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conduit d’écriture

  • Martin Roussel: Matrikel. Zur Haltung des Schreibens in Robert Walsers Mikrographie. (Nexus 87) Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld 2009. 517 S. Paperback. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-86109-187-5.
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»Man kann von Robert Walser viel lesen, über ihn aber nichts«, schreibt Walter Benjamin, aber zumindest dieses Urteil darf inzwischen als gründlich überholt gelten. 1 Die letzten Jahre sind von einer Renaissance des Interesses an dem eigenwilligen Schweizer Autor geprägt. Seit 2008 erscheint die von Wolfram Groddeck und Barbara von Reignitz herausgegebene und auf 45 Bände (!) angelegte Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte und stellt die Beschäftigung mit Walser auf ein neues philologisches Fundament. Parallel dazu erschien in den letzten Jahren eine ganze Reihe von relevanten Forschungsbeiträgen, unter anderem die Monographie Robert Walser – Sein Leben in Bildern und Texten von Bernhard Echte.

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Sieht man von gelegentlichen emphatischen Kundgebungen im Feuilleton ab, fokussiert Martin Roussels Monographie einen Teil von Robert Walsers Œuvre, der bisher wenig über die Kernbereiche der Walser-Forschung hinaus bekannt geworden ist: die 526 von Robert Walser überlieferten Mikrogramme – bis auf ein bis drei Millimeter reduzierte, schwer leserliche Vorlagen in der deutschen Kurrent – oder Sütterlinschrift auf Zetteln und Papieren, vom Robert Walser-Archiv in Bern als Konvolut verwahrt. Martin Roussels Interesse an Robert Walsers »Mikrographien« der 1920er Jahre, wie sie auf Grund der verdienstvollen Herausgeberschaft von Bernhard Echte und Werner Morlang seit 2003 neu entziffert als Schrift-Bild-Gefüge vorliegen, deckt sich mit Robert Walsers eigener Vorgabe, wie sie uns als »Bleistiftskizze« von 1926/27 in Brief-Form vorliegt:

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Für mich jedoch hat die Bleistifterei eine Bedeutung. Für den Schreiber dieser Zeilen gab es nämlich einen Zeitpunkt, wo er die Feder schrecklich, fürchterlich haßte, wo er ihrer müde war, wie ich es Ihnen kaum zu schildern imstande bin, wo er ganz dumm wurde, so wie er sich ihrer nur ein bißchen zu bedienen begann, und um sich von diesem Schreibfederüberdruß zu befreien, fing er an, zu bleistifteln, zu zeichnelen, zu gfätterlen. (S. 17)
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Martin Roussels Dissertation ist der Eigenwilligkeit von Robert Walsers mikographischem Schreiben vollkommen angemessen. Seine verspielte, absichtsvoll zerstreut wirkende, in den Fußnoten ausufernde Gelehrsamkeit entfaltende, mitunter nicht immer leicht lesbare Schreibweise ähnelt darin den Miniaturen Walsers selbst. Roussels Studie thematisiert so nicht nur das Problem der Lesbarkeit von Walsers Schrift, sondern wirft auch die Problematik der Lesbarkeit von Schrift ihrerseits auf. Dies ist möglicherweise die redlichste und – für den hartnäckigen Leser – erkenntnisreichste Methode, diese Problematik zu behandeln. Und tatsächlich bietet Roussels Arbeit nicht nur einen literatur- und kulturwissenschaftlich innovativen Zugriff auf ihr Thema. Sie bietet auch eine sowohl für die Walser-Philologie wie auch für die Literalitätsforschung anregende Lehre: Roussel interpretiert Walsers Schreiben – angeregt von Michel Foucaults Konzept der »Technologien des Selbst« – als einen Modus der Selbsttechnik: »Schreiben wird zur Technik, Schrift zum Instrument, um ›Erfahrung‹ [...] in neue Selbstbeschäftigung münden zu lassen« (S. 60).

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Matrikel, Matrize und Ethopoiesis

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In den ersten beiden Kapiteln – mit den Titeln »Revue der Matrikel« und »Matrize« – seiner auf 517 Seiten angelegten Studie entfaltet Roussel einen differenzierten Sprachraum, in dem sich Relationen zwischen den Begriffen wie ›Matrize‹, ›Patrize‹, ›Strich‹, ›Matrikel‹ und ›Ethopoiesis‹ entfalten und als Strukturgesetze hinsichtlich einer Haltung des Schreibens gegeneinander verschieben, ein conduit d’écriture, der von Walser selbst als »Zurückhaltung« qualifiziert wurde; mithin eine »er-schriebene Haltung« (S. 32), wie Roussel feststellt, die als Erkenntnismodus das schreibende Subjekt verändert. Der Akt der »Selbstformung« (Francisco Ortega) vollzieht sich in der »Schrift als Weg« (S. 33) – im Übrigen der ursprüngliche Sinn von methodos –, als ein Schreibweg, der in der Schrift zurückgelegt sein will. Es geht, mit anderen Worten, um Schrift nicht als Mitteilung einer Botschaft oder Nachricht, sondern um das Schreiben als Praxis: »Gibt es Schrift«, fragt Roussel, »deren Ökonomie keinem Diktum, keinem Gesprochensein gehorcht, sondern Ordnungen vollzieht, die dem Subjekt Stimmraum einräumen [...]? « (S. 69). Diese Form des Schreibens als Selbsttechnik nennt Roussel im Anschluss an Foucault Ethopoiesis.

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Damit wird Schrift nicht mehr als neutraler Zeichenträger, sondern als materielle Einschreibungsinstanz und Aufschreibetechnik relevant. »Schreiben scheint mir vom Zeichnen abzustammen«, notiert Robert Walser. Ausgehend von diesem selbsttechnologisch verstandenen Aspekt entwickelt Roussel im Rückgriff auf Jaques Derrida eine eigenwillige »Ästhetik des Strichs« (S. 71 ff.), die den Vorgang des Schreibens, Verschriftlichens und Verzeichnens hinsichtlich seiner medialen und materialen Überschreitungsdimensionen befragt. Die Spur, die Linie, der Strich, der Schriftzug umschreiben die opaken Übergangszonen zwischen Schrift, Zeichen und Zeichnung. Der Konzeptbegriff des Strichs ist als Schwellenfunktion lesbar, deren Ableitungen sich als Differenz zwischen Schrift, Zeichnung und Malerei ausdrücken und Roussels eigentümlichen Schriftbegriff bedingen: »die Sichtbarkeit des Strichs als Lesbarkeit (Präsentation der Präsentation); der Strich als Zug der Schrift (Repräsentation der Repräsentation); Schrift im Herrschaftsbereich der Zeichnung (Präsentation der Repräsentation)« (S. 93).

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Robert Walser und seine Zeitgenossen

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Das anschließende Unterkapitel »Verzeichnungen der Walser-Forschung« thematisiert, auf den ersten Blick, so etwas wie die »Rezeption« des Walserschen Schriftkonzepts bei seinen Zeitgenossen, insbesondere bei Walter Benjamin und Robert Musil. Tatsächlich jedoch geschieht hier mehr, nämlich die Kontextualisierung des Konzepts des Schreibens als Selbsttechnik im Diskursraum seiner Zeit. Wechselseitige Verweisungen eröffnen Diskursräume, wie etwa die »Kulturfigur einer ›Entdeckung der Kindheit‹«(S. 166) durch Benjamin. Auch gestische Ähnlichkeiten von Schriftbildlichkeit und Apologien auf das Hand-Werk der Verschriftlichung weisen in eine gemeinsame Richtung.

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Benjamins Äußerung über die Figuren Walsers, sie seien »alle geheilt« (S. 168), verweist auf den Aspekt der »Gesundung« (S. 181) im mikrographischen Signifikantenspiel, das im Modus »fingierter Mündlichkeit« (Thorsten Fitzon) für die Lebendigkeit und Anschaulichkeit des Gedankens dichterischer Inspiration einsteht. Die in dieser Haltung des Schriftverzeichnens eingeschriebene »Gesundheitslehre« gibt den Blick frei für Roussels eigentümliches Verständnis von »Matrikel«, wie in Kapitel 6 »Robert Walsers Gesundheitslehre (Relektüre)« vollends durchsichtig wird.

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Mikrographien als Schrift und Gesundheitslehre

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Zuvor aber das 170 Seiten starke Großkapitel »Form-Vorlage: Mikrographie als Schrift«, das allein schon vom Gehalt für eine eigene Dissertation genügen würde. Im Zugriff auf eine Fülle von Schriftzeugnissen Walsers werden dessen Schreibzüge in Roussels Matrikel eingelagert: »die Matrikel ist eine Abschrift, deren Formgebung die Mikrographie als Vorlage erfasst« (S. 221). Die Matrikel bietet in verschiedenen Schichtungen subtile Modellierungen des mikrographischen Wirkungsprinzips, zum einen auf der Ebene einer mit Derrida gelesenen »Wahrheit der Malerei in der Schrift« (S. 224). Zum zweiten weisen die sprechenden Titel der Unterkapitel dieses Abschnitts auf die in der Schriftbildlichkeit angelegten Figuren der stimmhaften Klanglichkeit beziehungsweise Klangbildlichkeit hin, so zum Beispiel »Schriftenreihe: leiser Regen« (S. 273 ff.) oder »Die zitternden Blätter« (S. 311). Roussel verfolgt auf unterschiedlichen semiotischen Lektüreebenen den unterschiedlichen Repräsentationslogiken und »Voten des Papiers« (S. 338), wie sie dem Leser auch in Form fototechnischer Vorlagen und Auszügen aus den Mikrogrammen im Bande geboten werden.

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Kapitel 6 greift Robert Walsers Gesundheitslehre auf, verknüpft den Begriff der »Ethopoiesis« (Foucault) nochmals variierend mit einer bei Georges Canguilhems beschriebenen »Wahrheit des Körpers« (S. 400) und zieht die »schriftlogischen Konsequenzen aus der Gesundheitslehre« (S. 404). Walsers in den Mikrogrammen aufgeschriebenes Bekenntnis zur leisen bis stillen Gebärde verquickt Roussel mit Überlegungen Giorgio Agambens zur »vorhöllischen«, schmerzbefreiten Existenzform im limbus puerorum (S. 408 f.).

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Taxinomien der Schrift

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Der Exodus aus der mikrographischen »Schreibwüste« erfolgt in Kapitel 9, »Auszug«. Eines der Leitmotive der Walserschen Mikrographie –»Schreiben, Schriftstellern scheint mir vom Zeichnen abzustammen« – wird für die Lektüre von Max Ernsts »Maximiliana« fruchtbar gemacht. Roussel erstellt schließlich so etwas wie eine Taxinomie der Konkretionen von Schrift: »Mikrographie (Ursprünglichkeit), Autographie (Natürlichkeit), Typo-Graphie (Künstlichkeit), Mikrographie (Kunstfertigkeit) und ›Micrographia‹ (Wissenschaftlichkeit)« (S. 446), die er an Beispielen wie Max Ernst, Annette von Droste-Hülshoff, Mallarmé oder Robert Hooke veranschaulicht.

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Der Mühe entspricht der Lohn

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Martin Roussels Dissertation stellt ein außerordentliches Zeugnis der aktuellen Robert Walser-Forschung dar, das von philologischen Ausgangsfragen die Brücke schlägt zu kulturwissenschaftlichen Analysen, die bis weit ins Feld der Philosophie tragen. Nicht zuletzt das aufwendig ausformulierte Register eröffnet die Möglichkeit zu individuellen Lektüren und Suchanstrengungen im »Blätterwald« des Walserschen wie des Rousselschen Werkes. Im Übrigen ist das Buch mit typographischer Präzision gestaltet.

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Es mag künftige Leser interessieren, was die Literaturgeschichte, jenseits werkgenetischer und genealogischer Erforschungen, in Erfahrung gebracht hat über die biographische Situation und den lebensgeschichtlich formierten Korpus: Wie war es um die ursprüngliche Lage des Individuums in seiner Familie bestellt, wie hat sie seine Symbolisierungsanstrengungen begleitet – von Anbeginn bis hin zu der um sich greifenden seelischen Erkrankung, die Walser zum Rückzug in die »Heilanstalt Waldau oder Herisau« veranlasste (S. 161)? Das sind Fragen, denen sich die Literaturwissenschaft, sieht man vom bloßen Biographismus ab, bei aller Hinwendung zu Schriftkörpern und Materialitäten der Schrift, bis auf den heutigen Tag verschließt. Doch ist es erst die sich in Schriftlichkeit ereignende und abspaltende »Revolte des Körpers« (Alice Miller), die dem Autor die Maxime des ›late biosas‹, des zurückhaltenden Lebens in der Mikro-Logik aufnötigten. Solche Verflechtungen, Leben-Werk-Konstellationen und Schreibhaltungen, wie sie sich in »Schriften des Gefühls« (S. 132) aufdrängen, sind offenbar weiterhin nur selten der Rede wert. Sie sind zu geringfügig und gebieten Einfühlung in den Gegenstand. Ausgangspunkt für weitere Lektüreanstrengungen wäre im Sinne Roussels gewiss der Konzeptbegriff der Ethologie.

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Es ist das Verdienst dieser nun vorliegenden Mikropaedeia, Licht in die verschneit-flimmernden Schreiblandschaften der Mikrographien geworfen zu haben, die auch als Sprachzeichen des (überschriebenen) Gefühls, eines eher flüsternden Pathos von schreibtherapeutischen Unternehmungen Lesbarkeit beanspruchen können (vgl. zum »Flüstern der Blätter« als Grundbestand von Walsers Ethologie Kap. 7).

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Fazit

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Kritisch angemerkt sei – wie bereits angedeutet –, dass Roussels Arbeit nicht immer leicht lesbar ist. Das liegt an einem verspielten Umgang mit Sprache, der ganz offenbar Adornos Kritik an der verdinglichenden Tendenz der eilfertigen Forderung nach »Klarheit« einiges verdankt. Das liegt aber auch an der stupenden Quellenkenntnis, die sich in den Fußnoten entfaltet. Diese Fülle an Querverweisen bietet einerseits die Möglichkeit für fundamentale Einsichten in Subdiskurse, andererseits bedroht die exzessive Verweisungsfülle den Lesefluss. Auf eine gewisse Weise absichtsvoll zerstreut wirkt auch der Aufbau der Arbeit insgesamt: Es wird nicht linear eine These entfaltet und ›bewiesen‹, sondern das Feld des Schreibens als Selbsttechnik in Walsers Mikrographien wird anhand einer Reihe von Begriffen und Lektüren mehrdimensional entfaltet. Der Leser wird sich – spielerisch oder mühsam – einen eigenen Weg durch diesen Text bahnen müssen; er wird dabei allerdings jederzeit zu dem Urteil kommen können: »Das ist lesenswert« (S. 156).

 
 

Anmerkungen

Benjamin, Walter: Robert Walser. In: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, S. 349.   zurück