IASLonline

Begriffsgeschichte in kulturpoetischer Absicht

Zu Erich Kleinschmidts Die Entdeckung der Intensität

  • Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2004. 160 S. Broschiert. EUR (D) 19,00.
    ISBN: 978-3-89244-811-2.
[1] 

Erich Kleinschmidts anspruchsvolles Projekt, Intensität als vernachlässigte kulturpoetische Denkfigur des 18. Jahrhunderts einem gegenwärtigen wissenschaftstheoretischen Interesse zuzuführen, hat in der germanistischen Forschung bezeichnenderweise kaum Resonanz gefunden. Das Desinteresse wird man nicht auf die den Leser fordernde Darstellung Kleinschmidts zurückführen können. Man wird auch nicht argumentieren können, die Projektion gleitender Phänomenverläufe, wie sie die Mathematik des 18. Jahrhunderts entwickelte, habe nichts mit der Literatur zu tun (vgl. S. 13). Kleinschmidts Arbeit liefert fast zu viele Beispiele für die interdependente Relation dieser zwei Zeichensysteme.

[2] 

Dass dieses Buch unbemerkt blieb, verwundert nicht, weist doch Kleinschmidt selbst bereits in seinem ersten Absatz darauf hin, dass unsere Orientierungskompetenz auf Urteil und Gliederung beruht, mithin auf der Möglichkeit klarer Alternativen, die sich in der Beschreibung eines gleitenden Kontinuums gerade nicht einstellen. Nicht zuletzt, weil solche Unschärfen den didaktischen Ambitionen der Schule zuwider waren und sind, kam es zum Vergessen der Intensität im kulturellen Gedächtnis – wohl auch ein Grund, warum Kleinschmidts aufmerksame Arbeit selbst keine Aufmerksamkeit erhalten hat. Dabei war die Untersuchung der besonderen Qualität von Intensitätserfahrungen als verworrene Erkenntnis eine Leitfrage vor allem der deutschen Aufklärung: Wie können Kraft, Wärme, Licht physikalisch-mathematisch gemessen werden? Gilt diese Messbarkeit auch für emotionale Empfindungen? In den Antworten auf diese Frage kommt es zu einem wissens- und denkgeschichtlichen Umbruch vor und um 1800.

[3] 

Erich Kleinschmidt protokolliert nicht die historischen Antworten, er schreibt keine rein deskriptive Begriffgeschichte, sondern führt in ein fragendes Denken jenseits binärer Entscheidungsstrukturen ein. Eine sensible, sonst selten zu lesende Sprache ermöglicht Leserinnen die Einsicht, dass sehr viele kontradiktorisch scheinende Widersprüche in Kontinua auflösbar sind. Kleinschmidts Buch hat viele bemerkenswerte Thesen, die folgende wissenschaftsgeschichtliche scheint unverzichtbar zu sein: Die Reflexion experimenteller Messsituationen »gewinnt ein strukturell anregendes Potential für die kulturologische Verallgemeinerung« (S. 36).

[4] 

Struktur der Studie

[5] 

In sieben Kapiteln rekonstruiert Kleinschmidt die Begriffgenese der Intensität. Nicht nur auf den Kontext von Herders Älteste Urkunde bezogen, scheint die siebenstufige Anordnung nicht zufällig zu sein; es versteht sich von selbst, dass Kleinschmidt hierdurch keine naive Tradition der Zahlenesoterik fortschreibt, sondern ein Höchstmaß an argumentativer Kohärenz in einem komplexen Begriffsfeld erzielt: Dem sprachlich wie gedanklich klar vorgelegten »Prospekt« (S. 7–13) entspricht die Engführung am Ende des Buches (S. 141–145). Selbstexplikativ steht im Zentrum, gleichsam als erste Engführung vor der Engführung Kapitel 4, »Intensive Empfindungsräume«, das die vorausgegangene Differenz von Kapitel 2, »Begriffsgeschichte im funktionalen Kontext« (S. 15–53) und Kapitel 3, »Aufklärerische Theorieräume der Intensität« (S. 55–71) unter neuem Aspekt reflektiert, zusammenführt, um daraus wiederum eine neue Differenz zu generieren, die bereits schon erwähnte, grundlegende These vom strukturell anregenden Potenzial für kulturologische Fragestellungen: Kapitel 5, »Kulturpoetologische Topologien« (S. 99–115) werden durch den literarischen Textraum widergespiegelt, den Kapitel 6, »Sprache und Ordnungen der Intensität«, S. 117–140, untersucht. Man würde jedoch der Komplexität von Kleinschmidts Darstellung nicht gerecht, wenn man sie auf die Herdersche Spiegelstruktur reduzierte. Bereits der Ausdruck ›Engführung‹ verweist auf andere mediale Kontexte, die gleichermaßen von Ordnungsdenken in einem gleitenden Kontinuum bestimmt sind. Die nicht zu unterschätzende Einübung in ein Denken in Kontinua ist daher nicht nur Inhalt der Darstellung Kleinschmidts, sondern deren Form selbst: Interessant und stark sind jene Textpassagen in Kleinschmidts Buch, in denen die gleitende Modellierung, nicht zuletzt an den Kapitelübergängen beobachtbar, zu ihrer eigenen Darstellung wird: Am Anfang steht die verworrene Geschichte des Intensitätsbegriffes als selbst verworrene Vorstellung, am Ende steht die lebendige Erkenntnis um den Prozess des Denkens, der wohl Systeme und Ordnungen des Wissens generiert, aber nicht durch diese selbst gefasst und fixiert werden kann.

[6] 

Die Quellen, an denen sich Kleinschmidts Studie bewährt, sind so zahlreich, dass ihre Bewertung schwer fällt. Die besondere Qualität dieser Arbeit liegt vor allem in der Quellenerschließung. Allerdings treten drei bekannte Autoren neu wahrgenommen hervor: Auf die Darstellung der Differenz zwischen Herder und Kant in dem sich ankündigenden Übergang zu Novalis geht Kleinschmidt neben der immer wiederkehrenden Erinnerung an Lamberts Schriften sorgfältig ein, um die epistemologische Perspektive innerhalb seines sehr ökonomisch geschriebenen Textes zu gewinnen und die Bedeutung zentraler Begriffe wie ›Empfindung‹, ›Kraft‹ und ›Gradation‹ in ihrer Geschichte zu klären.

[7] 

Intensität als Schreibprinzip

[8] 

In vielerlei Hinsicht verfährt Kleinschmidt selbst bemerkenswert intensiv. So gelingt es ihm in seinem »Prospekt« in nur einem Absatz (S. 12 f.) das gesamte Unternehmen so zu erläutern, dass auch eine Rezension nicht kürzer und präziser verfahren könnte. Lesen lässt sich das Buch vor allem in seinem letzten, kurzen Kapitel (S. 141–147) auch als eine Kritik der gängigen Epochenbegriffe von Aufklärung und Romantik in der deutschen Literaturgeschichte. Indem Kleinschmidt gegen bequeme Begriffe streitet, verfällt er indes nicht in den Fehler aktualisierender Arbeiten; Objekt- und Metasprache bleiben getrennt, und dennoch lässt sich von mehr als einer bloßen Relektüre bereits bekannter Texte sprechen: die »intellektuelle Umbruchszene zwischen Aufklärung und Romantik« verdankt »wesentliche, bisher übersehene Impulse einem Denken von Intensität« (S. 12), das vor allem seit Herders Metakritik gewonnene Erklärungspotenzial im »kulturellen Deutungsraum« (S. 11): »Fortan können kulturelle Erscheinungen und Prozesse als Wahrnehmungsschwellen überschreitende Effekte von zuvor unzugänglichen Wirkungseinflüssen verstanden werden.« (S. 11) Das aber heißt auf Kleinschmidts Text zurückbezogen auch, dass seine neue Perspektive auf Goethe, Hölderlin und Novalis (Kapitel 6, S. 117–140) ebenso erst als Effekt der Vorgeschichte eines komplexen Begriffes lesbar wird.

[9] 

Zu dieser Vorgeschichte gehört, dass das »18. Jahrhundert mit seiner intellektuell überschießenden Kraft, neue Begriffspotentiale zu beobachten und einzuführen [...] trotz seiner grundsätzlichen Bevorzugung einer dezisionistischen Urteilsbildung auf die gradualisierte Denkfigur der Intensität als Möglichkeit nicht verzichten« kann (S. 8).

[10] 

Kleinschmidt reflektiert genau die wissenschaftsgeschichtlich relevanten Stationen des Intensitätsbegriffes durch die Erfindung der Differenzialrechnung, stellt damit aber auch einerseits radikale Trennung von exakten und so genannten schönen Wissenschaften implizit in Frage wie er andererseits auf die Nicht-Exaktheit des Exakten, das Faszinosum der Messbarkeit des Unmessbaren und die produktive Nutzung dieses Missverständnisses verweist:

[11] 
Intensität erfüllte als ein gleitender, energetisch aufgeladener Leitbegriff in idealer Weise das Bedürfnis, Formen der Wahrnehmung und Empfindung von mobil aktivierbaren Gegenstandsbereichen sowie auch deren sich wandelnde Verfasstheit ›exakt‹ zu umschreiben. Dass Intensität solche definitorische Genauigkeit zwar suggerierte, aber dennoch ihren gleitenden Modus immer nur als einen diffusen Vorgang zu modellieren vermochte, störte bei der Nutzung des neuen Begriffs wenig. Seine Stellung zwischen markierender Präzisierung über die Erzeugung von Regelabständen und unscharfer Totalisierung, ermöglichte geradezu im Gegenteil einen offenen Gebrauch, ohne dass man auf Bedeutungsstandards (Bedeutungen) verzichten musste. Bis dahin nur schwer erfassbare Beschreibungsfelder kulturellen Handelns ließen (und lassen sich bis heute) über den Intensitätsbegriff modellieren. (S. 9 f.)
[12] 

Aus dieser Reflexion gewinnt Kleinschmidt dann später eine kaum vorhersehbare Pointe im Kontext Wilhelm Humboldts, dessen prekäre klassizistische Position gleichwohl unrealisierte Intensitätszonen des Textes denkbar macht, »die beide Modulierungsbewegungen von Autor und Leser vereinigt und möglichst stillstellt. [...] Entscheidend ist, dass überhaupt ein ›Raum der Empfindungen‹ entsteht« (S. 91). Damit wird ein gutes Beispiel für ein Beschreibungsfeld kulturellen Handelns angegeben: Das alte Intensitätskonzept wird gerade für das heutige Problem einer objektiven, kognitiven Hermeneutik (Tepe) neu lesbar als Versuch, textuelle Darstellungsintention als Bedingung produktiver und rezeptiver Intensitätsmöglichkeiten zu begreifen. Intensität operationalisiert Intention.

[13] 

Begriffsgeschichte im
funktionalen Kontext

[14] 

Kleinschmidt beginnt seine Einführung des Begriffs und seiner Geschichte mit Christian Wolff (1679–1754), der den nominalen Neologismus ›intensitas‹ bildete. Die Untersuchung der Bedeutungsvielfalt in einer Begriffsgeschichte, die auch wesentlich Wortgeschichte ist, dient als heuristisches Instrument, das auf sich selbst anwendbar bleibt: Intensität wird in ihrer jeweiligen Bedeutungsgraden diachron beschreibbar.

[15] 

Kleinschmidts Begriffsgeschichte achtet sehr sorgfältig auf die sprachlich konkreten Unterschiede zwischen Adverbialformen (intensive), Nomina und Nominalbildungen (das Intensive), verbalsubstantivischen Neologismen wie Goethes ›Intensieren‹ in der Farbenlehre im Unterschied zu heutigen verbalen und nominalabgeleiteten Formen wie ›intensivieren‹ und ›Intensivierung‹. Die Begriffsgeschichte von Intensität verweist auf agile Wortformen zurück, in deren Vielfalt gleichwohl die Nominalisierung als Begriffbildung notwendig wird:

[16] 
Textsemantisch ließ sich die Stufung schon immer mit Hilfe von Adverbien (wenig, viel, sehr, besonders, vorzüglich usw.) und Adjektiven (schwach, groß, herrlich, lebhaft usw.) oder über Komparation (stärker, kleiner usw.) beziehungsweise superlativische Angaben (am besten, heftigst, weitestgehend usw.) lösen, was fehlte, war aber die übergeordnete Denkfigur, der Begriff einer Gradualisierung, der es erlaubt, die Fülle diskontinuierlicher Repräsentationen einer taxinomisch einheitlichen Kontinuität (wie Kraft, Licht, Empfindung) einzuschreiben (S. 23 f.).
[17] 

Kleinschmidts genauer Rückgang auch auf die nationalsprachlichen Unterschiede bestimmt interessante Vorformen der Intensität. Interessant ist etwa, wie die alte rhetorische Form der gradatio die philosophische Theorie von der stufenweisen Verfasstheit in Popes An Essay on Man strukturiert (S. 25), dann aber auch in Lessings und Mendelssohns Kommentar zu Pope als kulturtheoretische Denkform genutzt wird (S. 26). Der Rückblick auf die Rhetorik und auf Popes Theorie freilich könnte die Leser stutzig machen: Wenn Kleinschmidt mit Lessing und Mendelssohn auf den rhetorischen Grund der Metaphysik deutet, dann ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass er selbst listig verfahren könnte; listig nicht in dem Sinne, dass er dem Leser eine Falle stellt oder diesen ins Leere laufen ließe, sondern indem er ein altes Strategem europäischer Kultur neu variierte: Eine durch gradatio erzeugte Ordnung kann gerade aufgrund ihrer eigenen gleitenden Metaphorik immer auch zum Forschungsimpuls für ungesicherte Kulturtheorie werden.

[18] 

In dieser metaleptischen Argumentationsstruktur – von der Systematisierung unterschiedlicher Wortarten der Intensität zu ihrem Begriff (zum Beispiel bei Wolff), der jedoch in der Folge in geradezu inflationärer Weise Worte als Intensitäten produziert (zum Beispiel bei Goethe und Nietzsche) – durchstreicht sich das zweite begriffsgeschichtliche Kapitel Kleinschmidts mit Lambert als dem exakt zu benennenden historischen Übergang:

[19] 

Denn Lambert berücksichtigt bei der Einführung neuer, transdisziplinärer Grundbegriffe, dass »wenn auch ein Wort eine bestimmte und eigene Bedeutung hat, man dennoch das Wort nach und nach, und auf mehrere Arten zur Metapher macht« (S. 33). Eben dies lässt sich dann auf sein eigenes Unternehmen anwenden: »Was die Metaphorisierung [der Intensität] an erkenntnistheoretischer Problematik mit sich bringt, beinhaltet aber ihre kulturpoetische Funktion.« (S. 33) Das gilt auch in zeitlicher Umkehrung, denn vor Lamberts erkenntnis- und sprachkritischer Klärung der Worte muss der kulturelle Impuls berücksichtigt werden, der zu ihrer Entstehung erst führte, bevor Lamberts philosophische Reflexion und Begriffbildung einen neuen Impuls erzeugt.

[20] 

Ein Beispiel für eine solche Interdependenz zwischen kulturpoetischen, poetologischen Imaginationen und wissenschaftlichen Bearbeitungen, die die Zeitlichkeit linear verstandener Kausalität aufheben, belegt das Wort ›Ton‹ im Sinne von tonus, An(-Spannung), dessen Geschichte sich zwar chronologisch fassen lässt. Jedoch zeigt bereits ein nur oberflächlicher Blick auf diese Geschichte, dass zwischen den Kontexten der griechischen und romantischen Musik ›Ton‹ nicht nur eine rein musikgeschichtliche Differenz besteht. Kant, die Physik und die romantische Wissenschaftstheorie definieren erst den präzisen Sinn, den ›Ton‹ bei Friedrich Schlegel, Hölderlin und anderen dann gewinnt, wobei der ›ursprüngliche‹ griechische Wortsinn gerade nicht ausgelöscht wird, sondern eine neue Funktion gewinnt, die neue Rückblicke ermöglicht (S. 30).

[21] 

Kulturpoetologische Topologien

[22] 

Kleinschmidts implizite Kritik an Teilen germanistischer Forschung überzeugt, weil sie sich nicht als solche formuliert: Wer Intensität als eine Kultur modellierende Topologie um 1800 untersucht, verstößt zwar gegen keinen Forschungskanon beziehungsweise vermeidet elegant Konfrontationen, erhebt aber gleichwohl Geltungsansprüche. Der unbestreitbare Vorzug von Kleinschmidts ›defensivem‹ Vorgehen besteht darin, gängige Darstellungspraxen zu unterlaufen: das gilt sowohl für die Auseinandersetzung mit primären Texten wie auch für das Selbstverständnis nicht nur germanistischer Forschung. Wenn etwa Kleinschmidt die »infinitesimale Figuration« (S. 98) von Hölderlins Dichtung reflektiert, dann wendet er sich gegen Stillstellungsversuche vorzugsweise philosophischer, auf semantische Grenzwerte fixierter Lesarten. Indem aber Kleinschmidt zugleich auf Rundumschläge gegen so genannte Positionen der Forschung und auf das fragwürdige Ideal endgültiger Verifikation verzichtet, erleichtert er den Zugang zu einem Gespräch über Texte.

[23] 

Dieser konziliante und humane Gestus muss anerkannt werden, bevor für oder gegen Kleinschmidts Analyse argumentiert wird. Nicht jeder Leser wird etwa darüber erfreut sein, dass sich die Lesartenvielfalt des 18. Jahrhunderts erhöht, wenn man auf nur einen, zudem bekannten Teilaspekt von Intensität zu achten lernt, der das fünfte Kapitel vor allem bestimmt (S. 99–116): Innerlichkeit. Leichter wäre es da, sich auf die schon längst erfolgte sozialhistorische Kritik von Innerlichkeit als typisch deutschem Phänomen zurückziehen zu können. Solcher Sozialkritik entging und entgeht freilich die Tatsache, dass Kritik selbst immer auf Tatsachen beruhen muss: Wer Innerlichkeit kritisiert, der muss sich in Zukunft zumindest am differenzierten Niveau von Kleinschmidts exemplarischen Belegen orientieren (zum Beispiel S. 108).

[24] 

Das Problem der Schrift, genaue Bezeichnungen immer nur mit unvollkommenen Ausdrücken vollziehen zu müssen, führt in Kleinschmidts unterschwelliger Argumentation zu einer interessanten Rückkopplung mit der eigenen kulturellen Geschichte: Besteht die Lösung für dieses Problem um 1800 bei Autoren wie Tieck und Jean Paul gerade in der Forderung nach Lesern, die im Gegensatz zu extensiver Lektüre intensiv, ›innig‹ lesen, so wird damit die rezeptionsästhetische Bedingung kultureller Praxis formuliert. Damit stellt sich nun eben auch die bis heute nicht beantwortete Frage nach dem Geltungsanspruch jener Lektüreanweisung: Sie scheint eine Voraussetzung unserer Kultur zu sein wie sie sich wissenschaftlichen Ansprüchen, die nicht weniger zu unserer Kultur gehören, entzieht. Verstehe ich Kleinschmidt richtig, dann plädiert er in seinem kulturpoetologischen Kapitel auch für Intensität als den gleichsam objektiven Grund des Subjektiven: Eine »von Intensitäten graduell gesteuerte Wahrnehmung« (S. 109) steuert Innigkeit »als eine sehr subjektbezogene, intime Einlassung« (ebd.).

[25] 

Intensität als Innigkeit unterläuft konsequent »die herkömmliche Bindung der Wahrnehmung an das logische Prinzip von Identität und der daraus resultierenden Mechanik der Repräsentation zugunsten einer ›intensiven‹ Logik des Tausches« (S. 104), des Tausches nämlich zwischen äußerer und innerer Welt, und führt zu einem Begriff von Bildung, nach dem der Mensch immer schon in einer durch Intensitäten geformten Welt lebt. Diese sich vor allem Herder verdankende These plädiert für die prinzipielle Bildungsfähigkeit des Menschen, seine Variabilität und Offenheit, auch als Kritik an rigoristischen Moralvorstellungen. Dichtung wiederum ist das Medium, jene Bildungsfähigkeit in Gang zu setzen und zu fördern. Sie schreibt also nichts vor, sondern bereitet den Umschlag von Bildung in Selbst-Bildung vor. Dichtung löst damit ein zentrales Paradox der Aufklärung, wie nämlich Selbstdenken, das sich doch nicht predigen lässt, sondern immer schon vorausgesetzt werden muss, gleichwohl aktiviert werden kann.

[26] 

In dem darauffolgenden sechsten Kapitel, »Sprache und Ordnungen der Intensität«, (S. 117–140) belegt Kleinschmidt nun im Detail diese These an ganz unterschiedlichen, zentralen AutorInnen (Bettine von Arnim, Herder, Goethe, Novalis und Hölderlin). Gleichwohl sind hier auch zwei Beobachtungen in philosophischer Hinsicht bemerkenswert. Erstens die Bedeutung eines Denkens »graduell verfasster Kontinuen mit gleichzeitiger Trennungs- und Verbindungsqualität« (S. 120) bereits für D’Alemberts Discours Préliminaire de l’Enzyclopédie von 1751. Zweitens und wohl wichtiger eine neue Lektüre Hegels im Kontext der Intensitätsmodellierung, die Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) semiotisch reformuliert »als die Kraft des Bewusstseins, das sich in einem von ihm ausstrahlenden Zeichenstrom disseminativ zugleich auflädt und verausgabt, auftaucht und verborgen bleibt.« Plausibel ist diese Reformulierung durch den in Hegels Argumentationszentrum stehenden Kraftbegriff, den er von Herder übernahm. Durch beide Beobachtungen Kleinschmidts aber wird eine neue Auseinandersetzung mit der Europäischen Aufklärung und darüber hinaus mit ihrem vermeintlichen Opponenten, dem Deutschen Idealismus, möglich.

[27] 

Aufklärerische Theorieräume
der Intensität

[28] 

Unter diesem philosophiegeschichtlichen Aspekt ist Kleinschmidts Arbeit besonders verdienstvoll: Intensität ermöglicht unter dem missverständlichen Namen der ›Intension‹ nicht zuletzt die pädagogischen Ambitionen der Aufklärung bei Moritz, Forster und Campe, indem diese in je spezifischen Kontexten der Psychologie, Zivilisationskritik und Philologie für die Akzeptanz individueller Rezeptionen plädieren, satirisch umgewendet später in Jean Pauls Dr. Katzenbergers Badereise (1809), in der Intension als Innerlichkeit den Mangel des äußeren Lebens, die Extension, ersetzen kann. Produktiv wird die Relation von Extension / Intension indes gerade bei Jean Paul bereits in dessen Vorschule der Ästhetik (1804) in den überaus präzisen empirischen Beobachtungen zum Verhältnis beider Parameter in Abhängigkeit vom jeweiligen Sinn, die Kants Begriff des Erhabenen operationalisieren (S. 65).

[29] 

Kants Theorie der extensiven und intensiven Größen, die Fichte übernimmt, folgt nicht der Erkenntniskritik Jean Pauls. Nicht zuletzt bedingt durch Hegels Denunziation der nichthegelianischen Philosophen als romantische Subjektivisten mit Jean Paul als Hauptverdächtigem erschwert dies bis heute die Rezeption von Jean Pauls überzeugender Argumentation. Um wiederum nicht Hegel zu denunzieren: Intensität als Gegenbewegung zur rein extensional beschreibbaren Weltmaschine erzeugt in der Tat Probleme, die das sich formierende Subjekt mit sich selbst hat, wenn diese auch nicht ›subjektiv‹ in dem von Hegel mit konnotierten Sinne von ›privat‹, ›schrullig‹, wenn nicht sogar ›solipsistisch‹ sind. Kleinschmidts Darstellung der wissenschaftsgeschichtlich wichtigen Grenzscheide zwischen Hegel einerseits und Jean Paul, Novalis und der Frühromantik andererseits überzeugt auch wegen ihrer selbstständigen Reformulierung, die hier auf folgendes Kernzitat reduziert werden muss: »Das [die Abgrenzung von der extensiven Welt durch den Intensitätsbegriff] ist zunächst [!] ein instabiles Humanprojekt, da der Weg des Subjekts nach innen ohne die Anhalte auskommen muss, die sein Weg nach außen von vornherein hat.« (S. 66)

[30] 

Das Humanprojekt stabilisiert sich indes in der Folgezeit durch den Philosophen, der mit Hegel um 1800 im Denken noch verbunden war, der sich dann aber durch die Argumente Hölderlins zu einer Revision überzeugen ließ, Schelling. Schelling und Hölderlin sehen Intensität und Extensität als wechselseitiges Bestimmungsverhältnis an. Tatsächlich aber löst sich die von Schelling theoretisch formulierte graduell korrespondierende Koexistenz der beiden Größen nur in der Dichtung ein. Diesen Umschlag vom ›System‹ des Denkens zum Prozess des Dichtens vollzieht erst Hölderlin. Damit aber realisiert sich trotz Hegels nicht unberechtigter Kritik an der Möglichkeit gehaltloser Intensität erst der eigentümliche Sinn des in der Aufklärung entworfenen Theorieraumes. Darauf freilich hatte schon Jean Paul selbst hingewiesen (vgl. S. 32), der auch hier wieder eine eigenständige Denkfigur, vor allem in den Nachlassnotizen zur Selina (vgl. den wichtigen Hinweis Kleinschmidts auf S. 28) entwirft: Die Intensitätsrelationen im Extensiven sind nicht auf die im Intensiven übertragbar, sondern nur aufeinander abbildbar.

[31] 

Kants Argumentation unterscheidet sich hiervon nicht wesentlich. Auch er geht davon aus, dass jede Empfindung einen Grad oder eine Größe hat. Da er die Intensitätsempfindung nicht von objektiven Beschaffenheiten, sondern in den Veränderungen des Subjekts lokalisiert, fundiert er letztlich Urteile nicht in einer Logik der Identität von Perzeption und Gegenstand, sondern schließt Subjekt- und Objektsphäre im Kontinuum der Intensität zusammen. Kant untersucht nur nicht wie Marcus Herz oder Karl Philipp Moritz die empirischen Bestimmungen der Sinnesphysiologie. Vor allem aber geht er nicht von der Denk- zur Kulturpraxis über wie dann Jean Paul. Gleichwohl rücken die genannten Autoren im allzu großen, zwischen Aufklärung und Deutschem Idealismus aufgespannten Theorieraum relativ nahe zusammen (vgl. S. 82 ff.).

[32] 

Fazit

[33] 

Ein wesentliches Verdienst der Arbeit Kleinschmidts liegt im Nachweis, wie eine naturwissenschaftliche Theorie in kulturpoetische Praxis übersetzt wurde. Er eröffnet damit weitere Arbeit an der kulturellen Geschichte, besonders an der Wort- und Literaturgeschichte: Wo wurden und werden Wörter selbst zu Intensitäten, die unsere Wahrnehmung lenken? Wo bilden sich aus den alten topoi gegenwärtig neue Empfindungsräume? Die selbst intensive, das heißt nach einem Gradationsmodus gestaltete Darstellung Kleinschmidts zwingt damit notwendig zum Weiterdenken über kulturpoetische Topologien der Gegenwart. So ist dieses Buch also nicht nur eine Arbeit über die mittlerweile abgeschlossene Geschichte eines Begriffes, sondern ebenso Abbildung einer Funktion, deren weiterer Verlauf von ihrer aufmerksamen Analyse abhängig bleibt.