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Rezeptionsgeschichten

  • Patricia Czezior: Der Leser und die Hinterfragung seiner Rolle in E.T.A. Hoffmanns Kater Murr und Karl Immermanns Münchhausen. Eine Analyse im Rahmen des Kommunikations­modells Autor - Text - Leser. (Studien Deutsch 38) München: IUDICIUM 2008. 224 S. Kartoniert. EUR (D) 23,00.
    ISBN: 978-3-89129-149-8.
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Die akribische Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte der beiden hier vorgestellten Werke, Lebens-Ansichten des Kater Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern (1819/1821) und Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken (1838/1839) offenbart recht deutlich, dass es sich tatsächlich lohnt, zu diesen auf den ersten Blick nichts gemein habenden Romanen und Autoren des 19. Jahrhunderts eine ausführliche Vergleichsstudie in Angriff zu nehmen. Dies gilt umso mehr, wenn man die Parallelen wie Patricia Czezior vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Lesekultur und der rasanten Entwicklung des Literaturbetriebs dieser Epoche abbildet. Auch wenn die hier bearbeiteten Werke traditionell unterschiedlichen literarischen Strömungen zugeordnet werden – Kater Murr (Spätromantik) versus Münchhausen (Biedermeier) – entstehen sie beide vor dem gleichen sozio-historischen Hintergrund, nämlich der Restaurationszeit, die durch den Wandel gesellschaftlicher Strukturen geprägt ist. Im nachnapoleonischen und frühindustriellen Deutschland gewinnt das Bürgertum an Bedeutung, und Bildung wird für breitere Schichten der Bevölkerung zugänglich. Dies schlägt sich eben auch unweigerlich in den Lesegewohnheiten und im Lesepublikum nieder, das nicht mehr dasselbe ist wie noch wenige Jahrzehnte zuvor. Die Kommunikation des Autors mit seinen Lesern wandelt sich beziehungsweise bricht ab, da der Kreis der Bücherkonsumenten unübersichtlich geworden ist, eben nicht mehr elitär und klar eingrenzbar. Aber auch der Autor tritt in dieser Situation zurück, fällt unweigerlich in die Anonymität eines Produzenten von Lesestoff, da der Leser jeglichen Bezug zu ihm verliert. In dieser für beide Seiten neuen Konstellation müssen Autor und Leser sich wieder aneinander annähern, was sich unter anderem in veränderten Leserapostrophen wie der »geliebte Leser«, der »geneigte Leser« (Hoffmann) oder der »tüchtige Leser« (Immermann) niederschlägt.

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Die Rezeptionsgeschichte des Kater Murr und des Münchhausen zeigt indes, dass bei diesen beiden Werke die Kommunikation zwischen Autor und Leser weitgehend nicht gelungen ist, womöglich nicht ganz überraschend und vielleicht auch nicht ganz unbeabsichtigt, denn die Thematisierung einer dysfunktionalen Kommunikation zieht sich wie ein roter Faden durch beide Bücher. Hinzu kommt die komplexe Struktur, der auch als »Doppelromane« charakterisierten Werke, 1 die im Laufe ihrer Geschichte oft nur als Einzelteile oder in reduzierter Form publiziert wurden, was natürlich eine ganz anders geartete Rezeption zu Folge hatte. Gerade die kritische Darstellung von Autor und Leser im damaligen Literaturbetrieb, mitunter mit Hilfe von satirischer Verzerrung der einzelnen an der Buchproduktion beteiligten Instanzen, kam bei einer gekürzten Fassung nicht mehr entsprechend zur Geltung.

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Erzählerstimmen

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Das mit Jonathan Culler 2 beschriebene Konzept der ›Metafiktionalität‹, also die Thematisierung des literarischen work in progress durch den Autor, wird bei Hoffmann noch komplexer, indem er die Rolle des Erzählers auf drei schriftstellerisch tätige Erzählerstimmen verteilt, nämlich den Herausgeber, den Kater und Kreisler, alle mit ihren je eigenen Charakteristiken und Problemen. Dabei wird einerseits das Modell des traditionellen Autors beziehungsweise des Erzählers in Frage gestellt und andererseits die gestörte Kommunikationssituation zwischen dem Verfasser des literarischen Werkes und seiner Leserschaft aufgezeigt. Hierbei wird nicht nur satirisch überhöht, indem im ersten Teil ein Kater der Schriftsteller ist, sondern dieser ist auch noch einer unerschütterlichen Hybris erlegen (er vergleicht sich mit Calderon, Shakespeare, Goethe und Schiller) und kümmert sich nicht um den Rezipienten, da er seine dichterische Tätigkeit unabhängig vom Ergebnis für uneingeschränkt genial hält, so dass es nur die Schuld des Lesers sein kann, wenn dieser ihn nicht versteht. Dabei plagen den schreibenden Kater ganz banale Probleme, wie beispielsweise die richtige Handhabung von Feder und Tintenfass angesichts der dafür wenig geeigneten Pfoten, mitnichten aber ein für Autoren typischer horror vacui oder gar Selbstzweifel.

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Exemplarisch scheint Hoffmann hier der Ära des Geniegedankens den Untergang zu erklären. Mit der Kritik am Selbstverständnis des Autors wird gleichzeitig auch das Selbstverständnis des Lesers Gegenstand der Satire. Vor der selbstherrlich-brüchigen Inszenierung eines sich literarisch genial gebärdenden Katers als allmächtiger Autorenfigur entsteht als Negativ das Bild eines kritiklos zum Erzähler aufschauenden Publikums – eine bepelzte und vierpfotige Karikatur der in der klassischen und nachklassischen Periode erwünschten (halb)gebildeten Leserschaft. (S. 134)
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Im zweiten Teil des Doppelromans, der, wie von Czezior anschaulich in einer statistischen Verteilung der Erzählerstimmen aufgezeigt wird (Anhang), nicht materiell vom ersten getrennt ist, sondern mit diesem alternierend verschränkt, dominiert als Erzählerstimme der Kreislerbiograf. Dieser operiert jedoch nicht erwartungsgemäß als olympischer Erzähler, der souverän sein Lesepublikum mit strukturierter Information bedenkt, sondern als überforderter Kompilator, der zugeben muss, dass er zum einen über ein unzureichendes Quellenmaterial verfügt und zum anderen mit einem schwachen Erinnerungsvermögen zu kämpfen hat. Er versucht dies mit entsprechenden Leserapostrophen zu kompensieren, indem er dem »geliebten Leser« verspricht, Details über die Entstehungsgeschichte des Werkes zu offenbaren, was er aber nicht einhalten kann. Obwohl der Kreislerbiograph als heterodiegetischer Erzähler agiert (interne Analepse), 3 also nicht direkt in die Erzählung involviert ist, mangelt es ihm an Überlegenheit, es scheint eher so, als ob das Ordnen der Fakten und deren Niederschrift ihn völlig aus der Bahn werfen, wobei die Leseranreden nicht mehr als Rückversicherungssignale in der Kommunikation mit dem Leser dienen, sondern als bloße Floskeln, womöglich um sich selbst bei der Arbeit zu ermutigen. Das Lesepublikum an sich wird dabei nicht mehr miteinbezogen.

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Der Herausgeber schließlich als dritte Erzählerstimme, die eher selten in Erscheinung tritt, versucht mit Hilfe von Ergänzungen und Kommentaren scheinbar den Text für den Leser zu optimieren. Dabei geraten seine Eingriffe jedoch zum Irritationsmoment für den Rezipienten, da er als übergeordneter, auktorialer Erzähler nicht nur »Leerstellen« der beiden anderen Textproduzenten auffüllt, sondern diese in ihrem Vorgehen auch kritisiert und mitunter als unfähig hinstellt. Das Lesepublikum wird von dem Herausgeber zwar mitgedacht, allerdings nicht als paritäres Pendant zu einem Autor, sondern als ein ungnädiges, kritisches und prinzipiell zu Vorwürfen neigendes, welches es in vorauseilendem Gehorsam zu besänftigen gilt.

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Es ist also festzuhalten, dass in Hoffmanns Kater Murr alle drei Erzählinstanzen Brüche aufweisen und ihre traditionelle Rolle nicht erfüllen können und damit auch eine gestörte Kommunikation zu ihrem potenziellen Lesepublikum besteht:

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Zunächst ist zu konstatieren, daß weder Kater noch Biograph noch Herausgeber den mit ihrer Rolle verbundenen Erwartungen gerecht werden, d.h. das von ihnen anzitierte Text- bzw. Kommunikationsmodell wird nicht erfüllt. Der Ich-Erzähler Murr vermag sich von seinem erlebenden Ich nicht ausreichend zu distanzieren, um einen Bildungsroman von überlegener, belehrender Warte aus zu schreiben, der anonym bleibende Biograph kein überzeugendes Lebensporträt der von ihm als Beschreibungsobjekt erwählten Person herauszuarbeiten und dem Herausgeber schließlich gelingt es nicht, die einzelnen Bruchstücke der histoire ›zum Besten‹ des Publikums zu arrangieren. (S. 150)
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Literaturbetrieb

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Hoffmann, der in dieser intradiegetischen Kommunikationssituation den aktuellen Literaturbetrieb und seine Veränderungen karikiert, nimmt auch als realer Autor bewusst in Kauf, dass seine realen Leser die Satire nicht verstehen, den Text und seine Funktion nicht entschlüsseln können.

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Bei Immermanns Münchhausen, der als »Doppelroman« scheinbar in einen Oberhof-Teil und einen Münchausen-Teil zerfällt, wird ebenfalls das gebrochene Verhältnis von Autor und Leser thematisiert, wenn auch in anderer Aufarbeitung.

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Hier tritt nun eine Instanz des Literaturbetriebs in Erscheinung, die ansonsten nur im Hintergrund agiert und über dessen Funktion der Leser in der Regel nicht in Kenntnis gesetzt wird, nämlich der Buchbinder. Dieser wird bei Immermann zu einer seine eigentlichen Kompetenzen bei weitem überschreitenden Kraft, die aktiv in den Entstehungsprozess des Buches eingreift. Er ordnet aus Gründen des Zeitgeschmackes das Werk in einer anderen Reihenfolge (der Roman beginnt mit dem elften Kapitel) und übernimmt Funktionen des Herausgebers, der sich buchstäblich das Heft aus der Hand nehmen lässt. Der Buchbinder sieht den Leser ganz pragmatisch als Konsumenten, den es zu befriedigen gilt, andererseits das Buch als Produkt, das verkauft werden soll.

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Die kommunikative Triade ›Autor‹, ›Text‹ und ›Leser‹ entfernt sich in den Ausführungen des Buchbinders so weit als nur irgend denkbar von der Idee der aufeinander abgestimmten Übertragung einer Botschaft, bei der der Autor die Möglichkeit eines konkreten Lesers in seine Überlegungen miteinbezieht. Vielmehr gerät die Leserschaft zu einer anonymen Masse, auf deren Bedürfnisse der Autor nur insofern eingeht, daß er ihr oberflächliches Interesse für sein Produkt, das Buch, erregt. (S. 160)
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Die scheinbar rahmenstiftende Funktion des Buchbinders, der über den Erzählinstanzen des Münchhausen-Teils und des Oberhof-Teils steht, gelingt jedoch nicht wirklich, denn die intratextuellen Verknüpfungen und Verweise zwischen den beiden so narrativ unterschiedlichen Partien des Buches sind zu dürftig, als dass der Leser dies ohne weiteres erkennen könnte (zum Beispiel erscheinen Lisbeth und der Schulmeister Agesel in der Welt des Oberhofs). Die Verwirrung wird dadurch gesteigert, dass die Münchhausen-Erzählung in medias res anhebt und der Leser relativ direkt mit den inkohärenten und arabesken Lügengeschichten des Münchhausen konfrontiert wird, einer intradiegetischen Erzählsituation also, die literarisch überhöht wird, indem dieser sich als Abkömmling des berühmten Lügenbarons zu erkennen gibt. Vor dem Hintergrund einer zur Karikatur geratenen Salongesellschaft findet ein hochgradig gestörter Kommunikationsprozess statt, bei dem ein fabulierender Münchhausen gegen jedwede Kommunikationsmaxime verstößt und ein ohnehin schon unwilliges Publikum, das nur auf sich selbst referiert, noch verwirrter zurücklässt.

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Die Erzählinstanz des Oberhof-Teils ist wie auch die des ersten Teils defizitär angelegt, und zwar dahingehend, dass sie ganz »unauktorial« den Leser zu Mitarbeit auffordert, da einige Informationen scheinbar fehlen. Die Tatsache, dass erst ganz am Ende des Gesamtwerkes klar wird, dass die Erzählerstimmen beider Teile womöglich eine sind, sorgt für noch mehr Diskrepanz zum Leser, der der natürlichen Versuchung erliegt, sich an den überordnenden Instanzen zu orientieren, die ihn aber nicht nur durch die Erzählungen führen, sondern immer wieder vor den Kopf stoßen.

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Ein weiterer Kunstgriff Immermanns, um die traditionelle Rolle Produzent (Autor) und Rezipient (Leser) aufzulösen, ist sein Spiel mit den Paratexten. 4 So setzt er Kapitelüberschriften mitunter nicht zur Leserorientierung ein, sondern um Informationen vorzuenthalten.

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Die satirische Verzerrung des Literaturbetriebs und der daran Beteiligten gipfelt nicht zuletzt in der Erwähnung des schreibenden Immermann selbst; das Lesepublikum wird dabei nicht nur verunsichert, sondern zum Teil auch despektierlich behandelt:

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Die spärlichen Leseranreden, die mit wenigen Ausnahmen auch nur in der dritten Person gehalten sind, finden ihr Ende mit dem Auftritt des ›Schriftstellers Immermann‹, der die ohnehin unsichere Position der Erzählinstanz noch mehr zu untergraben scheint. Schon zuvor widersprüchlich und sich durch den Briefwechsel mit dem Buchbinder gleichsam selbst in seiner Existenzberechtigung ironisierend, verliert der Erzähler nun zunehmend an Kontur. In Relation dazu finden sich kaum mehr Anhaltspunkte des Lesers im Text. Wo es nicht mehr möglich ist, durch Setzung des ›Ich‹ einen Ausgangspunkt der Narration zu markieren, verschwindet auch das ›Du‹ des Zielpunktes. (S. 198)
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Fazit

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In der vorliegenden Studie zeigt Czezior deutlich, wo die Parallelen bezüglich der Autor-Text-Leser-Struktur bei diesen Werken von Hofmann und Immermann liegen. Die Auflösung der traditionellen Gewichtung der an der Buchproduktion Beteiligten und deren satirische Infragestellung als Reaktion auf einen veränderten Literaturbetrieb erscheinen bei beiden Autoren als ein Grundprinzip, wenn auch in unterschiedlicher Umsetzung. Die Rezeptionsgeschichte von Kater Murr und Münchhausen zeigt indes unzweifelhaft, dass weder die unterschwellige Kritik noch der komplexe und vielschichtige Aufbau der Romane von der Mehrheit der Zeitgenossen verstanden wurden, sondern ironischerweise genau das eingetreten ist, was den potenziellen Rezipienten unterstellt wurde, nämlich eine Reduktion auf kommensurable Unterhaltungsliteratur (Immermann: Idylle des Oberhofs) oder auf eine stilisierte Künstler-Biografie (Hoffmann: Kreisler-Teil).

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Bei der äußerst sorgfältigen Textarbeit, durch die zahlreiche interessante und wichtige Vergleichsmomente herauspräpariert werden konnten, ist der Untersuchung von Czezior kaum Kritik zuzumessen, doch wäre ab und an eine tiefgreifendere theoretische Verankerung der Phänomene wünschenswert gewesen. 5 Dies gilt sowohl für das satirische Moment, das beiden Werken zugrundegelegt wird, als auch für die angeführten Kommunikations- und Erzählmodelle. Auch eine kursorische Diskussion zur Situierung der Schriftsteller Immermann und Hoffmann in den jeweiligen literarischen Epochen, insbesondere in Bezug auf die ausgewählten Schriften, wäre wohl nicht fehl am Platze gewesen, da man vor diesem Hintergrund sicher noch einmal den dargestellten Kontrast hätte beleuchten können. Diese Anregungen dürften den zweifellosen Verdienst der auch sprachlich gelungenen Vergleichsstudie jedoch kaum schmälern.

 
 

Anmerkungen

Peter Hasubek: »Ein Lieblingsbuch des deutschen Volkes«. Immermanns »Münchhausen« und der »Oberhof«. 150 Jahre Editions- und Rezeptionsgeschichte. (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen 13) Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 10.   zurück
Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart: Reclam 2002, S. 128.   zurück
Zu den verschiedenen diegetischen Erzählebenen siehe Gérard Genette: Die Erzählung (UTB 8083). München: Fink ³2010, S. 28, 147–150.   zurück
Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 281–285.   zurück
So wird beispielsweise bezüglich der Narrationsebenen weitgehend undiskutiert das Drei-Ebenen-Modell von Genette übernommen (récit, histoire, narration), während bei der Erzählperspektive eher auf die klassische Typologie von Stanzl rekurriert wird, ebenfalls ohne Alternativen abzuwägen beziehungsweise ohne diese Inkohärenz zu begründen. Zu einer diesbezüglichen Diskussion verschiedener theoretischer Ansätze siehe zum Beispiel Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin, New York: de Gruyter ²2008, S.115–128, 248–254.   zurück