen, indem er mit Analysen zu den Vertretern einer literarischen Epistemologie um 1800 einsetzt, dann aber auch zu Ansätzen aus dem 19. und 20. Jahrhundert springt, die sich bei Mörike, Rilke, Brecht, Kafka u.a. finden lassen.

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Forschungskontext

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Mit seinem Vorhaben schließt Kohlross an vielfältige Bemühungen zahlreicher LiteraturwissenschaftlerInnen an, die in den vergangenen 10 bis 20 Jahren versucht haben, das Verhältnis von Literatur und Wissen neu zu bestimmen. 1 Obwohl Kohlross ab 2000 für einige Jahre Koordinator des an der Universität Mannheim angesiedelten Forschungsprojekts »Literatur, Medien, Wissen« war, er sich also mit der aktuellen Forschung sehr gut auskennen dürfte, leistet er in seinem Buch keine explizite Auseinandersetzung mit der Arbeit der KollegInnen. Inwiefern er von den entsprechenden Vorarbeiten möglicherweise profitiert hat, bleibt insofern ebenso unklar, wie die Verortung der eigenen Arbeit in der bestehenden Forschungslandschaft. Diese Leerstelle fällt umso mehr auf, als Kohlross durchaus den Eindruck vermittelt, dass er gegenüber bestehenden Ansätzen ein recht ausgeprägtes Ungenügen empfindet. So erklärt er an einer Stelle, dass die Dichtung ein spekulatives Denken, also ein von Anschauung und Erfahrung nicht zu trennendes Denken fordere, ein solches Denken aber von der Literaturwissenschaft nicht die entsprechende Aufmerksamkeit erfahre. Auf dem »Wege der Forschung« sei der Dichtung nicht beizukommen; so sehr auch, so Kohlross‘ recht pauschale Kritik, »die jetzt allerorten aus dem Boden sprießenden geisteswissenschaftlichen Großforschungsprogramme dies auch glauben machen wollen« (S. 16). Und an anderer Stelle verweist er darauf, dass literarisches Wissen sich erst im Prozess ästhetischer Erfahrung richtig erschließe, und kommentiert, dass eine solche Erfahrung »nicht in Handbüchern« stehe und auch »kaum je einmal in den gängigen Formen literarischer Lehre« (S. 19) zu finden sei. Angesichts dieser Feststellung der Defizite anderer, stellt sich die Frage, welche Art von Literaturwissenschaft Kohlross sich wünscht und welche er selbst praktiziert.

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Schaut man sich zur Beantwortung dieser Frage seine Publikation genauer an, fällt kein wesentlicher Unterschied zu anderen literaturwissenschaftlichen Arbeiten auf. Textlastig, bilderlos, klar gegliedert, einfallslos gelayoutet. Ein angesehener Wissenschaftsverlag, überschaubare Seitenzahl, schlank gehaltener Anmerkungsapparat. Ein ebenfalls überschaubares Literaturverzeichnis, sowie ein Quellennachweis. Letzterer allerdings macht ein wenig stutzig. Sind doch die Quellen, auf die hier verwiesen wird, Texte, die Kohlross selbst geschrieben und andernorts bereits publiziert hat. Nun ist es natürlich in der Literaturwissenschaft wie in anderen Geistes- oder Naturwissenschaften auch, durchaus üblich und auch nicht ehrenrührig, bereits publizierte Texte in überarbeiteter und gegebenenfalls neu akzentuierter oder neu kontextualiserter Form noch einmal herauszugeben. Doch fällt das unangenehm auf, wenn sich dadurch der Eindruck eines insgesamt allzu heterogenen Werks einstellt. Und genau diesen Eindruck ruft Die poetische Erkundung der wirklichen Welt hervor.

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Von den insgesamt 13 Kapiteln des Buches sind mehr als die Hälfte, nämlich acht bereits in anderen, und zwar recht unterschiedlichen Zusammenhängen publiziert worden, lediglich fünf, rechnet man die Einleitung hinzu: sechs Kapitel, wurden neu erarbeitet. Problematisch ist dabei nicht so sehr der Sachverhalt als solcher, sondern der Umstand, dass es teilweise sowohl bei den alten, aber erstaunlicher Weise fast mehr noch bei den neu erstellten Teilen schwer fällt, den Zusammenhang mit der übergeordneten Frage nach der epistemischen Leistung von Literatur herzustellen. Zu dominant scheinen hier jeweils Fragen durch, die offensichtlich einmal am Anfang der Beschäftigung mit der jeweiligen Thematik gestanden haben.

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Programm

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Am deutlichsten formuliert findet sich Kohlross‘ Anliegen in seiner Einleitung »Über das Programm einer literarischen Epistemologie«. Hier gibt Kohlross ähnlich wie vor einigen Jahren bereits Heinz Schlaffer 2 zu bedenken, dass es mit der Etablierung der Philologie als Einzelwissenschaft am Anfang des 19. Jahrhundert zu einer Art »Sündenfall« (S. 10) gekommen sei, insofern nun das Wissen über die Literatur das Wissen der Literatur überlagert habe. Hinzu komme, dass sich die Philologie im Zuge der Ausdifferenzierung der Disziplinen »der Allianz mit der Philosophie verweigert« habe und nicht mehr wie diese »das So-Sein der Dinge zu erkennen« versuche, sondern sich darauf zurückziehe, »sich mit den Darstellungen dieser Dinge, mit ihrer sprachlichen Erscheinungsform in der wirklichen Welt, statt mit dieser wirklichen Welt selbst auseinander zu setzen« (S. 10).

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Diese Selbstbeschränkung der Philologie stellt Kohlross vor allem deshalb mit Bedauern fest, da es, wie oben skizziert, zum Ende des 18. Jahrhunderts zahlreiche Bemühungen gegeben hatte, gerade über das Nachdenken der literarischen Form einen Zugang zur wirklichen Welt zu erarbeiten. Geleistet wurde diese Arbeit vornehmlich von den Vertretern einer literarischen Epistemologie, als deren Gründungsväter Kohlross Schiller, Kleist und Novalis anführt. Sie zeichnet aus, dass sie sich nicht theoretischer, sondern poetischer Verfahren bedienten, um literarische Erkenntnisansprüche zu legitimieren, also eine Art »Erkenntnispoesie« (S. 11) betrieben.

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Diesem Projekt einer Erkenntnispoesie fühlt sich Kohlross‘ Arbeit nicht nur in historischer, sondern auch in theoretisch-systematischer Perspektive verpflichtet. Er will die Leistung der literarischen Epistemologen also nicht nur aufarbeiten, sondern daraus Ansätze einer eigenen Literaturtheorie entwickeln. Ja es scheint so, als ob er die gegenwärtige Literaturwissenschaft selbst auf das Programm einer literarischen Erkenntnistheorie verpflichten wolle. In einem Interview, das sich auf der Homepage des transcript-Verlags findet, beantwortet er die Frage, welche Bedeutung dem Thema seines Buches in der aktuellen Forschungsdebatte zukomme, wie folgt: »Vielleicht die, dazu beizutragen, aus der historischen Wissenschaft der Philologie auch eine theoretische Disziplin zu machen. Eine, die anderen theoretischen Disziplinen wie der Physik oder der Philosophie ebenbürtig ist. Das ist sie nur, wenn sie ihren eigenen Begriff des Wissens nicht nur (wie bislang zumeist und zuvörderst) historisch, sondern darüber hinaus auch theoretisch bestimmt. (Wobei Theorie nicht das Andere, sondern eine sehr konkrete Form der Erfahrung ist.)«. 3

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Grundlagen einer solchen Theorie hat Kohlross bereits 2007 in seiner Habilitationsschrift Literaturtheorie und Pragmatismus oder Die Frage nach den Gründen des philologischen Wissens 4 vorgelegt. Hatte er hier jedoch vornehmlich die Bedingungen literaturwissenschaftlichen Wissens über Literatur untersucht, so will er jetzt die theoretische Bestimmung eines literarischen Wissensbegriffs leisten. Beiden Projekten liegt die Überzeugung zu Grunde, dass der Mensch ein repräsentationsbedürftiges Wesen ist, er also repräsentieren muss, um einen Zugang zu der ihm ansonsten immer entzogenen Welt und Wirklichkeit zu bekommen. Dass Kohlross die Entfaltung dieser Überzeugung als Grundlage seiner pragmatistisch genannten Literaturtheorie in seiner Arbeit zur poetischen Erkundung der wirklichen Welt nicht noch einmal nachvollzieht, sondern sich auf eine sehr zusammengezogene Kurzfassung beschränkt, macht seine einleitenden Überlegungen recht schwer nachvollziehbar. Als Grundidee lässt sich jedoch, ähnlich wie Joseph Vogl es bereits mit seinen Entwürfen zu einer Poetologie des Wissens versucht hat, 5 heraus präparieren, dass die Form als Darstellung der Wahrheit dieser nicht äußerlich ist und insofern auch der Stoff des Erkennens nicht, wie Hegel meint, »eine fertige Welt außerhalb des Denkens an und sich vorhanden« (Hegel, zit.n. Kohlross, S. 15). Ausgehend von dieser Prämisse der Wahrheitsfähigkeit von Form bestimmt Kohlross, wie genau diese Art von literarischer Wahrheit zu fassen sei. Er geht dabei auf die platonische Definition von Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung ein, deutet sie aber in literaturwissenschaftlicher Perspektive so aus, dass wir a) als Leser bereit sind, den gelesenen Text für wahr zu halten, wir also b) »an die Zuverlässigkeit des Rechtfertigungsverfahrens« glauben (S. 21) und deshalb c) in der Lektüre der von einem Autor vorgenommenen »Festlegung auf eine bestimmte Formung der Wirklichkeit« (S. 23) folgen, ihr also Berechtigung zusprechen. Und zwar die Berechtigung, »die Welt einmal so zu sehen, wie sie dort gesehen wird« und es »für einen Gewinn halten sie so zu sehen« (S. 24). Literarische Epistemologie ist so verstanden eine nicht-empirische Epistemologie, »deren Gegenstand die Formen der Weltdarstellung sind« (S. 27).

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Literarische Epistemologie als europäisches Projekt

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Im ersten Kapitel der Arbeit seiner Arbeit skizziert Kohlross dann das, was er als »Vorgeschichte« der literarischen Epistemologie als europäisches Projekt bezeichnet. Diese Vorgeschichte impliziert ein bestimmtes europäisches Selbst- und Weltverständnis, ohne das man nicht auf den Gedanken gekommen wäre, Literatur »als ein Instrument zur Gewinnung von Erkenntnissen einzusetzen« (S. 31). Europa, so Kohlross‘ Argument, sei nämlich kein »politischer Begriff«, sondern eine bestimmte, nämlich selbstreflexive Art und Weise, »sich auf dem Wege des Erzählens in der Welt zu verorten« (S. 31). Konstitutiv für die Art der Selbsterzählung sei die von Jan Assmann sogenannte ›mosaische Unterscheidung‹, d.h. die Bestimmung der eigenen Religion als wahr, und die der anderen als unwahr. Während diese Überzeugung sich jahrhundertelang auf die Annahme gestützt habe, dass die Texte, auf die sich der mosaische Glaube gründet, als geoffenbarte Wahrheit anzusehen sind, sei es im Zuge der Aufklärung zu einer Abwertung dieser Art von Autoritätsglaube und zur Aufwertung empirisch abgesicherter Erkenntnis gekommen. Da eine solche Erkenntnis aber nie losgelöst von der Formfrage präsentiert werden konnte, erhielt eben diese Form- bzw. Repräsentationsfrage verstärkte Aufmerksamkeit. Daraus schlussfolgert Kohlross in einer etwas sprunghaft anmutenden Argumentation:

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Das Kriterium, dessen sich die Europäer nun in ihren Erzählungen bedienten, um sich von den orientalischen Erzählungen […] zu unterscheiden, ist die erzählerische Reflexion auf den Umstand, dass die Welt ihren Bewohnern stets nur auf dem Wege der Repräsentation, mittelbar also zugänglich ist, dass Welt und Wirklichkeit etwas sind, das nicht unmittelbar gegeben ist, sondern erst erschlossen werden muss. (S. 37)
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Dieser Akt des Erschließens hat Kohlross zu Folge die literarische Epistemologie auf den Plan gerufen, die als solche europäisches Selbstverständnis als Prozess sinnhafter, d.h. hier Identität stiftender Selbsterzählung konstituiere.

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Literatur als Medium der Erkenntnis

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Im zweiten Kapitel der Arbeit untersucht Kohlross die für sein Anliegen zentrale Frage, ob Literatur ein Medium der Erkenntnis sei. Diskutiert, und letztlich positiv beantwortet, wird diese Frage mit Blick auf Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden und den Monolog des Novalis.

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Ausgehend von den ersten Sätzen von Kleists Text über das Entstehen der Gedanken beim Reden skizziert Kohlross eine »Poetologische Epistemologie« (S. 45). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass hier Wissen als etwas gedacht wird, das »zusammen mit seinem sprachlichen Ausdruck« (S. 46) entstehe, und nicht, wie etwa bei Descartes über den Bezug zu vorsprachlich gegebenen Gegenständen, also über etwas, das Kohlross, die »Tyrannei des Objektiven« (S. 47) nennt. Statt dass das Denken sich nach dem richten müsse, was unabhängig von ihm existierte, soll es also als abhängig von seiner sprachlichen Gestalt, und darüber hinaus auch noch als abhängig »vom Zustand des Subjekts« (S. 48) verstanden werden. Und zwar insofern, als das Subjekt sich im Zustand des Überzeugtseins befinde. Gründe für diese Überzeugung werden jedoch nur erzählerisch vermittelt, taugen also möglicherweise »außerhalb des fiktionalen Erzählens überhaupt nicht als Gründe« (50). »Wahrheitsfähig«, so Kohlross hier mit Verweis auf Novalis, sei insofern nur »die Subjektivität der Sprache, ihre Darstellungsseite« (S. 50), nicht aber die Gegenstände oder Sachverhalte, die die Sprache beschreibe.

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Paradiesisches Wissen?

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Fortgeführt wird die Auseinandersetzung mit Kleist im dritten Kapitel der Arbeit. Es trägt die Überschrift »Wissen aus Unmittelbarkeit, Wissen aus Vermittlung – und Medialität bei Herder, Schiller und Kleist« und untersucht, welche Rolle »das Unmittelbare in epistemischer Hinsicht für die Literatur und ihre Wissenschaft« (S. 60) spielt. Als ,das Unmittelbare‘ bestimmt Kohlross zunächst einmal ein Sein, das mit Notwendigkeit gedacht werden kann und muss, etwas also, bei dem Denken und Sein nicht getrennt sind – entweder philosophisch in Form des cartesianischen cogito oder als empiristisches Sinnesdatum, oder theologisch als unbezweifelbare Gegenwart Gottes. Doch wie, so möchte Kohlross wissen, sieht »das literarisch Unmittelbare« (S. 60) aus?

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Eine Antwort auf diese Frage möchte der Autor über den Umweg einer kurzen Auseinandersetzung mit Philosophen wie John Mc Dowell oder Robert Brandom erarbeiten, die darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich Wissen »in einer diskursiven Praxis des Nehmens und Gebens von Gründen« vollziehe, und nicht als geoffenbarte Wahrheit, nicht als Aletheia also. Daraus leitet Kohlross die Erkenntnis ab, »dass die Zuschreibung eines Wissens kein repräsentierender oder beschreibender, sondern ein performativer sprachlicher Akt ist« (S. 61). Welchen Stellenwert diese Erkenntnis für Kohlross‘ Argumentation hat, bleibt jedoch an dieser Stelle unklar. Übergangslos schließt er Überlegungen zum ›paradiesischen‹ Wissen an, wie wir es von Adam und Eva vor dem Sündenfall kennen: »ein unmittelbares, ein vorprädikatives Wissen […], das eine ganz und gar nicht-propositionale Struktur hat« (S. 61). Von einem solchen unmittelbaren Wissen wolle, so Kohlross weiter, die Moderne und die Postmoderne nichts mehr wissen.

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Die Vertreter der literarischen Epistemologie hingegen hätten Einspruch erhoben »gegen einen allgemeinen Skeptizismus bezüglich der epistemischen Kraft von Darstellungen im Namen einer Sprache, die sowohl Mittelbarkeit als auch Unmittelbarkeit einschließt.« (S. 63) Kohlross erklärt nun, dass die Frage nach der »Gestalt des literarisch Unmittelbaren« von diesen Autoren also beantwortet worden sei, fügt allerdings wenige Zeilen später hinzu, dass die Frage, was es heiße, dass Sprache selbst ein sowohl Unmittelbares als auch Mittelbares sein solle, eine nach wie vor offene Frage bleibe. Statt sich jedoch weiter um eine Antwort zu bemühen, wendet sich der Autor nun der Frage nach der epistemischen Rolle des Unmittelbaren zu.

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Wieder verweist er dabei auf Kleist und hebt hervor, dass dieser nicht für eine Regression zur vermeintlich reinen Unmittelbarkeit» (S. 64) plädiere, sondern für ein poetisch erzeugtes unmittelbares Wissen, d.h. für ein Wissen, das sich aus »einer irreduzibel subjektiven, von ästhetischen Darstellungen geleiteten Erfahrungsseite« (S. 65) her speist. Unterstützung holt Kohlross sich ferner durch Schiller, der in einem Brief an Fichte diesen scharf darauf hingewiesen hatte, dass reine Ergebnisse des Denkens nur temporäre Gültigkeit haben, wohingegen Schriften, »in denen sich ein Individuum lebend abdrückt« von ewiger Wichtigkeit sind, »eben weil jedes Individuum einzig und mithin auch unersetzlich ist« (Schiller, zit.n. Kohlross, 65). Nicht bestimmte propositional gegebene Gehalte sind also wertvoll, sondern vielmehr, so Kohlross mit Schiller, »die mit diesen Gehalten verbundenen Darstellungs-, Denk-, und Sichtweisen« (S. 66). Kohlross ›triumphiert‹:»Sollte also zur Zuschreibung eines Wissens erforderlich sein, dass Perspektiven und Darstellungsweisen sich in der Abfolge der Generationen bewähren, so steht die Poesie anderen Verfahren der Wissenserzeugung offenbar in nichts nach« (S. 66).

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Obwohl Kohlross in seinen einleitenden Bemerkungen zum Inhalt seines Buches vermerkt, dass das vierte Kapitel seiner Arbeit –»Schillers Räuber oder die Neuerfindung der Subjektivität im Jahre 1782« – darstelle, wie Subjektivität im Schillerschen Sinne als Möglichkeit zu betrachten sei, »mittelbar erworbenes und unmittelbares Wissen zu vereinen«, (28) löst Kohlross dieses Versprechen nicht ein. Zwar erfährt der Leser, dass das Selbstgefühl für Schiller konstitutives Element von Subjektivität ist, und dass Literatur hier eingesetzt wird, um der philosophischen Überzeugung »vom Denken als dem eigentlichen Medium der Subjektivität (S. 75) etwas entgegenzusetzen, doch bleibt unklar, was genau damit für das Konzept einer literarischen Epistemologie mehr gewonnen ist als die Erkenntnis, dass ein Subjekt „als Erkennendes immer subjektiv bleibt« (S. 82).

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Diese Frage stellt sich auch mit Blick auf alle folgenden Kapitel des Buches. Einige, wie z.B. das über »Krankheit und Wissen«, das im Rahmen des von Kohlross selbst herausgegebenen Bandes Epoche / Krankheiten 6 erarbeitet wurde, kommen der Fragestellung des Buches dabei recht nahe und sind sehr lesenswert, andere, wie z.B. das Kapitel zu »Bertolt Brechts Gedicht Tannen – eine lyrische Theorie der Metapher« oder das zum »deutsch-jüdische[n] Theater George Taboris« rücken deutlich andere Aspekte in den Vordergrund.

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Obwohl Kohlross in seiner Arbeit immer wieder behauptet, dass Erkenntnis letztlich nur unter der Bedingung des Metaphorischen möglich sei und die Literatur dem, »was am Menschen unbestimmt und unbestimmbar ist, in besonderer Weise gerecht« (S. 176) werde, gelingt es ihm weder über die Einzeltextanalysen noch über systematische Überlegungen, den Nachweis für diese Behauptung zu erbringen.

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Fazit

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Zusammenfassend lassen sich insofern folgende Punkte einer kritischen Würdigung hervorheben: Kohlross Arbeit steckt voller interessanter und anregender Einzelüberlegungen. Er stellt philosophisch-theologisch akzentuierte Fragen, die in der Literaturwissenschaft selten gestellt werden. Dem Text ist anzumerken, dass sich hier jemand intensiv gedanklich und emotional, also subjektiv, mit Texten auseinandergesetzt hat, über die der Autor hofft, das Spezifische literarischer Erkenntnis herausarbeiten zu können. Genau das gelingt ihm aber leider nur bedingt. Der Grund dafür liegt in der zu großen Heterogenität der einzelnen Kapitel. Obwohl Kohlross in seinem einleitenden Überblick über das, was die einzelnen Kapitel auszeichnet, versucht hat, einen roten Faden zu spinnen, der die einzelnen Teile aneinanderbindet, erschließt sich der Aufbau des Buches, bzw. die Anordnung der Kapitel nicht. Als einziges Ordnungskriterium lässt sich eine ungefähre Chronologie der Entstehungszeit der Primärtexte benennen. So beginnt Kohlross mit Untersuchungen zu Autoren, die um 1800 gearbeitet haben (Kleist, Herder, Schiller, Novalis), geht weiter zu Autoren des 19. Jahrhunderts (Büchner, Mörike, Rilke), beschäftigt sich mit Vertretern der Moderne (Brecht, Benn, Borges) und schließt mit einer Untersuchung zur Gegenwartsliteratur (Tabori). Darüber hinaus aber bleibt völlig unklar, warum welche Untersuchung an welcher Stelle steht. Auch fehlt zwischen den einzelnen Kapiteln jeglicher überleitender Gedanke, der Leserin und Leser eine Orientierung ermöglichen würde. Jedes Kapitel schließt mit offen gebliebenen Fragen und jedes setzt mit Fragen ein – doch handelt es sich nicht um die gleichen, sondern um immer neue Fragen. Die zentrale Frage nach der besonderen epistemischen Leistung von Literatur bleibt deshalb offen.

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Hinzu kommt, dass die Analysen zu den einzelnen literarischen oder poetologischen Texten sehr knapp ausfallen und keine wirklich neue Perspektive auf Text und Autor erschließen. Zu sehr ist Kohlross damit beschäftigt, eine Fülle von Fragen grundsätzlich literaturtheoretischer Art zu kommunizieren, als dass er Zeit finden würde, sich der Vielschichtigkeit des Einzeltextes zu widmen. Rund 15 Autoren (von Autorinnen hören wir leider gar nichts!) auf rund 200 Seiten abzuhandeln, erweist sich insofern als keine besonders zielführende Herangehensweise, um herauszuarbeiten, was ›Erkenntnispoesie‹ sein könnte.

 
 

Anmerkungen

Einen detaillierten und sachkundigen Forschungsüberblick liefert Nicolas Pethes: »Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht«. In: IASL 28 (2003: 1), 181–231.   zurück
Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen – Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.   zurück
Christian Kohlross: Literaturtheorie und Pragmatismus oder Die Frage nach den Gründen des philologischen Wissens. Tübingen: Niemeyer 2007.    zurück
Vgl. hierzu u.a. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Berlin: diaphanes 2004.   zurück
Vgl. Christian Kohlross u. Frank Degler (Hg.): Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie (Das Wissen der Literatur Bd. 1). St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2006.   zurück