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Schriftwechsel

Ein Sammelband zu Franz Kafkas Oktavheften

  • Wolfram Groddeck / Caspar Battegay / Felix Christen (Hg.): Schrift und Zeit in Franz Kafkas Oktavheften. Göttingen: Wallstein 2010. 260 S. 13 Abb. Broschiert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-8353-0537-3.
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Seit jeher begegnen sich in der Kafka-Forschung zwei Positionen: die eine hängt der Entschlüsselungsthese an, nach der Kafkas ›Werk‹ ein Rätsel darstellt, das gelöst werden kann und muss; die andere begreift den Rätselcharakter als tieferen ›Sinn‹ und versucht mit gleichem Geschick den enigmatischen Charakter der Texte zu bewahren. Dieser Umstand hat die Literaturdidaktik ins Unglück gestürzt und zahlreiche Schülergenerationen verzweifeln lassen. Aus wissenschaftshistorischer Sicht aber liefert die Auseinandersetzung bemerkenswerte Einblicke in die Theoriegeschichte der Germanistik; die Rezeptionsgeschichte der Türhüterlegende belegt dies eindrucksvoll. Mit der Edition der sogenannten »Oktavhefte« im Zuge der von Roland Reuß und Peter Staengle veranstalteten Historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte (FKA) kann die Kafka-Forschung nun auf einer erneuerten Grundlage debattieren und auch die Forschungslage neu bewerten.

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Der vorliegende Sammelband, der auf eine Konferenz an der Universität Zürich vom 17.3. bis 19.3.2008 zurückgeht, sieht daher mit dem Editionsideal der FKA die Möglichkeit gekommen, die ›Fraktionierung‹ der Forschung aufzubrechen beziehungsweise die divergierenden Positionen an zentralen Begriffen auszurichten. So heißt es in der Einleitung:

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Erklärtes Ziel dieser Veranstaltung war es, zwei wichtige Fraktionen der unübersichtlichen Kafka-Forschung ins Gespräch zu bringen. Es sollte eine Möglichkeit geschaffen werden, um eine auf Biographie und historischen Kontext ausgerichtete Kafka-Deutung, wie sie von den Jüdischen Studien unternommen wird, mit einer textkritischen und hauptsächlich an Fragen der Edition orientierten Forschungspraxis zu verbinden. So ist es den Beiträgen des vorliegenden Bandes gemeinsam, daß sie im Kreuzungspunkt der Achsen von graphē und bios, Text und Geschichte, ›Schrift‹ und ›Zeit‹ operieren. (S. 7)
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Raum und Zeit der Schrift

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Der erste Beitrag des Bandes, Marianne Schullers »Zur Unzeit des Schreibens. Sinndichte und Sinnentzug in den Jäger-Gracchus-Aufzeichnungen«, folgt vorwiegend den Oktavheften zwei und vier. Schuller unterstreicht neben der ›Zeit‹ den ›Raum‹ des Schreibens / der Schrift, der auch für die anderen Beiträge eine wichtige Rolle spielt. Schuller spricht von »Zone«, »Schwelle« oder »Passage« der Schrift und bezieht sich unter anderem auf Walter Benjamin, um die besondere »Situation« der Oktavhefte zu beschreiben:

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Diese anhaltende Schwellensituation bestimmt nicht nur der Gegenstand des Erzählens, sondern das Verfahren des Erzählens selbst. Es bringt sich ein Erzählen (auf) der Schwelle hervor, das, nicht zuletzt durch die Graphie der sich vervielfältigenden, die Seiten der Oktavhefte rhythmisierenden Querstriche, den narrativen Ablauf des Erzählens blockiert (S. 15)
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So gedacht bedingen sich ›Wie‹ und ›Was‹, die beiden Säulen der Erzählforschung, nicht nur gegenseitig, sie verdanken ihre Beziehung erst dem Fortgang des Schreibens, der zwischen Schreiben und Geschriebenem, zwischen Schreiben und Lesen changiert – ein methodologisch reizvoller Gedanke, der die Erzähltheorie näher an die Schreibprozessforschung rückt. Nebenher wird ein Problem aufgeworfen, das am Umgang mit Kafkas Texten immer wieder beobachtet werden kann: Sie sind auf eine derart diffizile Weise selbstreferentiell, dass sie die Theorie gleich mitformulieren oder zumindest erfolgreich stimulieren. Diese Besonderheit »stellt« nun jene »bedrängende Sinndichte her, die aber bei Kafka die Kraft des Entzugs als Aufreißen einer Leere anregt, anspornt und steigert«, wie Schuller am Ausgang ihres Beitrages formuliert (S. 23). Sie kann aber auch eine Selbstimmunisierung zur Folge haben, Sackgassen und Irrwege hervorrufen, wenn sich der Umgang mit dem Text immer schon durch den Text legitimiert sieht.

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In diesem Problemfeld bewegt sich Martin Endres’ anregender und zuweilen überspannter Beitrag zur »Chronographie des Todes. Die utopische Zeitlichkeit des Schreibens in Kafkas Der Jäger Gracchus«, in dessen Zentrum einzelne, aus dem Zusammenhang gelöste Sätze stehen, »Kristallisationspunkte für das Verhältnis von Autor und Text«, deren isolierte, vom Schreibprozess abgelöste Analyse Endres eine methodologische »Provokation« (S. 25) nennt. Dazu ein Beispiel, der dritte und letzte unter den ausgesuchten Sätzen: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe«. 1 Im Unterschied zu Schuller, die den Satz ebenfalls behandelt, aber erst auf Homers Odyssee bezieht, um dann den paradoxalen Charakter der Aussage zu problematisieren, schlägt Endres eine dritte Lesart vor, »daß ›hier‹ – mit der Rede über das Schreiben – das Schreiben selbst thematisch wird.« (S. 32) Das vorgelegte ›ich‹ sei nun doppelt zu verstehen, als Text-Ich und Autor-Ich. Endres radikalisiert damit – ohne allerdings darauf einzugehen – die Unterscheidung von erzählendem Ich und erzähltem Ich, die die besondere Spannung der Ich-Erzählsituation ausmacht. »Ich verstehe Kafkas Schreiben als die Bewegung in einem Modus zwischen Identität und Enteignung, zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede: Schreiben als eine Erfahrung, die die eigene Subjektivität für einen Augenblick disloziert – Schreiben als eine Subjektivität ohne ›Ich‹.« (S. 34 f.) Darin entdeckt Endres die im Titel seines Beitrages angekündigte Utopie, die sich rückblickend als Praxis des Schreibens entpuppt, die nicht nur den Autor Kafka, sondern auch den Leser ergreifen soll. In diesem Sinne versteht Endres die kristalline Qualität der ausgesuchten Sätze. Sie stehen einmal für sich, dann für die Beziehung des Autors zu sich und zu seinem Schreiben, dann für den Autor als Geschriebenem und schließlich für das gesamte Schreibverfahren, das gleichgesetzt wird mit dem ›Verfahren‹ des ›Lebens‹.

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Querstriche

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Während Endres die Beziehung von Schrift und Zeit, von graphē und bios isoliert und radikalisiert, betrachtet Malte Kleinwort Kafkas Oktavhefte nüchterner und stärker (editions)philologisch. Kleinwort reicht zunächst den erforderlichen Abriss zur Forschungsgeschichte der Oktavhefte nach, in deren Mittelpunkt der auf Gerhard Neumann und Wolf Kittler zurückgehende Begriff des »Schreibstroms« steht. Am Beispiel von Kafkas Querstrichen – die er auf anregende Weise typologisiert – problematisiert Kleinwort die Bedeutung des »Stroms«, um sich dann ausführlich und kenntnisreich einigen Manuskriptstellen zuzuwenden. Angesichts der Fülle an Überlegungen sei nur noch ein Aspekt des Beitrages herausgegriffen, Kafkas Umgang mit dem Querstrich, der insbesondere im fünften Oktavheft so variantenreich, text- und sinnbezogen ist, dass Kleinwort ihn als »Flußstrich« (S. 48) bezeichnet, der einerseits den Schreibakt begrenzt oder lenkt, andererseits aber auch weiterführt, am sinnfälligsten vielleicht in der »Aufzeichnung ›Ein Fluss teilte die Stadt‹ [, die] von der vorangehenden und der nachfolgenden Aufzeichnung vermittels zweier Querstriche abgegrenzt wird.« (S. 48)

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Auch Uta Degner wendet sich dem Querstrich zu, setzt aber einen etwas anderen Akzent. Hier steht der Querstrich für Kafkas Poetik des Zerfalls, der Unterbrechung, der Geste und Grenze. Allerdings sei diese Poetik nicht negativ bestimmt, sondern produktiv. Degner zitiert einen Satz aus dem Oktavheft 5 (Blatt 7r), »›Was ich berühre zerfällt‹«, auf den eine »Art segmentierter Schlange, bzw. ein in sich unterteiltes Band [folgt], das einem Filmstreifen ähnelt, im Unterschied zu diesem jedoch die Besonderheit hat, daß es einen organischen Seitentrieb entwickelt, der sich seinerseits nochmals verzweigt.« (S. 69) Der Strich funktioniere wie ein »Emblem« und betone unter anderem »die Handlung der eigenen Hand, die das Zerfallen durch Berühren aktiv auslöst.« (S. 70) Darin liegt, kurz gesagt, die These dieses verzweigten und doch ausgewogenen Aufsatzes, wonach sich die Hand (oder die Geste des Schreibens) und die Schrift im Prozess des Schreibens selbständig machen (können). Ein Phänomen, das nicht nur die Souveränität des Autors untergräbt und in den Vorgang des Schreibens verlegt, sondern von Kafka auch erkannt und poetisch eingesetzt wurde. In Abgrenzung zum Ästhetizismus und zu Saussures Theorie der Sprache folgert Degner abschließend: »Kafkas Oktavhefttexte inszenieren unermüdlich diesen double bind zwischen der Einsicht in die Illusio der Zeichen und Gesten und der Unentbehrlichkeit eines Glaubens an sie.« (S. 85)

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Souveränitäten des Schreibens

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Sandro Zanetti thematisiert gleichermaßen die Verselbständigung des Schreibens, am Beispiel der ›Kurier‹-Notiz im Oktavheft 7. Er verbindet damit eine methodologische Reflexion, die sich grundsätzlich mit den Materialwerten des Schreibprozesses und den Bedingungen (und Vorteilen) eines produktionsästhetischen Ansatzes beschäftigt. Am Beispiel der Doppelseite 23v/24r diskutiert Zanetti die Möglichkeiten der Manuskriptlektüre:

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Eine solche Nahaufnahme der Schreibwerkstatt entbirgt kein Geheimnis hinter den Aufzeichnungen, keine Lösung von Rätseln […], sondern sie macht auf den Prozeßcharakter des Geschriebenen aufmerksam, der als Untersuchungsgegenstand einer Auseinandersetzung für sich genommen signifikant ist.
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Erst dann trete die »Semantik« eines Textes auf, in Beziehung zum (hier material dokumentierten) Schreibprozess. Denn »erst wenn diese Scheidung der Untersuchungsperspektive in einem ersten Anlauf vorgenommen wird, besteht auch Aussicht darauf, das Verhältnis der Schreibspuren zur Verlaufsform der ihrerseits produktiv werdenden Semantik als Verhältnis zu untersuchen« (S. 97 f.). Damit ist auch eine grundlegende Überzeugung des Bandes formuliert, nach welcher der Begriff des Schreibens / der Schrift als Bündel körperlicher, materialer und instrumentaler Elemente zu begreifen ist, als Praxis, die ausgreift auf die narrative Konzeption und von dort aus – zumindest in so skriptural komponierten Texten wie denen Kafkas – auf den Schreibakt zurückwirkt.

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Davide Giuriato befasst sich in seinem Beitrag mit der Aufgabe, »den in der Forschung vernachlässigten und systematisch noch nicht erfaßten Status von ›Kindheit‹« zu untersuchen. Stationen sind neben dem Jäger Gracchus auch die Erzählung »Josefine, die Sängerin, oder das Volk der Mäuse« und die »zeittheoretische[n] Äußerungen in den späteren Oktavheften von 1917/1918« (S. 102). Giuriato zeigt dabei, dass neben den messianisch auslaufenden geschichtsphilosophischen Reflexionen in Kafkas Oktavheften auch eine »aionische Zeit« (nach der zuerst von Heraklit beschriebenen Geschichte vom Knaben Aion) erkennbar werde, die sich an Nietzsches Heraklit-Lektüre und der seit der Romantik topisch gewordenen Analogisierung von Kind und Künstler orientiere. Diese »Ästhetik des Kinderspiels […] ist für Kafkas literarische Tätigkeit gerade dort von zentraler Bedeutung, wo die Zeitbegriffe […] zu einem textuellen Problem werden«, was unter anderem dort abzulesen sei, wo Kafka eine »Schreibpraxis« pflege, »die sich für literarische Kinderspiele und Experimente Zeit nimmt.« Die stehe quer zu gängigen Konzepten, weil mit ›Kindheit‹ ein poietisches Prinzip einhergeht, »eine zusehends vom Verschwinden bedrohte Tätigkeit, für die den Erwachsenen kein Begriff bereitsteht« (S. 117).

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Wie Endres und Schuller stellt sich auch Felix Christen in seinem Beitrag zu »Kafkas Nemologie« die Frage, wer und was mit »niemand« gemeint ist. Sein Beispiel ist der als »Ausflug ins Gebirge« bekannt gewordene Text, den die FKA im Konvolut »Gegen zwölf Uhr« führt. Dabei handelt es sich, Christen zitiert hier die Studie von Hans-Thies Lehmann, »›um eine kaum verhüllte Allegorie der Buchstaben […] – diese ›niemands‹, die an sich nichts bedeuten, aber zusammen-›gedrängt‹ und aus der Nähe besehen aus lauter ›quergestreckten‹ oder gebogen ›eingehängten‹ Strichen bestehen, viele kleine Sockel als ›Füße‹, ›winzige Schritte‹ als Abstände‹« (S. 120 f.). 2 Die am Druckbild entworfene Allegorie untersucht Christen nun am Beispiel der Handschrift, die ebenso Spuren einer solchen Allegorisierung enthalte, die sich in die Geste des Schreibens selbst einschleiche. In diesem Sinne verlagere der / das / die ›niemand‹ – denn welches Geschlecht soll die Schrift bloß haben – die Souveränität des Schreibers / Schreibens vom Autor weg hin zur ›Schrift‹, deren Macht rückwirkend den Akt des Schreibens bestimmt oder zumindest beeinflusst. Diese »Nemologie […] markiert zu Beginn der ›Gracchus‹-Erzählung die Grenze, welche das Erzählte, die erzählte Welt, vom Erzählen trennt« (S. 123 f.). Pointiert beschreibt Christen damit eine der zentralen Fragen des Bandes, wer eigentlich in der Szene des Schreibens die ›Regie‹ innehat, wer also – und aus diesem Grund spielt Kafka eine bemerkenswerte Rolle in der neueren Philosophie des Politischen – den Posten des Souverän übernimmt. 3 In Bezug auf Gershom Scholem, Jacques Derrida, Maurice Blanchot und schließlich Emmanuel Levinas kommt Christen zum Schluss: »Die Niemandigkeit ist so nicht nur, wie ich zu zeigen versuchte, ein Moment in der Genese der Schrift und im Text, dem Erzählen, sondern verbindet Schrift und Leser.« Dahinter verberge sich ein Messianismus, der im Durchgang des Negierens das Negierte »bewahrt«. (S. 128)

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Grenzziehung und Geisterschriften

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Mit diesem Schluss rücken die jüdischen Aspekte in Kafkas Oktavheften in den Vordergrund. In seinem lesenswerten Aufsatz »Aufgabe mit zwei Uhren« geht Thomas Fries am Beispiel der Aufzeichnung »Ein Kommentar«, die in zwei verschiedenen Versionen unter dem Titel »Die Auskunft« (A) respektive »GIBS AUF!« (B) erschienen ist, die Bedeutung des Kommentars an. Fries gelingt es dabei, an diesem kleinen Text die komplexe Überlieferungs-, Text- und Rezeptionsgeschichte darzustellen, die mit ›Kafka‹ verbunden ist. Noch einmal geht er die abenteuerliche Editionsarbeit von Max Brod und Heinz Politzer durch, die den selbstbezüglichen Charakter des Textes, ein Kommentar des Kommentars zu sein, lange verdeckt hat. Dieses Vexierspiel, das auch von den anderen Autoren des Bandes zum wesentlichen Kennzeichen Kafkas erklärt wird, ist, wie Fries anschaulich darstellt, kein profanes Spiel, sondern wurzelt auf ambivalente Weise in der jüdischen Tradition, auf die sich Kafka erst ironisch beziehe (Text A), die er dann aber so weit zuspitze (in Text B), dass sie den Zwangscharakter der Auslegungskunst exzessiv vorwegnimmt. In dieser Hinsicht fungiere der Kommentar als tragendes Element der skripturalen und der jüdischen Tradition. So betrachtet ersetzt keine der Versionen die jeweils andere; A und B können darum auch nicht ›synchronisiert‹ werden, da sie »zwei verschiedene Textsysteme« darstellen, die »inkompatibel scheinen und sich doch wechselseitig ergänzen« (S. 149).

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Ulrich Stadlers Beitrag »Über Eigennamen in Kafkas Oktavheften« verlässt die Fragestellung in eine andere Richtung. Kafkas Eigennamen seien ein Beispiel »für das Spiel der Verweisungszusammenhänge, in das alle Wortzeichen der Oktavhefte […] eingebunden sind. (S. 169) Kafka stelle sich einmal in die Tradition der Novelle und der ›kleinen Literatur‹, zweitens nehme sein Umgang mit der Literaturgeschichte »gespenstische Züge« an, die in Korrelation mit den »Inhalten der Aufzeichnungen« (S. 156) stünden, wie Stadler am Beispiel des Jäger Gracchus demonstriert. Eben dies gelte auch für alle Versuche, hinter ›Gracchus‹ Kafka selbst zu entdecken (ein Unterfangen, das neben Stadler auch Schuller, Endres und Giuriato beschäftigt), die vor allem belegen, so die Quintessenz des Beitrages, dass der schwebende Sinn der Eigennamen nicht aufgelöst werden kann. Die Namen haben einen Referenten und sie haben keinen. So konzentriert sich die Frage nach der Identität Kafkas und seiner Figuren auf das Schreiben, dessen Prozess den Vorgang der Ich-Werdung des Autors und der Figuren übernimmt und so auf sich selbst verweist. Das Verhältnis von Schrift und Zeit / bios ist dabei strikt postbiographisch gedacht, abseits der lebensweltlichen Daten und Verhältnisse, in denen der reale Kafka steht (wer auch immer das sein mag; die zahlreichen Text-Gespenster sorgen hier für wachsende Verunsicherung).

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Diese Auffassung teilt auch Jakob Hessing, der die Frage des Biographischen radikalisiert. »Will man Kafka näherkommen, so sollte man sich weniger an sein Leben halten als an seine Texte: Nur in ihnen hat er wirklich gelebt« (S. 245). Am Beispiel der »Kaiserliche[n] Botschaft«, »Vor dem Gesetz« oder dem Dom-Kapitel aus dem Prozess bestimmt Hessing Kafkas schreibmetaphysische Richtung, wonach »die Grenze zum Tod […] der Ort [ist], an dem er sein Schreiben situiert, und das gibt ihm seit jeher seine Richtung« (S. 250).

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Rainer Nägele thematisiert noch einmal die Frage der Grenze, räumlich wie zeitlich. Am Beispiel der Gruftwächter-Fragmente spricht Nägele bevorzugt von »Unentscheidbarkeit«, weil die Rede vom ›Äußersten‹ (S. 171) der Schrift nicht ausreichend die phänomenale Alltagsperspektive Kafkas einbeziehe. »So unklar ihm die Welt und die Grenzen sind, so fischt Kafka doch nicht im Trüben und schon gar nicht im Drüben, sondern er sucht und tastet sich entlang im Phänomenalen, registriert es in seinen beiläufigsten Äußerlichkeiten« (S. 172). Nägele zitiert einige schöne und komische Beispiele, etwa Kafkas Beschreibung der eigenen Ohrmuschel oder die der Nasenspitze einer alten Frau in der Eisenbahn. Das Beiläufige und ›Oberflächige‹, wie Nägele Kafkas Schriftverständnis auch nennt (S. 181), rührt an die Praxis der gelungenen Beobachtung und der Erschreibung des Beobachteten auf dem Blatt Papier. Dabei stellt sich etwa die Ohrmuschel »als pars pro toto für den ganzen Körper heraus und wird zum Symptom eines Verhältnisses zwischen dem schreibenden Subjekt und seinem Körper« (S. 173). Es ist ein »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«, wie Kierkegaard den verteufelten Kreislauf des auf sich selbst geworfenen modernen Subjekts genannt hat. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von Schreibendem und Geschriebenem ist – zumindest bei Kafka – nicht aufrechtzuerhalten. Darum, so mag man festhalten, sind Schrift und Zeit nur analytische Kategorien, fällt sich Kafka (und Nägele übernimmt diese Einsicht explizit für seine Argumentation) immer wieder selbst in den Rücken. 4

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Daniel Müller-Nielaba ergänzt diese These um die Figur des Doppelgängers, der nicht nur eine Figur ist, die, zum Beispiel, den Autor verdoppelt, sondern auch den Akt des Schreibens. Seine Pointe ist, dass dieser Doppelgänger auf keine ihm vorgängige Identität (›Kafka‹ etwa) zurückgeht, sondern »als Figur […] der literarischen Dekonstruktion von Identität« begriffen werden müsse (S. 186, Fn. 8). Anders sei die Subjekt konstituierende Funktion der Schrift / des Schreibens nicht zu erfassen.

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Die Verbindung von Blut und Schrift, so Caspar Battegay, gehört zum Bestand der Literatur. Am Beispiel von Das Urteil, In der Strafkolonie und der so genannten »Beschneidungsminiatur« (Kafkas Schilderung der Beschneidung seines Neffen Felix in den Tagebüchern) beschreibt Battegay, welche Funktion die »(Blut-)Schrift[en]« übernehmen: Sie »thematisieren unter anderem die Gefährdung und Erzeugung von Sinn im Schreiben. Mit dem Kreuz, dem Strafgericht und der Beschneidung verbildlichen sie jeweils einen theologisch aufgeladenen Sinnhorizont« (S. 204). Anders aber verhalte es sich mit Kafkas »Schakale und Araber«, der einerseits als »statement zum Zionismus« gelesen werden könne – und Battegay zeichnet diese Lesart beispielhaft nach, indem er auf die Erstveröffentlichung der Erzählung in Der Jude und die zahlreich auftretenden »Motive der jüdischen Tradition« eingeht (S. 208) –, andererseits aber und mit Blick auf die dazugehörenden Aufzeichnungen und Streichungen im siebten Oktavheft die »Gefährdung und Erzeugung von Sinn im Schreiben« (S. 204) thematisiere und den Messianismus von »Schakale und Araber« zumindest problematisiert, wenn nicht auflaufen lässt. Darin komme Kafkas Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung zum Ausdruck, das sich aber wiederum selbst einen Ausweg bahne, durch die Vorstellung einer Schrift ohne Blut. Noch einmal schaut Battegay in das siebte Oktavheft und führt eine Notiz an, die er schließlich gegen die Verbindung von Blut und Schrift führt. 5 Demnach versuche Kafka eine Schrift zu denken, die ohne Stoff auskommt und auf kein Objekt des Schreibaktes angewiesen ist.

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Alfred Bodenheimer schreibt Kafkas Auseinandersetzung mit dem Judentum in eine andere Richtung fort und betont, dass die Oktavhefte mit den hebräischen Vokabelheften zusammen gelesen werden müssen. Sein Beispiel ist eine kleine Mitteilung Kafkas an seine Hebräischlehrerin Pua Ben-Tovim, die einen Menschen zeige, der sich auch auf »warmen Humor[ ] und augenzwinkernde[ ] Selbstironie« (S. 214) verstehe. Aber – wie stets, wird man denken – die Hefte bezeugen auch einen Sinn jenseits des Lernziels, wie am Schriftbild von Kafkas Schreibübungen zu sehen sei. »Das interpunktionslose, teilweise repetitive, beinahe obsessive Niederschreiben von Wörtern, Wortfragmenten, Sätzen und Halbsätzen […] erscheint […] als Tätigkeit, als Produktion, die Dialektik zwischen Organisation und Anarchie abzubilden, wie wir sie aus Kafkas Texten kennen.« (S. 217) Diese thematische Umsicht zeige sich auch an Kafkas Umgang mit dem Vokabelheft. Der Raum beziehungsweise – mit Blick auf die vorhergehenden Aufsätze – die Zone oder Schwelle zwischen Ausgangs- und Zielsprache habe Kafka grundsätzlich gedeutet. Mit Verweis auf Marek Nekulas Arbeit über Franz Kafkas Sprachen 6 nimmt Bodenheimer daraufhin das aus dem Urteil und dem Nachlasstext »Die Brücke« bekannte Brückenmotiv auf, um es als Chiffre einer »Magie der Leere« zu deuten, »von der aus sich Kafkas Hebräischstudien lesen lassen« (S. 220).

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Andreas B. Kilcher rekonstruiert Kafkas Spiritismus und kontextualisiert nun die von Endres oder – mit Abstrichen – Schuller bevorzugte Lektüre der Schrift als Symptom.

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Auch für Kafkas zahlreiche Untote, Wiedergänger und Gruftbewohner, wie sie sich insbesondere in den Oktavheften und ihrem zeitlichen Umfeld finden, liegt die Bedeutung in der Frage des Schreibens […] in einer Art Geisterschrift, einer Schrift nämlich, die sich genauso als heteronom, polyphon, medial und extemporal erweist. (S. 227 f.)
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Diese Geisterschrift aber entstammt einem kulturgeschichtlichen Zusammenhang. So nahmen etwa die Geisterbeschwörer und -theoretiker Gustav Meyrink, Rudolf Steiner oder Berta und Ida Fanta Einfluss auf das Prager Literaturleben, indem sie ein quasi extraterrestrisches Verständnis des Schreibens propagierten. Kafka war von dieser Bewegung angezogen, wie seine Verehrung für Steiner (man denke an Kafkas Rede auf Steiner, notiert im Oxforder Quartheft 1, das auch von Nägele zitiert wird) oder die Teilnahme an Séancen bezeugt. Ihn interessierte allerdings weniger die seltsame Welt der ver-rückten Tische und wackelnden Gläser, als der phantastische konzeptionelle Resonanzraum der Geisterschrift. Odradek oder der Jäger Gracchus sind solche geisterhaften Figuren, die zwischen den Welten der Lebenden und Toten wandern und die entrückende Praxis des Schreibens vorleben. Kilcher weist auch darauf hin, dass Kafkas Büroschriften von Geistern beseelt waren; frei von Einfällen und gebunden an strenge Vorgaben schrieben sie sich wie von selbst. Mit »Transtextualität« schlägt Kilcher schließlich einen Terminus vor, der diese Schreibrichtung auf den Punkt bringt: er »bezeichnet eine Form der Schreibens in anderen Stimmen bzw. in anderen Texten« (S. 240).

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Resümee

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Mit Erscheinen der Historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripe (FKA) hat die Kafka-Forschung noch einmal einen neuen Impuls erhalten. Der vorliegende Band wird dabei eine wichtige Rolle einnehmen können, weil er konsequent Kafkas Lebenslinien in der Schrift und im Schreiben aufsucht, ohne zugleich Kafkas ›Leben‹ außen vor zulassen. Im Gegenteil: Der vorgelegte postbiographische Zugang greift den Begriff des Lebens auf, um ihn am Beispiel der Körperlichkeit des Schreibens und des Geschriebenen, der Ordnung von Raum und Zeit wieder einzuführen. Die Ergebnisse sind durchaus heterogen, doch gerade die Differenzen machen den Vorzug des Bandes aus, zumal man im Laufe der Lektüre den Eindruck gewinnt, dass die Vorträge und Diskussionen der Tagung respektive die Redaktion des Bandes ihren Teil dazu beigetragen haben, die jeweils eigene Argumentation kritisch zu prüfen. Es ist Mode geworden, sich über Tagungsbände zu beklagen, dabei liefern sie – gut betreut – eine ideale Bestimmung des Forschungsstandes, indem sie – wie hier – verschiedene Positionen auf der Grundlage einer gemeinsamen Diskussion zusammenführen.

 
 

Anmerkungen

Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte (FKA), herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel und Frankfurt/M.: Stroemfeld 1995 ff, hier: Oxforder Oktavheft 2, S. 28.   zurück
Hans-Thies Lehmann: »Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka«. In: Gerhard Kurz (Hrsg.): Der junge Kafka. (Suhrkamp Taschenbuch Materialien 2035) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 213–241, hier S. 216.   zurück
Zu den Begriffen Schreib-Szene und Regie siehe Martin Stingelin: »›Schreiben‹. Einleitung«. In: M. S. (Hrsg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, unter Mitarbeit von Davide Giuriato und Sandro Zanetti. (Zur Genealogie des Schreibens 1) München: Wilhelm Fink 2004, S. 7–21.   zurück
»Kafkas Schreiben aber, und nicht nur seines, jedes wirkliche Schreiben, hat seinen Gegenstand immer schon überholt. Aber auch das ist nicht ganz richtig, wenn wir Kafkas Aufzeichnungen beim Wort nehmen. Zumindest dürfen wir das Wort ›überholen‹ nicht in dem Sinne verstehen, daß die Literatur den Gegenstand als ein bloß Äußerliches und Nichtiges hinter sich gelassen hätte, sondern daß das Überholen darin besteht, im Äußerlichsten das Äußerste aufzuzeichnen, wo Grenzbewachung und Grenzüberschreitung unentscheidbar eins werden.« (S. 181)   zurück
Vgl. dazu Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, herausgegeben von Gerhard Neumann, Malcolm Pasley, Jost Schillemeit und Gerhard Kurz, unter Beratung von Nahum Glatzer, Rainer Gruenter, Paul Raabe und Marthe Robert. Frankfurt/M.: Fischer 1982 ff., hier: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 45.   zurück
Marek Nekula: Franz Kafkas Sprachen. »… in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes«. Tübingen: Max Niemeyer 2003.   zurück