IASLonline

Auf der Suche nach dem reaktionären Mann

  • Yahya Elsaghe: Krankheit und Matriarchat. Thomas Manns »Betrogene« im Kontext. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 53) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2010. 224 S. Hardcover. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 978-3110207279.
[1] 

Yahya Elsaghe kennt man schon als Verfasser von zwei bedeutenden Thomas-Mann-Monographien, Die imaginäre Nation (München: Fink 2000) und Thomas Mann und die kleinen Unterschiede (Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2004). Ihre sowohl überzeugende wie auch schonungslose Kritik an Manns literarischer Konstruktion einer kleindeutschen Identität durch die Abwehr all dessen, was diese Identität aus der weißen, männlichen und bürgerlichen Perspektive des Autors zu zerstören bedroht, hat gezeigt, dass Thomas Manns Selbstinterpretationen seiner eigenen Werke und seine öffentlichen politischen Stellungnahmen nicht für bare Münze zu nehmen sind.

[2] 

Man bedenke zum Beispiel die Behauptung Hermann Kurzkes in seiner Mann-Biografie, dass Thomas Mann ohne Frage als Philosemit zu verstehen sei, da er in seinem im Jahre 1907 entstandenen Aufsatz »Die Lösung der Judenfrage« von dem »unentbehrlichen europäischen Kultur-Stimulus, der Judentum heißt« spricht. 1 Dieses Zitat wird von Kurzke angeführt, um der Suche nach als antisemitisch lesbaren Darstellungen in Manns Texten jedwede Legitimation abzusprechen und ihr dadurch ein Ende zu machen. Kurzke zufolge habe es Mann in der Gesellschaft des Kaiserreichs gar nicht nötig gehabt, seinen Antisemitismus so zu verdrängen, wie er etwa seine Homosexualität verdrängt habe.

[3] 

Dass ein literarischer Text Ideologeme beinhalten kann, die dessen Autor in aller Öffentlichkeit abstreitet oder deren er sich sogar gar nicht oder nur halb bewusst ist, wurde und wird manchmal immer noch in der Thomas-Mann-Forschung ignoriert, wenn nicht ausdrücklich abgelehnt. Das Verdienst der beiden oben erwähnten Studien Elsaghes liegt zum Teil darin, neue Lektüren zu ermöglichen, die die Verflechtung literarischer Texte mit den gängigen Diskursen ihrer Zeit nicht außer Acht lassen. Dabei sind Elsaghes akribisch belegte Einsichten gerade deshalb kontrovers, weil seine Schlussfolgerungen dermaßen schonungslos sind. Wenn man Manns Werk tatsächlich nur so interpretierte, wie Elsaghe es tut, dann müsste man als überzeugter Demokrat beziehungsweise Feminist oder Menschenrechtler fragen, warum Mann überhaupt noch gelesen werden sollte – es sei denn, man habe gerade vor, noch einen weiteren Aspekt des Konservatismus dieses Autors zu entlarven.

[4] 

Umkehrung der Geschlechterrollen als Usurpation der männlichen Autorität

[5] 

Bei Krankheit und Matriarchat geht es nicht anders. In diesem Band setzt Elsaghe das Projekt der Entlarvung fort: diesmal mit dem Ziel zu zeigen, dass Mann keinen echten Gesinnungswandel erlebte, der den jungen Monarchisten in einem wahrhaft überzeugten Demokraten transformiert hätte. In der Einleitung betont Elsaghe, dass Die Betrogene Manns letztes literarisches Wort sei: »Von der neuzeitlich-säkularistischen Tradition des letzten Worts her also ›eignet‹ der Betrogenen ›etwas unübersehbar Vermächtnishaftes‹«. (S. 1) 2 Diese Tradition des letzten Wortes wird Elsaghe zufolge auch in der Rede der an Krebs sterbenden Rosalie von Tümmler fortgeschrieben, mit der die Novelle endet.

[6] 

Die Betrogene beinhaltet damit auch eine Umkehrung der Geschlechterrollen, die, so Elsaghe, als weibliche Usurpation männlicher Autorität gelesen werden müsse. Nicht nur werde der junge Amerikaner Ken Keaton, in den Rosalie sich verliebt, »tendenziell in einer Weise auf seine Körperlichkeit reduziert, wie man es sonst eben gerade von der Repräsentation und Prostituierung weiblicher Körper kennt« (S. 14), sondern Rosalie usurpiere die Autorität, die traditionell den Männern vorbehalten sei, indem sie biblische und griechische Mythen anführe, um ihr Begehren zu legitimieren, das heißt das Begehren einer älteren Frau für einen viel jüngeren Mann.

[7] 

Diese Umkehrung der Binärismen ›aktiv / passiv‹, ›beobachten / beobachtet werden‹ und ›begehren / begehrt werden‹ könnte man nun aus moderner feministischer Perspektive durchaus als emanzipatorisch verstehen und dementsprechend positiv bewerten. Dies will Elsaghe aber ausdrücklich nicht, denn die starken Frauen, die nicht nur in der Betrogenen zu finden sind, sondern von denen es im Doktor Faustus geradezu »wimmelt« und die sogar schon in Mario und der Zauberer in den Vordergrund treten, sollen vielmehr als femmes fatales zu verstehen sein, die drohen, die schwachen, lächerlichen männlichen Figuren zu entmannen. Dies erkläre auch die markante Rolle von mythologischen Frauen wie Delila und Salome, geschweige denn der Frauen von Shakespeares Loves Labours Lost, in den musikalisch-literarischen Anspielungen des Faust-Romans.

[8] 

Denn nicht nur in der Betrogenen, sondern im ganzen Spätwerk Thomas Manns sind laut Elsaghe die Thematisierung der weiblichen Macht und die Emanzipation der Frauen aus der rigiden Kontrolle der monarchisch-patriarchalischen Gesellschaft nur die Kehrseite der »Fadenscheinigkeit« einer heroischen Männlichkeit, die als falsch, komisch und leer entlarvt wird.

[9] 

Bei all dem liegt ein wichtiger Verdienst der vorliegenden Studie darin, dass Elsaghe nicht nur die Bedeutung der Geschlechterthematik in der Betrogenen den Lesern vor Augen führt, sondern auch die Vorgeschichte dieser Thematik im Werk Thomas Manns und deren Verflechtung mit tonangebenden literarischen und nichtliterarischen Texten analysiert. Die Ergebnisse sind aufschlussreich.

[10] 

Die (Un-)Möglichkeit emanzipatorischer Lektüren

[11] 

Mit Blick auf das Gesagte stellt sich jedoch die Frage, ob man unbedingt einen literarischen Text, in dem herkömmliche Geschlechterklischees auf den Kopf gestellt werden und die Männlichkeit unterminiert wird, als anti-emanzipatorisch hinsichtlich der Geschlechterrollen lesen muss. Elsaghe bejaht diese Frage, und dazu geht er auf zweierlei Weise vor. Zum einen bietet er eine pyschoanalytische Lektüre an, nach der die Projizierung der Krebskrankheit auf den weiblichen Körper dazu dient, sowohl die Todes- als auch Modernitätsängste des Autors zu verdrängen. Zum anderen behauptet er, Thomas Mann habe Mitte der Zwanziger Jahre mit Johann Jakob Bachofens dreistufiger Geschichtstheorie, derzufolge der Fortschritt der Menschheit an der Überwindung des Hetärismus durch das Matriarchat und wiederum an der Überwindung des Matriarchats durch das Patriarchat zu erkennen ist, genau die Thesen gefunden, die er gebraucht habe, um literarisch mit seinen Ängsten fertig zu werden.

[12] 

In dieser Argumentation wie in Elsaghes Studie insgesamt könnte man die größte Stärke gleichzeitig als eine Schwäche betrachten. Denn Elsaghe geht quellenkritisch und philologisch akribisch vor, um frappierende Ähnlichkeiten zwischen Bachofens Wortwahl, seinen Topoi, seiner Metaphorik und seinen mythologischen Anspielungen und den entsprechenden literarischen Darstellungen in Manns Mario,Doktor Faustus und Betrogener zu entdecken, aber er tut dies auf eine Weise, die keine Lücken mehr lässt und deswegen auch die Möglichkeit subversiverer Lesearten von vornherein ausschließt: seine Methode ist, mit einem Wort, reduktiv. Ein Beispiel:

[13] 

Krebs, als außer Rand und Band geratene Vermehrungswut verstanden, ließ sich, das belegt [Wilhelm] Reichs exakt zeitgleiche Äußerung ohne jeden Zweifelsrest, mit der ›wilden Sumpfvegetation‹ synonymisch oder synekdochal geradezu übersetzen. Er muß für Thomas Mann bequem mit all dem assoziierbar gewesen sein, was Bachofen an Dunklem, ›Düsterem‹ und Weiblich-Bedrohlichem in dieses Vegetationsbild zu fassen versuchte. Assoziierbar war er vor allem eben mit der regellosen Sexualität und Fruchtbarkeit des ›Hetärismus‹. Der Krebs geriet damit zur ›Zivilisationskrankheit‹ in einem ganz anderen als dem Sinn, in dem man ihn heute als eine solche fürchtet. Er konnte als Krankheit einer eigentlich überwundenen, ›weiblichen‹ Zivilisationsstufe erscheinen. Diese mußte dadurch, zusätzlich zu allen gynophoben Schreckbildern, mit den überhaupt stärksten Angstreflexen befrachtet werden. (S. 214) 3

[14] 

Bemerkenswert ist die Art und Weise, wie die Metaphern für Krebs (»Vermehrungswut einer wilden Sumpfvegetation«), die Thomas Mann bei Bachofen angeblich erst entdeckt und bei Wilhelm Reich bestätigt gefunden hat, bei Elsaghe zwangsweise nur einen einzigen Sinn ergeben: »die regellose Sexualität und Fruchtbarkeit des Hetärismus«. Dieser Sinn scheint jedweder dekonstruktiven Analyse gegenüber immun zu sein und gar keine Gemeinsamkeiten zu haben mit dem Sinn, den wir heute dem Krebs als »Zivilisationskrankheit« zuschreiben. Aber was wäre denn der heutige Sinn dieser Bezeichnung – und warum wird er nicht, wenn auch nur andeutungsweise, von Elsaghe explizit erklärt? Kann das daran liegen, dass es doch gewisse Anknüpfungspunkte geben könnte zwischen dem heutigen und dem damaligen Sinn? Könnte es sein, dass im heutigen Sinn der Krebs eine Zivilisationskrankheit gerade deswegen ist, weil er gewissermaßen die Zivilisation selbst ist, die »außer Rand und Band« geraten ist und sich wütend vermehrt mitsamt ihrer krebsartig um sich greifenden Industrie, Fortschrittsbesessenheit, Vergöttlichung der Naturwissenschaften und der Pharmakologie? Und kann es nicht auch sein, dass gerade diese männlich codierten Phänomene der westlichen Gesellschaft auch für Thomas Mann schon »wucherten«?

[15] 

Man sollte nicht vergessen, dass es gerade eine Sumpfvegetation ist, von der Aschenbach träumt, als er den fremden Mann vor dem byzantinischen Bauwerk am Rande des Englischen Gartens erblickt und sich entschließt, nach Venedig zu reisen, wo er sich in einen Knaben verliebt. Thomas Mann zeigt schon spätestens im Tod in Venedig, dass das Begehren nicht unbedingt heterosexuell sein muss und sogar das biologisch Weibliche ausschließen kann, das heißt, dass die Sexualität, die seit Jahrhunderten in der westlichen Tradition als weiblich codiert und durch bedrohliche Frauen symbolisiert wurde, durchaus auch eine Sache der Männer unter sich sein kann. Und dass Thomas Mann durchaus in der Lage war, seine eigenen Begierden auf eine weibliche Gestalt zu projizieren, ist auch nichts Neues. Das aber zeigt doch ganz konkret, dass Thomas Mann mit konventionellen Geschlechtercodes dekonstruktiv umgehen konnte – oder zumindest, dass man seine Texte so lesen kann.

[16] 

Elsaghe hingegen unterstellt Thomas Mann statt einer durchdachten absichtsvollen Verhandlung der Geschlechtermetaphorik nur Angstreflexe, das heißt unreflektierte, spontane Äußerungen. Die Frage ist dann aber, ob man – wenn man Elsaghe darin zustimmte – überhaupt noch von dem Literarischen in Manns Texten sprechen dürfte. Denn schließlich kann die Literatur gerade dadurch definiert werden, dass sie sich über ihre Rohstoffe – Ideologeme, Wunsch- und Schreckbilder – erhebt, dass sie sie neu verhandelt und damit auch verwandelt.

[17] 

Zwar ist Elsaghes Analyse philologisch und quellenkritisch sehr stark abgestützt und daher auch einleuchtend und überzeugend, aber die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, gleichen manchmal pauschalen Verurteilungen, die für sich in Anspruch nehmen, in quasi-naturwissenschaftlicher Art die Wahrheit der Texte isoliert zu haben. Laut Elsaghe sucht man in der Betrogenen »bei genauerer Lektüre vergebens nach [...] Bruch- oder Kippstellen« (S. 314), die von einer Kehrtwendung des Autors weg von seiner undemokratischen Vergangenheit zeugen würden. Stattdessen finde man nur die Nostalgie nach »den Zuständen des deutschen Kaiserreichs« (S. 314). Und dennoch: Einer Lektüre der Betrogenen, die nur das Anti-Emanzipatorische an Manns Texten zu finden vermag, muss man nicht ohne weiteres zustimmen.

[18] 

Krebsangst und Nostalgie

[19] 

Elsaghe analysiert zwei wichtige literarische Intertexte, die man unbedingt kennen muss, um das »Gendering« der Krankheit in der Betrogenen zu verstehen: Theodor Storms »Novella medici« Ein Bekenntnis (1887) und Gottfried Benns Gedicht »Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke« (1912). Gemeinsam haben diese Texte, dass es in beiden »immer ›nur‹ um einen solchen Krebs [geht], den ein ›Mann‹ gar nicht bekommen und der dessen ›Männlichkeit‹ keinesfalls überfordern kann.« (S. 106) Durch diese Reduzierung und Projizierung der Krebskrankheit auf den weiblichen Körper würden die Todesängste der männlichen Autoren verdrängt. »Die Autoren bannen so die Bedrohung durch die in gewissem Sinn neue Krankheit oder versuchen so wenigstens, diese Bedrohung wider je besseres Wissen aus dem Bewußtsein zu drängen.« (S. 106) 4

[20] 

Aber muss man zwangsweise Manns Fortschreibung dieses Krankheits-Gendering als nichts als dies lesen: ein konservatives Fortschreiben ohne jedwede Neuverhandlung, wie Elsaghe es tut? Elsaghes Analyse gibt selbst genügend Beispiele von wichtigen Unterschieden zwischen der Betrogenen und den früheren Texten von Storm und Benn. Während Storms Novelle durch die Thematisierung der Hysterektomie als Heilmittel für Gebärmutterkrebs dazu dient, den Ruf der Mediziner aufzuwerten, wird in der Betrogenen gerade die Unfähigkeit der modernen Medizin gezeigt. Elsaghe aber interpretiert Manns Verachtung der Krankenhausmedizin wiederum im Zusammenhang mit der Kaiserreich-Nostalgie, die er überall im Spätwerk des Autors vertreten sieht, und erklärt damit Manns viel positivere Darstellung des Hausarztes im Vergleich zu den vollkommen unsympathischen, angeberischen und unfähigen Krankenhausmedizinern.

[21] 

Dabei ist Elsaghes Interpretation wiederum aufschlussreich und konsequent. Aber könnte man nicht genauso gut Manns sarkastische Verspottung der modernen Medizin mit einer Kritik der blinden Herrschsucht des männlichen Geistes, die in der Gestalt der positivistischen Naturwissenschaften erscheint, in Verbindung bringen, das heißt einer Wissenschaft, die sich gerade durch ihre Ohnmacht dem Krebs gegenüber als der Macht der wuchernden Natur unterlegen erweist?

[22] 

Versagende weibliche Subversion des Patriarchats?

[23] 

Auch insofern wäre Rosalie dann eine »Betrogene«, maßt sie sich doch an, in ihren Blutungen eine Widerspiegelung der Auferstehung Christi zu sehen. Elsaghe zufolge scheitert jedoch ihr Versuch, die patriarchale Aussage der Genesis 18, in der Sara für ihr Lachen bestraft wird, matriarchalisch umzudeuten: »Jedenfalls ist eine Logik, wie sie sie der Perikope Genesis 18 unterlegt oder unterstellt, in dieser gar nicht gegeben. Und dementsprechend wird dann auch die Deutung, die Rosalie ihrer eigenen ›Heimsuchung‹ ad bonam partem abgewinnt, ›furchtbar‹ widerlegt.« (S. 167) 5

[24] 

Das Argument läuft ungefähr folgenderweise: Thomas Mann entdeckt die mögliche Subversion des Patriarchats in einem vorher oft übersehenen oder sogar unterdrückten Aspekt der Bibelstelle: Saras Lachen als Verspottung der Potenz und Begehrlichkeit des alten Abraham, aber nimmt sofort das Subversionspotenzial durch die Figur Rosalie zurück, deren Anmaßung und Selbsttäuschung eine matriarchalische Leseart als Irrtum entlarvt: »Als Ganzes, so kann ›man‹ zumindest lesen, handelt Genesis 18 davon, wie das ›Patriarchat‹ sich durchsetzt und daß es jeden, auch den letzten weiblichen ›Widerstand‹ bricht«. (S. 168) 6

[25] 

Analog dient Manns Novelle gewissermaßen dazu, den weiblichen Widerstand durch den selbstverschuldeten Tod seiner Protagonistin Anna von Tümmler zu brechen. Wieder stützt Elsaghe sein Argument durch fleißige, ja: brillante philologische Arbeit ab, die zum Beispiel die Archaismen in der Schreibweise von Manns Bibelzitaten dadurch erklärt, dass Mann sich der alten Wittenberger Lutherbibel bedient, in die sein Vater eine Widmung aus dem Buch Tobias geschrieben hatte, einem Buch, das Elsaghe zufolge ausgerechnet »vom Beharrungsvermögen der patriarchalen Familie, von deren Reproduktion auch unter dafür schwierigen Bedingungen« handelt (S. 160). Dass Mann sein Zitat aus Genesis 18 von der Schreibweise der patriarchalisch gewidmeten Familienbibel kontaminieren lässt, soll nicht überraschen, denn Genesis 18 sei geradezu »ein ›textbook example‹ für die mythische Legitimation patriarchaler Herrschaft«. (S. 161)

[26] 

Der undemokratische Mann als echter Mann?

[27] 

Elsaghe glaubt durch die Relektüre von Manns Spätwerks mit Auge auf Bachofen zu beweisen, dass Manns fiktionale Texte von einer nostalgischen Angst vor der Moderne zeugen, die zu den essayistischen Äußerungen des Autors zur Demokratie (vor allem ganz spezifisch zur Weimarer Republik) im krassen Gegensatz stehen. Beteuerten Manns explizit politische Schriften seinen Meinungswandel vom Monarchisten zum Republikaner, so zeugten seine literarischen Texte von einer Angst vor einem »Rückschlag« ins Primitive (wobei Mann tatsächlich diesen Begriff von Bachofen bezogen hat), der mit der Frauenemanzipation und – gleichzeitig – Demokratisierung Deutschlands einhergehe. Die Inversion der Geschlechterrollen, die nicht nur in der Betrogenen von Elsaghe nachgewiesen werden, sondern auch der Faschismuskritik in Mario und der Zauberer zugrunde liegen sollen, muss Elsaghe zufolge als Zerstörung des Vaterrechts und daher als Regression nicht nur ins Mutterrecht, sondern in die früheste bachofensche Kulturstufe, den Hetärismus, verstanden werden, das heißt in eine Kulturstufe, in der wegen vorherrschender Promiskuität die Vaterschaft von vornherein ausgeschlossen ist.

[28] 

Bei diesen Ausführungen überzeugt Elsaghes Argument, dass Thomas Mann nicht nur in der Betrogenen, sondern schon in Mario und der Zauber bei seiner Verhandlung der Geschlechtermetaphorik aus der bachofenschen Quelle mitsamt deren kultur- beziehungsweise gesellschaftsgeschichtlichen Thesen geschöpft hat, durchaus. Etwas weniger überzeugend ist jedoch die Behauptung, dass Thomas Mann bei Bachofen genau diejenigen Belege für seinen antidemokratischen und frauenfeindlichen Kulturpessimismus vorfand, die er dann anscheinend nahtlos in seine literarischen Texte übertrug. Dagegen lässt sich einwenden, dass diese Lektüre das Literarische auf zweierlei reduziert: erstens auf einen psychologischen Mechanismus der Verdrängung beziehungsweise Projektion und zweitens auf eine banale Inszenierung wissenschaftlicher Diskurse.

[29] 

Worin liegt der Sinn?

[30] 

Es liegt auf der Hand, dass diese Art und Weise, die Literatur zu betrachten, dem literarischen Text kein Eigenleben gönnt, sondern immer nur danach sucht, was denn dahinter steckt, nie aber der Frage nachgeht, wie der Text dieses Dahintersteckende verwandelt, es in Frage stellt und dadurch vollkommen neue Rezeptions- und Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Man braucht nicht einmal Elsaghes These abzulehnen, Thomas Mann habe in seinem Spätwerk mithilfe herkömmlicher misogyner Vorstellungen einer un- beziehungsweise amoralischen, wuchernden Natur seine eigenen Krebs- und Kulturängste durchgearbeitet, um die Schlussfolgerungen abzulehnen, die Elsaghe daraus zieht.

[31] 

Denn die Interpretation der Betrogenen, die Elsaghe anbietet, bleibt in einer ziemlich raffinierten Abwandlung der »Intentional Fallacy« stecken: Elsaghe will nicht unbedingt behaupten, Thomas Mann habe mit Absicht eine Erzählung geschrieben, die eine antidemokratische beziehungsweise antifeministische Botschaft kundgibt, aber sehr wohl will er dies als Sinn der Erzählung behaupten – womit eine Interpretationsinstanz privilegiert wird, die die verschiedensten emanzipatorischen Lesarten der letzten Jahrzehnte völlig außer Acht lässt. Durch Elsaghes reduktive Leseart werden die selbstdekonstruierenden Elemente von Thomas Manns Texten, die durch die theoretischen Ansätze von Gender Studies, Queer Theory und anderen poststrukturalistischen Theorien lesbar geworden sind, pauschal beseitigt.

[32] 

Bei all dem geht es nicht nur darum, dass Elsaghe solche Interpretationsalternativen nicht einmal erwähnt, sondern dass er manchmal sogar eine bestimmte textuelle Aussage als endgültige Interpretationsinstanz privilegiert, wo dies gar nicht gerechtfertigt ist. So wird zum Beispiel als Beweis für die Fadenscheinigkeit der modernen Männlichkeit und die Hinfälligkeit des männlichen Heldentums eine Passage angeführt, in der Anna von Tümmler die Besessenheit ihrer Mutter von dem jungen Amerikaner heftig kritisiert:

[33] 
Ausgerechnet der Körper und die Person des so und nicht mehr nach einem General benannten Ken Keaton sind nun, in der endgültigen Konzeption der Handlung, mit einer Kriegsvergangenheit versehen. Und zwar sind sie es ihrerseits wieder in durchaus zweifelhafter Weise. Keaton ist dekoriert, aber doch auch nur ›honorably discharged‹ wie ›jeder, der sich nicht geradezu eine Ehrlosigkeit hat zuschulden kommen lassen‹. Die Medaille des ›Purple heart‹, die ihm routinemäßig (und anachronistischerweise) verliehen worden sein soll, hat also ebensowenig verläßlichen Bedeutungswert wie Zeitbloms ›Kreuz‹. Sie ist in einem allzu wörtlichen Sinn ›Dekoration‹ und tatsächlich nur noch ›dekorativ‹. Sie ist ausdrücklich kein ›Zeichen‹ von wirklichem ›Heldenmut‹ mehr. (S. 47–48)
[34] 

Zwar hat diese Interpretation eine Konsequenz und eine Logik, die wiederum auf vollkommen überzeugender philologischer Arbeit basiert – Elsaghe weist darauf hin, wie Thomas Mann dem ursprünglich nach einem General benannten Amerikaner schließlich den Namen eines berühmten Komikers gegeben hat – aber mit keinem Wort wird erwähnt, dass die Verweigerung im obigen Zitat, Keatons Kriegsvergangenheit jedwede Bedeutung im Sinne seiner Tauglichkeit als Mann und Objekt der weiblichen Begierde zuzuschreiben, keine neutrale Aussage des Erzählers ist, sondern von Rosalies Tochter Anna geäußert und dabei nicht von ihrer Mutter übernommen wird. Rosalie scheint fest daran zu glauben, dass Ken Keaton tatsächlich liebenswürdig und ehrenhaft ist.

[35] 

Überhaupt könnten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Mutter und Tochter angeführt werden, um eine differenzierte Leseart bezüglich der Geschlechterrollen zu ermöglichen, denn Annas Weiblichkeit scheint eine ganze andere als die ihrer Mutter zu sein. Hier wären Interpretationsansätze der Queer Theory and der performativitätstheoretischen Gender Studies in der Tat angebracht, um so die Betonung der Weiblichkeit als Signifikat durch eine ebenso ausführliche Analyse der Weiblichkeit als Signifikant auszugleichen.

[36] 

Schließlich geht es in Thomas Manns Schriften wohl doch nicht immer nur um Frauen beziehungsweise um eine Bewertung der Geschlechter an sich, wenn auf tradierte Metaphern, Topoi oder Motive der Weiblichkeit angespielt wird. Vielmehr geht es immer sowohl um die Konstruktion der Geschlechter als auch um die Gesamtheit der Phänomene, die in der europäischen Tradition immer wieder geschlechtsspezifisch codiert werden, sehr oft in der Gestalt binärer Gegensätze: Materie und Geist, Natur und Kultur, Licht und Dunkel, das Apollinische und das Dionysische, der Fortschritt und der Rückschlag.

[37] 

Und so ließe sich fragen, wo denn in Elsaghes Interpretation das letzte Wort Rosalies bleibt, die ja ihrem Tode zum Trotz sehr wohl eine Verjüngung erfährt – gewissermaßen als eine lebens- und liebesstiftende Illusion. Für Elsaghe scheint dies wieder nur als letzter Usurpationsversuch der sterbenden Frau deutbar, als letzter vergeblicher Widerstandsakt gegen das Patriarchat. Genau das aber muss dahingestellt bleiben, solange nicht die Implikationen dieser Schlussrede analysiert sind. Das gilt umso mehr mit Blick auf die Verbindung zwischen Protagonistin und Autor, die sich in ihren biografischen Ähnlichkeiten widerspiegelt.

[38] 

Denn Rosalie bietet ja gerade eine Projektionsfläche für das Begehren des Autors, ein Begehren, das – wie die Schlussrede zeigt – nicht nur getäuscht, sondern eben auch bejaht wird. Und nicht nur wird das Begehren bejaht, sondern auch seine Verwandlung in Literatur und Mythos. Dass dieses Bejahende der Novelle hinter einer Hypertrophie misogyner Krankheitsmetaphorik unentdeckt verborgen zu bleiben droht, ist eine durchaus reale Gefahr. Elsaghes Studie zeigt dies sehr deutlich.

[39] 

In jedem Fall also sollte man Elsaghes aufschlussreiche Untersuchung der literarischen Geschlechter- und Krankheitsmetaphorik, der pseudowissenschaftlichen Geschlechterdiskurse und deren Verhandlung im literarischen Werk Thomas Manns lesen. Aber ganz sicher sollte man dann auch selbst entscheiden, wie man mit der Mann-Lektüre fortfahren will.

 
 

Anmerkungen

Zitiert nach Hermann Kurzke: Thomas Mann: Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999, S. 210.   zurück
Im Original keine Hervorhebung. Das Zitat entstammt Hans Rudolf Vaget: Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984, S. 303.   zurück
Keine Hervorhebung im Original.   zurück
Hervorhebung im Original.   zurück
Hervorhebung im Original.   zurück
Hervorhebung im Original.   zurück