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Eduard Zimmermann kauft sich eine Hose und geht mit Dr. John Money essen

  • Ulrike Klöppel: XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. (GenderCodes - Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht 12) Bielefeld: transcript 2010. 698 S. zahlreiche Abb. Paperback. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-8376-1343-8.
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Eine im deutschen Sprachraum sozialisierte Person versteht die Anspielung unmittelbar und – wie im Falle der Rezensentin – sogar dann, wenn sie die 1967 erstmals ausgestrahlte Sendung noch nie gesehen hat. Im Titel ihrer historischen Studie schließt Ulrike Klöppel die beim TV-Format als Platzhalter für den (noch) ungelösten Kriminalfall fungierende Buchstabenkombination XY mit den Darstellungskonventionen des menschlichen Chromosomensatzes kurz. Allerdings entspricht XX0XY »keiner empirischen Geschlechtschromosomenkombination« (S. 19) und in diesem Sinne ist die Spurensuche, zu der die Autorin einlädt, von vornherein verunmöglicht. Als absichtsvoll unstimmiges tertium comparationis ergibt XX0XY daher in keinem der beiden dadurch aufgerufenen Bezugsrahmen Sinn und gerade diese Unstimmigkeit verfremdet ein Stück weit die zumeist unhinterfragte Evidenz der Konvention: XX und XY sind mit dem Nimbus der Wissenschaftlichkeit ausgestattete Platzhalter des Geschlechts, die die Komplexität und Vielfalt menschlicher Körper und Identitäten auf eine binäre Logik reduzieren, tertium non datur.

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Das hintergründig vielschichtige wie vordergründig evidente Zeichenspiel setzt sich in einer weiteren Parallele fort. Den (noch) ungelösten Fällen in Fernsehserie und Medizin sind drei miteinander korrelierende Aspekte gemein:

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1. Sie stellen Wissen aus Spezialdiskursen zur Verfügung;

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2. sie schulen die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Adressierten im Hinblick auf Norm und Abweichung;

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3. sie ermöglichen die Generierung neuen Wissens (vgl. S. 19 f. Fußnote 1).

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Wie am Beispiel des TV-Formats besonders evident – potentiell liefern die ZuseherInnen den für die Lösung des Falls entscheidenden Hinweis –, handelt es sich dabei nicht um einen unilateralen Prozess der Popularisierung von Spezialwissen und dessen Assimilierung in der alltäglichen Lebenswelt. Vielmehr kann man im Sinne Jürgen Links von einer Rückkopplungsschleife normalistischer (Selbst-)Regulierung sprechen. Auf die Ordnung der Geschlechter übertragen impliziert dies die potentielle Flexibilisierung der Geschlechtergrenzen und die Pluralisierung der Geschlechtskategorien – tertium datur –»bei gleichzeitiger Stabilität und Persistenz der gesellschaftlichen Strukturierungswirkung der Geschlechterdifferenz (mit den Folgen von Hierarchisierung, Homogenisierung und normativen Ausschlüssen)« (S. 64). Intersexualität, so eine der Kernthesen Klöppels, dient in der Medizin entsprechend dazu, »Geschlechterwissen zu modifizieren und so flexibel zu halten« (S. 67). Diese Operationalisierbarkeit der Abweichung ist im Titel gleichfalls präsent: Die Null nämlich steht konventionell »für das Fehlen oder die strukturelle Abweichung eines Geschlechtschromosoms« (S. 19), und insofern entspricht XX0XY zwar »nach dem gegenwärtigen Wissensstand« (Ebd.) keiner Geschlechterchromosomenkombination, stellt damit aber eben immer nur vorläufig eine unbekannte Größe dar.

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Das Problem der Hermaphroditen

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Für das Erkenntnisinteresse der von Klöppel vorgelegten historischen Studie folgt daraus, dass sie den medizinisch-psychologischen Diskurs über Intersexualität in den Blick nimmt, um danach zu fragen, »unter welchen Bedingungen geschlechtliche Uneindeutigkeit überhaupt Aufmerksamkeit auf sich zieht« (S. 19). Sie grenzt sich damit von bisherigen, im Kontext der Gender und Queer Studies entstandenen Arbeiten zu diesem Thema ab 1 , da diese, so Klöppel treffend, Hermaphroditen »als uneindeutige oder ambivalente Körper dar[stellen], die dem medizinischen Geschlechterdiskurs vorgängig seien und diesen qua ihrer geschlechtlichen Sondernatur herausfordern würden« (S. 54). Die darin implizite Annahme einer einseitigen Medikalisierung verkennt oben skizzierte Dynamik der Verschaltung von Stabilisierung und Transformation: Ausnahmen stellen eben keine bedrohlichen Störfälle einer rigiden Zweigeschlechterordnung dar, sondern lassen sich produktiv in diese integrieren. Zudem und weitaus problematischer essentialisiert ein solcher Ansatz, dadurch dass er »eine unmittelbare Auffälligkeit des geschlechtlich uneindeutigen Körpers« voraussetzt (S. 55), die Kategorie des Hermaphroditen. Während Männlichkeit und Weiblichkeit als Effekte sozio-kultureller Konstruktionsprozesse analysiert werden, erscheint Intersexualität so als ein den sozialen Praktiken vorgängiges Phänomen (vgl. S. 603). Diese theoretische Asymmetrie setzt sich auch in dem Gestus fort, Menschen uneindeutigen Geschlechts qua ihrer Körperlichkeit ein transgressives Potential zuzuschreiben – eine Vereinnahmung, gegen die sich Intersex-AktivistInnen entsprechend verwehren (vgl. 28 f.).

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Demgegenüber geht es Klöppel im Rekurs auf Michel Foucault um eine Analyse dessen, »[w]ie und warum bestimmte Dinge (Verhaltensweisen, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden« 2 . Foucaults vergleichsweise noch wenig rezipiertes Konzept der Problematisierung eignet sich dazu, das in den Gender und Queer Studies virulente Verhältnis von Konstruktion und Materialität dahingehend zu begreifen, dass spezifische Körper nicht per se auffällig, uneindeutig, etc. sind, sondern dies durch einen bzw. für und in einem spezifischen Bezugsrahmen werden. Ein Gegenstand, ein Körper, eine Verhaltensweise konstituieren sich als Problem in dem Maße, wie sie im Verhältnis zu einem bestimmten Kontext als zweifelhaft und fragwürdig, unvertraut und unselbstverständlich erscheinen (vgl. S. 72 und 74). Dieser Prozess ist in doppeltem Sinne produktiv: Zum einen werden durch den Zugriff auf und die Reflexion von konkrete(n) Gegebenheiten diese als Objekte konstituiert. Allerdings impliziert dies, wie Foucault betont, weder »die Darstellung eines zuvor existierenden Objekts« noch »die Erschaffung eines nicht existierenden Objekts durch den Diskurs« 3 . Die Problematisierung eines Gegenstandes geht zum anderen immer schon mit der Suche nach einer Lösung einher. Problematisierungen fungieren mithin, so Klöppel, als »Ausgangspunkt für Veränderungen« und zugleich als »ihr regulierender Durchgangspunkt« (S. 74). So gedacht, stellt das Problem sich nicht nur als Herausforderung des Gegebenen dar, sondern als Symptom dafür, dass die unhinterfragte Evidenz einer Norm selbst schon brüchig (geworden) ist.

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Die Überlegungen Klöppels lassen sich mit der Prävalenz in Zusammenhang bringen, die der Fallgeschichte ab dem 17. Jahrhundert im medizinischen Diskurs über Hermaphroditismus zukommt: Der Fall ist nach Carlo Ginzburg »ein in der Regel sehr komprimiertes Narrativ, das entweder die interne Schwäche einer Norm oder den Konflikt zwischen zwei normativen Systemen anzeigt« 4 . Die Fallgeschichte konstituiert somit eine Form, mittels derer ein Gegenstand im medizinischen Diskurs als Problem verhandelt werden kann. Außerdem wäre Klöppels Feststellung, Problematisierung ziele »eher auf die Ebene des Wissens« ab (S. 75), dahingehend zu präzisieren, ob und wie dies zur Thematik der Sorge in Beziehung steht. Wohl kaum zufällig nämlich tauchen beide Begriffe vermehrt im Kontext der Entstehung des dritten, bezeichnender Weise Die Sorge um sich (1984/1989) betitelten Bandes von Sexualität und Wahrheit auf, und mithin im Spätwerk, das in der Foucault-Rezeption (vermeintlich) ganz im Zeichen einer Ethik des Subjekts steht.

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Dem nachzugehen könnte sich auch im Hinblick auf die Frage nach der Vermittlung zwischen Gegebenheiten und ihrem Problem-Werden lohnen, welche Klöppel wesentlich über den Begriff des Ereignisses denkt: Ereignisse – wie eben Begegnungen der Medizin mit Hermaphroditen – sind Anreize für Problematisierungen (vgl. S. 76). Von dieser Bestimmung ausgehend bietet sich der Brückenschlag zur Ordnung des Diskurses (1971/1991) einerseits, dem Aufsatz Subjekt und Macht (1982/2005) andererseits an. In letzterem verwendet Foucault das Wort inciter im Zusammenhang mit seinem Konzept von Macht(relationen):

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Sie [die Macht, F.I.] ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen 5 .
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Diese wesentlich im Register der Verführung beschriebene Funktionsweise von Macht untermauert Klöppels genaue Argumentation: Völlig zu Recht übersetzt sie in einem Zitat Foucaults zur Frage der Problematisierungsweise incitation mit Anreiz, und nicht Hinweis (vgl. S. 76, Fußnote 90). Als Anreiz im dargelegten Sinne gedacht, führen Ereignisse nämlich nicht zwangsläufig zu Problematisierungen. Deshalb ist auch die Art und Weise wie und ob ein Gegenstand überhaupt problematisiert wird, nicht vollständig determiniert. Was als philologische Wortklauberei erscheinen mag, erweist sich angesichts der von Foucault in der Ordnung des Diskurses formulierten Kritik als absolut zentral. Im Anschluss an Ausführungen zum Begriff des Ereignisses [sic!] beanstandet er, »daß es keine Theorie gibt, welche die Beziehungen zwischen dem Zufall und dem Denken zu denken ermöglicht«. Sein eigenes Vorgehen charakterisiert er demgegenüber als »kleine (und widerwärtige) Maschinerie, welche es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzel des Denkens einzulassen« 6 . Eben jenes Denken des Zufalls – genetivus subiectivus wie obiectivus – ermöglicht der von Klöppel gewählte Analyseansatz.

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(Zu)Viel Geschichte

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Die so angelegte Studie schreibt sich nicht nur methodisch, sondern auch durch den weit gespannten historischen Bogen in die Tradition der foucaultschen Diskursanalyse ein: Klöppels Untersuchungen reichen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, wobei der Schwerpunkt auf der »Entstehung des gender-Konzepts im Kontext der medizinischen Normierung intersexueller Menschen« in Deutschland und den USA ab der Mitte des 20. Jahrhundert liegt (S. 13). Die Arbeit gliedert sich entsprechend in zwei große Teile:

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1. Trans-/Formationen des Wissens über Hermaphroditismus von der Frühen Neuzeit bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts.

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2. Formierung von gender am Experimentalobjekt Intersexualität im Zeitraum von 1945 bis 1980.

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Damit hat Ulrike Klöppel einen Rahmen abgesteckt, der angesichts der Fülle des Materials und der großen Zeitspanne an Foucaults diskursanalytische Arbeiten, insbesondere natürlich an die Geschichte der Sexualität erinnert.

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Darin liegt zugleich aber auch der wesentliche Kritikpunkt, den man an der Studie üben kann: Dass die Leserin/der Leser – und, so der Eindruck: auch die Autorin – in der Handhabung des weitläufigen Materials mitunter den berühmten roten Faden verliert, mag dabei noch das geringste Problem sein. Viel schwerer wiegt, dass Ulrike Klöppel vor allem im Hinblick auf die Zeit vor dem 18. Jahrhundert Thesen aufstellt, die höchst streitbar, um nicht zu sagen: fragwürdig sind und dem von ihr gewählten methodischen Ansatz in weiten Strecken kaum gerecht werden. Einen gewissen Eklektizismus, den Klöppel wiederholt einigen anderen historischen Arbeiten zum Thema Hermaphroditismus in der Frühen Neuzeit attestiert, kann man entsprechend – und wie gleich anhand einiger Beispiele deutlich werden soll – auch ihrer eigenen Behandlung dieser Epochen vorwerfen. Zudem erschließt sich bei der Lektüre nicht ganz, warum die Zeit vor dem 18. Jahrhundert für den von Klöppel als wesentlich gesetzten Untersuchungszeitraum ab der Mitte des 20. Jahrhundert relevant sein soll. Die foucaultsche Sentenz, wonach der »Rückgriff auf die Geschichte« die »Funktion hat zu zeigen, dass das, was ist, nicht immer gewesen ist« 7 , rechtfertigt den Rückgang ausgerechnet bis zum 16. Jahrhundert nur bedingt. Klöppels Analysen im zweiten Teil bestehen ohne den vorangehenden Abschnitt und kommen entsprechend auch fast gänzlich ohne Referenz auf die Zeit vor 1800 aus. Diese argumentative Lücke verstärkt sich noch durch einen ebenfalls nicht ausreichend begründeten Bruch: Während Klöppel nämlich die Zeit zwischen 1600 und 1900 chronologisch aufrollt, setzt der zweite Teil mit den 1950er Jahren ein; die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird nur sporadisch im Modus der Analepse erschlossen. Den wiederholten, und in oben skizziertem Sinne nicht immer ausreichend motivierten Zeitsprüngen des zweiten Abschnitts zu folgen, verlangt beim Lesen einiges an Aufmerksamkeit und argumentativer Eigenleistung ab.

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Die Falle der Aufklärung

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Klöppels Darstellung der Frühen Neuzeit folgt implizit den von Foucault in der Ordnung der Dinge (1966/1974) skizzierten epistemologischen Brüchen zwischen 17., 18. und 19. Jahrhundert: Menschlicher Hermaphroditismus sei Ende des 16. Jahrhundert zunehmend ein »wissenschaftlich seriöser Gegenstand der Naturforschung und Medizin« geworden (S. 133). Ehedem als Monster und damit vornehmlich als göttliches Zeichen interpretiert, setzte im Zuge der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts eine Naturalisierung des Hermaphroditen im Besonderen und der Monstrositäten im Allgemeinen ein. Dies lasse sich an der zunehmenden Zahl der Fallgeschichten und Abhandlungen über Hermaphroditen im medizinischen Diskurs der Zeit nach verfolgen. Im »Zuge einer allgemeinen Verwissenschaftlichung und Rationalisierung im Verlauf des 18. Jahrhunderts« sei schließlich die Integration sowohl der Hermaphroditen als auch der Monster »in die Gesetze der Lebensentstehung [erfolgt] – bei gleichzeitiger Abqualifizierung der Assoziation der Monstren mit dem Übernatürlichen als Ausgeburt abergläubischer Phantasie« (S. 140). Zwar konstatiert Klöppel, dass sich damit eine »Diskurslinie der außergewöhnlichen, jedoch natürlich bedingten Monstrosität« durchgesetzt habe, »die bis auf den Heiligen Augustinus zurückreichte und deren Vertreter als Naturalisten bezeichnet wurden« (S. 140). Doch taucht in ihrer Argumentation verschiedentlich genau jene aufklärerische Rhetorik auf, welche den Zeitraum vor dem 18. Jahrhundert pauschal unter die Vorherrschaft des Irrationalen, Abergläubischen, Unwissenschaftlichen stellt. Um hier nur ein Beispiel anzuführen: Da, so Klöppel, Monstrositäten als göttliche Zeichen galten, »war für die meisten Autoren die Frage nach ihrer empirischen Realität (zumindest noch bis Anfang des 17. Jahrhunderts) im Grunde genommen zweitrangig« (S. 137).

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Einer solchen Darstellung kann man vorwerfen, selbst in die rhetorische Falle der Aufklärung zu tappen, und damit zugleich die Komplexität und Vielfalt frühneuzeitlicher – von der Antike gar nicht zu sprechen – Positionen durch Generalisierungen zu verkürzen. Schon eine genauere Auseinandersetzung mit Lorraine Dastons und Katharine Parks’ Wonders and the Order of Nature (1998) – die Klöppel zwar in ihrer Bibliographie anführt, ohne sich jedoch im entsprechenden Abschnitt der Studie explizit darauf zu beziehen – hätte hier gelohnt. Daston und Park nämlich machen deutlich, dass die Naturalisierung des Monströsen mitnichten erst im 17. oder gar im 18. Jahrhundert einsetzt. Nicht bis zu Augustinus, sondern bis zu Aristoteles’ De generatione animalium reicht entsprechend eine Tradition zurück, die das Monster – und explizit auch den Hermaphroditen – konsequent nicht im Göttlichen, sondern in der Ordnung der Natur verortet. Fabian Krämer weist in seiner Untersuchung – die Klöppel ebenfalls verschiedentlich anführt, ohne jedoch auf diese Feststellung zu rekurrieren – darauf hin, dass Hermaphroditen schon in der Antike ihren Status als Vorzeichen kommenden Unglücks eingebüßt hatten 8 .

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Zudem verabsäumt die Autorin wiederholt die Beschäftigung mit Hermaphroditismus in der Frühen Neuzeit als funktional für die jeweils von ihr angeführten Schriften und deren Kontext zu denken. Dadurch bleibt sie sowohl hinter ihren methodischen Überlegungen als auch hinter ihrer Darstellung des medizinischen Diskurses über Hermaphroditen ab dem 19. Jahrhundert zurück. Auch hierfür sei an dieser Stelle lediglich ein Beispiel genannt: Eine Passage aus Augustinus’ Gottesstaat und deren nicht näher belegte Einschlägigkeit für den Diskurs des Monströsen dient der Autorin als Argument für die oben zitierte These, wonach die Frage der empirischen Realität konkreter Monstren für eine Mehrzahl der Autoren vor dem 17. Jahrhundert zweitrangig gewesen sei (vgl. S. 137). Zum einen setzt Klöppel in dieser Argumentation den Begriff von (naturwissenschaftlichem) Empirismus absolut, indem sie die spezifischen Verfahren der Evidenzerzeugung ab dem 17. Jahrhundert nicht kontextualisiert und damit relativiert. Womöglich war nämlich nicht nur im Diskurs des Monströsen die Frage nach der (vermeintlich) empirischen Realität zweitrangig, sondern generell in einer durch die logische Tradition der Scholastik geprägten Naturphilosophie. Zum anderen, und damit korrelierend, verkennt Klöppels Argumentation, dass der Bezug auf die monströsen Menschenarten im Gottesstaat wesentlich in eine Auseinandersetzung mit dem heidnischen Wunderglauben eingebettet ist und es in dieser Beispielpolitik des Wunderbaren mithin wesentlich um die Vormachtstellung des Christentums geht 9 .

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Damit soll keinesfalls der ewigen Wiederkehr des Gleichen das Wort geredet werden. Selbstverständlich ist die Problematisierungsweise des Hermaphroditen in der Antike eine andere als beispielsweise im 18. Jahrhundert, welche sich wiederum vom medizinischen Problem der Intersexualität im 20. Jahrhundert unterscheidet – und dies wird nirgendwo deutlicher als in Klöppels Studie selbst. Doch vor dem Hintergrund des zweiten Teils, in dem die medizinischen Texte methodisch präzise analysiert und vor allem größtenteils überzeugend kontextualisiert werden, fallen die eben skizzierten Ungenauigkeiten und Generalisierungen – die sich bei der Größe des Vorhabens vielleicht fast zwangsläufig einstellen – umso stärker ins Auge.

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Einscheidende Veränderungen

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Klöppels Analysen der Zeit nach 1800 verdeutlichen, mit welchem Interesse sich die Medizin einem scheinbar so abseitigen Thema wie Hermaphroditismus zugewandt hat. Dass uneindeutiges Geschlecht im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem in erster Linie medizinischen Problem erklärt worden ist, hängt wesentlich mit der Konstitution der modernen Medizin als einem »Bindeglied zwischen einer staatlichen Regulierung der Bevölkerung und der Disziplinierung der Körper« (S. 47) zusammen. Hermaphroditismus erweist sich für diesen Prozess als zentral, weil er sich als ein epistemologisches und sozialregulatives Problem darstellt:

[27] 
Fälle uneindeutigen Geschlechts werden [entsprechend, F.I.] auf der einen Seite als permanente Herausforderung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über Geschlechtlichkeit und auf der anderen Seite als Quelle potentieller sozialer Störungen problematisiert. (S. 17)
[28] 

Auch wenn – oder gerade weil – epistemologische und sozialregulative Problematisierungsweisen bis in die 1960er Jahre in einem mitunter disparaten Missverhältnis zueinander stehen, lässt sich darüber gesellschaftliche Vormachtstellung einklagen. So formulieren Ärzte im 19. Jahrhundert wiederholt den Anspruch, der Geschlechtsstatus von Hermaphroditen müsse medizinisch kontrolliert werden, und das am Besten schon bei der Geburt. Hierin zeigt sich auch, dass und wie Problematisierung und Lösungsstrategie miteinander einhergehen und einander bedingen. Das Problem Hermaphroditismus ist dabei in dem Sinne für die Medizin funktional, als gerade über die Ausnahme eine allgemeine gesellschaftliche Zuständigkeit in Sachen Geschlecht und Geschlechterordnung reklamiert wird.

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Die – wesentlich auf Foucaults Definition des Monsters zurückgehende 10 – Unterscheidung von epistemologischer und sozialregulativer Problematisierung erweist sich auch im Hinblick auf die Etablierung des Baltimorer Behandlungskonzepts und seiner im deutschen Kontext zunächst sehr kontroversen Rezeption als äußerst fruchtbar: Dessen bis heute andauernder Erfolg nämlich beruht, wie Klöppel nachvollziehbar macht, wesentlich darauf, »wissenschaftliche und klinische Anliegen des Hermaphroditismus-Diskurses systematisch miteinander« zu verknüpfen (S. 538). Von der Trennung zwischen biologischem Geschlecht einerseits, Geschlechtsrolle (gender role) und Geschlechtsidentität (gender identity) andererseits ausgehend, entwickelte die Forschungsgruppe um John Money eine Behandlungsrichtlinie, die eine an den Genitalien orientierte »geschlechtliche Vereindeutigung mittels chirurgischer Eingriffe und Hormongaben in den ersten beiden Lebensjahren« vorsah (S. 13).

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Dass ausgerechnet die Medizin die Vorlage für die in der Frauen- und Geschlechterforschung relevante sex/gender-Unterscheidung geliefert hat, zeichnet schon Sabine Mehlmanns diskursanalytische Studie Unzuverlässige Körper (2006) nach 11 . Wohl kaum zufällig geschieht dies ebenfalls am Beispiel des medizinischen Diskurses über Hermaphroditen Ende des 19. Jahrhunderts. Ulrike Klöppels Verdienst ist, einen weiteren – bislang häufig unreflektierten – Entstehungskontext der analytischen Kategorie gender sichtbar zu machen, ohne dabei die gewichtigen Unterschiede aus den Augen zu verlieren. Denn »mit dem Ausdruck der sozialen Konstruktion von gender« war im Kontext der Baltimorer Forschungsgruppe in erster Linie »die Geschlechtszuordnung, die Erziehung durch die Eltern und das durch sie vermittelte Körperbild« gemeint (S. 324). Diese Fokussierung auf das im individuellen Fall vermeintlich gezielt Steuerbare ließ genau jene Aspekte außer Acht, welche die Gender und Queer Studies mit dem Begriff gender zu fassen versuchen, nämlich »Machtverhältnisse in Form von hegemonialen Diskursen, sozioökonomischer und rechtlich-administrativer Institutionalisierung etc., durch die die alltägliche Praxis des zweigeschlechtlichen Klassifizierens forciert wird« (S. 324).

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Liest man Klöppels Ausführungen, so scheint es kaum frappierendere Beispiele für die Zurichtung, ja tatsächliche Zuschneidung auf eine heterosexuelle Zweigeschlechterordnung zu geben, als der Umgang der Medizin mit intersexuellen Menschen ab den 1950er Jahren. Dass und wie es zu einem solchen Einschnitt [sic!] in der Problematisierung von Hermaphroditismus hat kommen können, erklärt Klöppel überzeugend durch die Analyse der diskursiven, technischen und institutionellen Bedingungen. Die technische Durchführbarkeit genitalchirurgischer Eingriffe allein war, wie Klöppel betont und in der Rezeption des Baltimorer Konzepts im deutschen Sprachraum nachzeichnet, keinesfalls eine ausreichende Begründung dafür, solche Operationen – und vor allem an Kleinkindern – durchzuführen. Dass im Zuge der Durchsetzung der Baltimorer Richtlinien die körperliche Integrität und Unversehrtheit von Menschen derart aus dem (medizinischen) Blickfeld geraten konnte, ist entsprechend der zentrale Kritikpunkt von Intersex-AktivistInnen an der bis heute noch üblichen medizinischen Behandlung von Intersexualität.

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Fazit: Lesen!

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Ulrike Klöppel legt mit ihrer Dissertation eine (ge)wichtige Studie vor, deren Lektüre in vielerlei Hinsicht lohnt. Allein ihre methodischen Ausführungen im Anschluss an Foucault einerseits, Fragen der Gender und Queer Studies andererseits regen zu weiteren Überlegungen an und sind entsprechend vielfältig anschlussfähig. Die Anzahl der vorwiegend medizinischen Quellen, die Klöppel bearbeitet und damit zugänglich gemacht hat, beeindruckt und schließt mehr als nur eine Lücke in der (historischen) Geschlechterforschung. Dabei lässt sich allerdings beanstanden, dass gerade diese Materialfülle zugleich ein Problem darstellt, insofern sie nicht durchgehend präzise und überzeugend bewältigt wird. Die Arbeit bleibt damit im ersten Teil häufig hinter den eigenen methodischen Ansprüchen zurück, während es im zweiten Teil mitunter schwierig ist, der Argumentation zu folgen. Ein etwas weniger weit abgesteckter historischer Rahmen wäre angesichts dessen vielleicht sinnvoller gewesen und hätte der Verständlichkeit und Plausibilität ihrer Analysen des medizinischen Hermaphroditismus-Diskurs ab 1950 keinen Abbruch getan. Darin nämlich überzeugt Klöppel nicht zuletzt dadurch, dass sie die Verfahren der Evidenzerzeugung des medizinischen Diskurses über Hermaphroditen aufzeigt. Ihre Vorgehensweise entspricht dann eben dem, was Foucault unter dem Stichwort Reproblematisierung als Aufgabe kritischer Wissenschaft ausmacht: Nämlich die (wissenschaftlichen) Problematisierungsweisen ihrerseits zu problematisieren, »um deren implizite, unmarkierte Setzungen, die auch die politischen Diskussionen über alternative Lösungen strukturieren, zu enthüllen und zu reflektieren« (S. 79).

 
 

Anmerkungen

Insbesondere Alice D. Dregers Hermaphrodites and the Medical Invention of Sex. Harvard: Harvard University Press 1998.   zurück
Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Berlin: Merve 1996, S. 178.   zurück
Michel Foucault: Die Sorge um die Wahrheit. In: M.F.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4. hrsg. von D. Defert und F. Ewald. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 823–836, hier S. 826.   zurück
Carlo Ginzburg: Ein Plädoyer für den Kasus. In: Süßmann, Johannes / Scholz, Susanne und Gisela Engel (Hg.): Fallstudien. Theorie – Geschichte – Methode. Berlin: trafo 2007, S. 29–48, hier S. 29 f.   zurück
Michel Foucault: Subjekt und Macht. In: M.F.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4. hrsg. von D. Defert und F. Ewald. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 269–294, hier S. 286. Hervorhebung F.I.    zurück
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, S. 38.   zurück
Michel Foucault: Strukturalismus und Poststrukturalismus. In: M.F.: Schriften in vier Bänden. Bd. 4. hrsg. von D. Defert und F. Ewald. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 521–555, hier S. 545.   zurück
Vgl. Fabian Krämer: Die Individualisierung des Hermaphroditen in Medizin und Naturgeschichte des 17. Jahrhunderts. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 30, 2007, S. 49–65, hier S. 52 f.   zurück
Entsprechend geht Jacques Le Goff von einem Prozess der Beschneidung und Rationalisierung der Kategorie des Wunderbaren durch das Christentum aus. Vgl. dazu Jacques Le Goff: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart: Klett-Cotta 1980. Es sind, so Lorraine Daston, im Zuge von Reformation und Gegen-Reformation auch die religiösen Autoritäten selbst, die das Über- und Außernatürliche derart scharfer Kritik und rigider Kontrolle unterwerfen, dass sich schließlich kaum noch ein Ereignis als (christliches) Wunder qualifiziert. Vgl. Lorraine Daston: The Nature of Nature in Early Modern Europe. In: Configurations: A Journal of Literature, Science, and Technology, Vol. 6/1 1998, S. 149–172, hier S. 159 f.    zurück
10 
Vgl. Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–75). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 76 f.   zurück
11 
Vgl. Sabine Mehlmann: Unzuverlässige Körper. Zur Diskursgeschichte des Konzepts geschlechtlicher Identität. Königstein/Taunus: Helmer 2006.    zurück