IASLonline

Drei Sonnen im Universum der Kunst

  • Günter Figal: Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2010. XII, 304 S. Broschiert. EUR (D) 34,00.
    ISBN: 978-3-16-150515-7.
[1] 

Kunstwerke sind Erscheinungsdinge

[2] 

Günter Figal wirft in seiner Monografie Erscheinungsdinge die Frage nach dem Wesen der Kunst auf und versucht auf dem Wege der Phänomenologie eine Antwort zu finden, die ihrem Anspruch nach zu einer ebenso systematischen wie umfassenden Gesamtkonzeption führen soll. Die Begrifflichkeit, welche anhand von konkreten Phänomenanalysen entwickelt wird, verbleibt dabei keineswegs im kunstphilosophischen Elfenbeinturm, sondern ist aufgrund ihrer Erfahrungsnähe in weiten Teilen auch geeignet, wertvolle Anregungen für die Interpretationen einzelner Werke, künstlerischer Strömungen oder Epochen anzubieten.

[3] 

Um dies zu verdeutlichen, sei vorwegnehmend bereits auf das Kernstück der Untersuchung – die drei Erscheinungsformen des Kunstschönen: das Bildliche, das Musikalische und das Dichterische – hingewiesen: Nach Figals Ausführungen wäre z. B. die keineswegs seltene Rede von der Musikalität eines literarischen Textes nicht einfach bestenfalls metaphorisch und schlimmstenfalls verwirrend, weil sie unzulässigerweise die Grenzen zwischen den Kunstgattungen verwischt. Vielmehr gibt seine Untersuchung solchen Äußerungen ein solides phänomenologisches Fundament, von dem aus Figal zeigen will, inwiefern ausnahmslos jedes Kunstwerk – ob es sich nun um Literatur, Musik, Malerei, Skulptur oder Architektur handelt – bildlich, musikalisch und dichterisch erfahren werden kann und warum ästhetische Erfahrungen sich auch nur in diesen drei Formen vollziehen. Figals Ausdifferenzierung der genannten drei Erscheinungsformen des Kunstschönen führt jedoch, wie gegen Ende dieser Rezension erörtert werden soll, zu einer hermeneutischen Verzerrung des Dichterischen, die es fraglich werden lässt, ob sich im Licht dieser Erscheinungsform wirklich anschaulich Schönes oder nicht vielmehr nur hermeneutisch Sinnhaftes präsentieren kann.

[4] 

Für seine Kunsttheorie wählt Figal das Verfahren der Phänomenologie, weil diese – und hierbei stößt man schon auf eine der zentralen Thesen des Textes – mit dem Thema der Kunst in einer innigen Verwandtschaftsbeziehung steht. Für die Fragen der Ästhetik sei die Phänomenologie gerade deshalb zuständig, weil ein Kunstwerk wesentlich als Erscheinung auftaucht: Kunstwerke werden nicht wie andere Dinge benutzt, bearbeitet, verändert oder konsumiert, sondern sind ausschließlich für das Erscheinen gemacht. Als genuine Phänomene, die eben nicht einfach nur obendrein und außerdem, sondern ihrem Wesen nach erscheinen, lassen sie sich als Erscheinungsdinge charakterisieren (S. 4). Für die Philosophie der Kunst bedeutet dies, wie Figal hervorhebt, dass sie gar nicht anders kann, als eben phänomenologisch vorzugehen. Wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will, muss sie ihren Ausgang also von konkreten Kunsterfahrungen nehmen und alle ihre theoretischen Einsichten in der Auseinandersetzung mit einer solchen Erfahrungsgrundlage entwickeln (vgl. S. 18 f.). Eine Bestimmung dessen, was die schöne Kunst ist und auf welche unterschiedliche Weise sie erscheint, ergibt sich infolgedessen aus der Reflexion auf die ästhetische Erfahrung von Kunstwerken.

[5] 

Es ist jedoch nicht nur so, dass die Ästhetik aus innerer Konsequenz zur Phänomenologie wird, weil ihre Objekte ihrem Wesen nach Erscheinungsdinge sind. Wenn jede Ästhetik Phänomenologie sein muss, so gilt auch umgekehrt, dass jede Phänomenologie ihre Wurzeln in der Ästhetik hat – und zwar selbst dann, wenn sie sich gar nicht mit Fragen der Kunst und des Schönen auseinandersetzt. Die Kunst stellt nach Figal das »Vorbild der phänomenologischen Forschung« (S. 89) dar, weil sie Dinge präsentiert, die reine Erscheinungen sind, und den Betrachter in eine Einstellung versetzt, die jener der phänomenologischen Reduktion gleicht. Während die Phänomenologie ihre Gegenstände so wie Kunst behandelt, lässt sich Figal zufolge umgekehrt von der Kunst auch sagen, dass sie bereits Erkenntnisse vermittelt – auch wenn ihr das sowohl von Kant als dem Vordenker der Ästhetik als auch von Husserl als dem Vordenker der Phänomenologie abgesprochen wird. (S. 90)

[6] 

Kunstwerke sind schön

[7] 

Figal betont, dass die philosophische Betrachtung den Kunstcharakter eines individuellen Werks erst einmal voraussetzen muss, um ihn dann anschließend in seinen wesentlichen Bestimmungen zu ergründen. Woher weiß ich aber vorab, an welches Objekt ich mich für diese Aufgabe wenden muss? Die Kunstphilosophie kommt, wie eingeräumt wird, an diesem Zirkel gar nicht vorbei, aber es handelt sich keineswegs um einen circulus vitiosus, sondern um ein Beispiel für einen hermeneutischen Zirkel: Der Verstehensprozess hebt mit einem noch vagen Vorwissen an, welches in einem zirkulären Fortgang vom Ganzen zum Detail zurück zum Ganzen usw. korrigiert und weiterentwickelt wird. Hinsichtlich des Kunstcharakters ist Figal darum außerordentlich optimistisch, denn nach ihm genügt es, sich »wirklich« der Erfahrung zu öffnen, um zu wissen, warum es sich eben genau bei diesem Objekt um ein Kunstwerk handelt:

[8] 
In der Erfahrung eines Kunstwerks weiß man, daß dieses ein Kunstwerk ist. Man weiß es, wenn man das Kunstwerk wirklich erfährt, statt es durch Vorurteile, Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit oder Verweigerung von sich weg zu halten. In der Erfahrung schließt der Kunstcharakter eines Kunstwerks sich wie von selbst auf. (S. 31)
[9] 

Überlässt man sich dieser Erfahrung, so löst sich das Problem des Kunstcharakters in Wohlgefallen auf: Ein Objekt ist künstlerisch gemacht, und deswegen ist es kunstvoll, wobei sich das Kunstvolle gerade in seiner Schönheit zeigt. Im Vordergrund steht die Aufgabe zu zeigen, warum die Kunstphilosophie auf den Begriff der Schönheit nicht verzichten kann; man erfährt jedoch nicht allzu viel darüber, wann ein Kunstwerk schön genannt werden kann. Ebenso wie Figal weder die Frage nach dem Wesen der Kunst noch das vorbehaltlose Festhalten an der Werkkategorie für antiquiert hält, ist er nach dem Vorbild Kants auch gleichermaßen nach wie vor vom Monopol des Schönen im Bereich der Ästhetik überzeugt: »die ästhetische Erfahrung der Kunst ist die Erfahrung ihrer Schönheit«. (S. 50) An dieser Stelle würde ein zeitgenössischer Ästhetiker wie Konrad Paul Liessmann jedoch Einspruch erheben, weil für ihn die Konzentration auf das Schöne gerade die Vielfalt der ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten in Kunst und Alltag verdeckt. Wer ästhetische Erfahrungen macht, der hat, wie Liessmann betont, häufig weitaus schlichtere und unspektakulärere Gefühle. Was er erfährt, ist dann gar nichts Schönes oder Erhabenes, sondern eher etwas Reizendes, Rührendes, Spannendes, Anmutiges oder Lächerliches. 1

[10] 

Die drei Erscheinungsformen des Schönen

[11] 

Kunstwerke sind also ihrem Wesen nach Erscheinungsdinge, in denen Schönheit erfahren werden kann. Angesichts einer unüberschaubaren Fülle von Gattungsbezeichnungen und der Unmöglichkeit, bestimmte Werke eindeutig einer Gattung zuordnen zu können – ist z. B. die Installation ein Gebäude, ein Bild oder eine Skulptur? (S. 123) – erläutert Figal drei Erscheinungsformen des Schönen in der Kunst, die seiner Ansicht nach ein vertiefendes Verständnis einzelner Kunstwerke jenseits verfahrener Gattungsbezeichnungen erlauben sollen.

[12] 

Solche Versuche, universelle Formen der Kunst zu entdecken, finden sich auch schon bei so prominenten Autoren wie Kant, Hegel und Nietzsche. Figal referiert diese Positionen und unterzieht sie einer kritischen Überprüfung. An Kant wird dabei die Privilegierung der Dichtung moniert, insofern streng genommen ausschließlich diese und nicht gleichermaßen auch bildende Kunst und Musik eine Darstellung ästhetischer Ideen erlaubt (S. 127 f.). Hegel wiederum nimmt eine Einteilung in symbolische, klassische und romantische Kunstformen vor, die er von Anfang an in einen geistesgeschichtlichen Rahmen integriert. Daher kann es nicht ausbleiben, dass die einzelnen Künste unterschiedlichen kunstgeschichtlichen Epochen zugeschrieben werden müssen, wodurch es nahezu unmöglich ist, ihrer Gleichzeitigkeit gerecht zu werden (S. 133). Schließlich unterscheidet Nietzsche zwischen der dionysischen und der apollinischen Kunst, wobei er die Malerei der apollinischen und die Musik der dionysischen Kunstform zuordnet und sich daher im Anschluss zu dem nur wenig überzeugenden Schritt genötigt sieht, die Dichtung den Bildern gleichzusetzen (S. 139).

[13] 

Figal spricht demgegenüber von drei Erscheinungsformen des Schönen – das Bildliche, das Musikalische und das Dichterische: Sie lassen sich einerseits offensichtlich bestimmten Kunstarten zuordnen, in denen sie jeweils sozusagen in den ›eigenen vier Wänden‹ anzutreffen sind. Andererseits will Figal jedoch zeigen, dass jede Kunstgattung und damit auch jedes einzelne Kunstwerk gerade nicht nur in einer einzigen Erscheinungsform zugänglich ist. So klärt zwar das Sehen von Bildern am besten die bildliche Erfahrung, die allerdings auch durch Musik oder Literatur ermöglicht wird (S. 139).

[14] 

Figal führt nun eine Wesensbeschreibung, d. h. eine eidetische Variation im Sinne Husserls durch, indem er von all jenen Qualitäten abstrahiert, die nicht notwendig zum Wesen der jeweiligen Erscheinungsform gehören. Das Wesen des Bildes, mit dem er beginnt, zeichnet sich durch eine Geschlossenheit aus, die der Rahmen nicht erschafft, sondern lediglich betont: Um das Bild als Bild zu sehen, muss man von allem außerhalb des Bildes absehen und sich allein auf das konzentrieren, was das Bild sehen lässt (S. 140). Diese Abgeschlossenheit korrespondiert mit der Eingeschlossenheit von allem, was innerhalb des Bildes zu finden ist und in Unveränderlichkeit verharrt: Das Fenster wird für immer geschlossen, die Frau für immer jung und schön sein. Unter diesem Gesichtspunkt stellt das Bild eine simultane Ganzheit dar, auf die jedes einzelne Detail im Bild bezogen ist.

[15] 

Aus der Wesensbestimmung des Bildes als Geschlossenheit, Ausschließlichkeit, Ganzheit und Simultaneität (vgl. S. 141) folgt für Figal nun, dass auch solche Kunstwerke bildlich erfahren werden, die gar keine Bilder sind, sofern sie nur den Charakter der Geschlossenheit aufweisen. Mehr noch – auch nicht-künstlerische Situationen erscheinen auf bildliche Weise: Eine Landschaft, eine Gruppe, die sich am Familientisch versammelt hat usw. (S. 142). Es ist nicht einmal erforderlich, dass Bildliches gesehen wird. So spricht Figal von bildlichen Erscheinungsweisen in der Dichtung, wenn etwa detaillierte Naturbeschreibungen eine Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit von Szenerien artikulieren. ›Bildlich‹ charakterisiert also das Erscheinen einer geschlossenen und simultanen Ganzheit, wobei es keine Rolle spielt, ob diese visuell, sprachlich oder auch akustisch auftaucht. Bei allen Zweifeln, die dem Leser hier kommen, erschließt sich damit die Möglichkeit, einen Roman bildlich zu nennen. Die Musik erscheint wiederum auf bildliche Weise, wenn sie weniger ein Fortschreiten als vielmehr ein Kreisen um wiederkehrende Motive vollzieht (S. 144). Künstlerische Bilder zeichnen sich für Figal vor diesem Hintergrund dann nur noch dadurch aus, dass sie gewissermaßen ›starke‹ Bilder sind, weil man an ihnen das Wesen des Bildlichen besonders gut studieren kann (S. 141).

[16] 

Während Figals Wesensbeschreibung des Bildlichen zu dem überraschenden Ergebnis kommt, dass Bilder nicht visuell sein müssen, konfrontiert seine Wesensbeschreibung des Musikalischen den Leser nun mit dem zunächst vergleichbar kontraintuitiven Resultat, dass Musik nicht akustisch sein muss. Das Beispiel des Tanzes zeigt, dass es Musik gibt, die in leiblichen Bewegungen existiert und sehr gut auf jegliche klangliche Gestaltung verzichten kann (S. 146): Es gibt »musikalische Bewegung ohne Ton« (S. 149). Das Wesen der Musik schließt Rhythmus und Bewegung, aber nicht unbedingt den Klang ein: »Rhythmus ist Ordnung, die sich in Bewegtheit verwirklicht; musikalisch ist diese Ordnung, wenn sie den Charakter des freien Spiels hat« (S. 153).

[17] 

Eine solche Wesensbestimmung des Musikalischen erlaubt die Feststellung, dass auch in Gebäuden, Skulpturen, Dichtungen und Gemälden das Schöne auf musikalische Weise erscheinen kann: Als Beispiele hierfür werden das rhythmische Hervor- und Zurücktreten der Farbflächen bei Mondrian (S. 154), die Gliederung der Verzierungen an Kathedralen (S. 152) oder auch die Trittsteine genannt, die den Betrachter durch einen Garten leiten (S. 153). Neben dem kaum strittigen Charakter lyrischer Texte zeigt sich das Musikalische innerhalb der Dichtung in der rhythmischen Sukzession und Gliederung des Handlungsverlaufs einer Erzählung, die ebenso wie eine Melodie beschleunigende und retardierende Phasen kennt (S. 154).

[18] 

Erlaubt es das Wesen des Bildlichen vom Visuellen und das Wesen des Musikalischen vom Akustischen zu abstrahieren, so wundert es nun kaum noch, wenn Figal in seiner Wesensbeschreibung der dritten Erscheinungsform erklärt, dass das Dichterische keineswegs auf die Sprache angewiesen sei (S. 162). Wenn man Texte als Gewebe begreift, spricht nichts dagegen, auch Bilder, Musikwerke und Gebäude zu lesen, d. h. man versucht, die einzelnen Details in ihrer Bedeutung und in ihrem sinnvollen Zusammenhang mit dem Ganzen zu interpretieren (S. 162). Ein Gebäude erscheint nicht nur bildlich, sondern auch dichterisch, wenn man anfängt, es zu lesen: In diesem Fall betrachtet man es nicht mehr nur als eine Abfolge von Bildern, sondern versucht, seinen inneren Aufbau zu entdecken (S. 162 f.).

[19] 

Jedes einzelne Kunstwerk beinhaltet alle drei Kunstformen in einem bestimmten Verhältnis zueinander: »Es gibt dichterisch dominierte Bilder, bildhafte Gedichte, dichterische Musik und musikalische Dichtung, ebenso bildliche Musik und musikalische Bilder; das beste Beispiel für die letzteren ist der Film« (S. 172). Jedes Kunstwerk ist bildlich, weil es geschlossen ist und sich von seiner Umgebung abgegrenzt. Es ist musikalisch, weil seine einzelne Momente in einem rhythmischen Spiel gegliedert sind, und schließlich ist es dichterisch, insofern diese Momente miteinander in einem Sinnzusammenhang stehen. Sie bilden einen – geschriebenen, gemalten oder in Stein gehauenen – Text, der gelesen werden kann (vgl. S. 172 f.). Unter rein formalen Gesichtspunkten kann man schließlich sagen, dass ein Kunstwerk gerade umso schöner ist, »je inniger die Verbindung der Kunstformen in ihm ist« (S.174). Das erinnert an ein Kochrezept, das die richtige Mischung für alle Zutaten empfiehlt.

[20] 

Die Materialität der Kunst

[21] 

Insofern Kunst wahrnehmbar ist, gehört zu ihr immer auch eine Materialität, in welche jene drei Erscheinungsformen sozusagen eingeschmolzen sind: Bilder zeigen sich in ihrer Farbigkeit, Musikwerke in ihren Tönen, das dichterische Wort muss sichtbar oder hörbar sein, und damit ist es sozusagen von Materialität durchdrungen. Das Verhältnis zwischen Natur und Kunst wird am Beispiel von Cézanne – das Lieblingsbeispiel einer eher älteren Phänomenologengeneration – untersucht, weil gerade dieser Maler seinem Kunstverständnis zufolge ein besonderes Augenmerk auf die Natur der Farbe richtet. 2 Was die Natur oder Materie eines Kunstwerks ist, soll sich gerade in seinen Bildern zeigen, auf denen zunächst alles andere als ein Text zu sehen ist, also alles andere als ein Gewebe von säuberlich unterschiedenen Formen, die sich als solche eben lesen lassen. Sichtbar, aber nicht lesbar ist ein solches Gebilde, weil es zu uneindeutig bleibt (S. 221). Um die Differenz zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit auch terminologisch genauer zu fassen, bezeichnet Figal das Gewebe der Farben nicht als Text, sondern als Textur (S. 222).

[22] 

Mit ›Texturen‹ sind Gebilde ohne erkennbare Ordnung gemeint. Es handelt sich um Vielheiten, in denen die einzelnen Elemente »dicht oder chaotisch, in jedem Fall unrekonstruierbar miteinander oder ineinander da und in diesem Sinne dicht verwoben« (S. 222) sind. Die Süße des Apfels ist zugleich auch Säure, Härte und Frische, so wie im Windrauschen das Knarren der Bäume und das Rauschen der Blätter auf diffuse Weise integriert sind. Die Wahrnehmung erfasst ursprünglich Texturen, aus denen die Aufmerksamkeit schließlich einzelne Dinge herausgreift: In der Textur des Windes kann ich mich dann auf das Blätterrauschen oder auf den Vogelruf konzentrieren – also in derselben Textur einen unterschiedlichen Text lesen (S. 223).

[23] 

Das Verfahren Cézannes besteht nach Figal nun darin, diese ursprüngliche Textur der Wahrnehmung in ein Gemälde zu übertragen, wofür er sich zunächst bemühen muss, die Natur, wie Merleau-Ponty sagen würde, in statu nascendi zu sehen. An Stelle von bereits fixierten geometrischen Differenzierungen erscheint nur mehr eine texturale Verschiedenheit, in der Differenzierungen zwar möglich, aber noch nicht wirklich sind (S. 223). Wenn diese Textur im Bild dargestellt wird, so ergibt sich der Text der Formen, also die einzelnen Dinge – Wolken, Berge, Bäume, Häuser – sozusagen aus der Textur der Farbe, in der sie eingebettet sind. Jede Form muss zunächst in der Wahrnehmungsmannigfaltigkeit farblich integriert sein, damit sie sich begrifflich fixieren lässt (S. 226).

[24] 

Figals Überlegungen sollen das Verhältnis zwischen den Kunstformen und der Kunstmaterie beleuchten, aber es stellt sich der Eindruck ein, als würde er die Untersuchung zu früh abbrechen: Was er untersucht hat, ist die Beziehung zwischen dem Sichtbaren – also die Materialität der bildenden Kunst – und dem Lesbaren, d. h. dem Dichterischen als eine der Erscheinungsformen des Schönen. Da sich die bildende Kunst wie jede andere in allen drei Erscheinungsformen des Schönen zeigt, wäre, um überhaupt den Bereich der bildenden Künste abzudecken, nun erst noch zu zeigen, wie sich das Sichtbare zum Bildlichen und zum Musikalischen verhält.

[25] 

Das Verhältnis zwischen Textur und Text soll gleichermaßen auch für die Literatur und die Musik zutreffend sein. Dabei stellt sich erneut heraus, dass Figal seine Grundgedanken zumeist anhand der Phänomenologie eines Werks der bildenden Künste entwickelt – seine Vorliebe für das Gebäude Fallingwater von Frank Lloyd Wright und für japanische Teeschalen im Raku-Stil ist hierbei nicht zu übersehen – und die Ergebnisse anschließend auf die anderen Kunstgattungen überträgt. Diese Übertragung wird allerdings häufig nicht mehr in einer vergleichbar ausführlichen und gewissenhaften phänomenologischen Beschreibung von Werken der Musik und der Literatur überprüft, sondern geschieht mit einer gewissen Eilfertigkeit und Halbherzigkeit in ein paar rohen Skizzen, die ihm eher lästig zu sein scheinen. Die Überzeugungskraft seiner Thesen leidet nicht zuletzt darunter, dass er den Phänomenen der Musik und Literatur nicht dieselbe Aufmerksamkeit schenkt wie denjenigen der bildenden Künste.

[26] 

So heißt es dann auch an einer Stelle, wo wiederum aus der Philosophie der bildenden Künste eine allgemeine Kunstphilosophie werden soll, eher lapidar: Das Lesbare eines Textes muss erscheinen, es muss sichtbar oder hörbar sein (S. 227). So wie in der Literatur »aus dem dichten Zusammenhang des Erzählbaren« (S. 229) die einzelnen Figuren, Handlungen und Ereignisse eines Romans herauswachsen, entwickelt sich aus dem Dickicht der Töne die Komposition –, mit anderen Worten, der Text der Musik. Lässt sich aber die gewöhnliche Sprache, die der Dichter sozusagen als die Natur und Materialität des Werks bearbeitet, wirklich als eine Textur beschreiben, die noch keine distinkten Einheiten kennt? Man muss kein Linguist sein, um an dieser Stelle die Schlüssigkeit der Argumentation zu bezweifeln.

[27] 

Kunstwerk und Raum

[28] 

Zum spezifischen Erscheinungscharakter der Kunstwerke gehört nach Figal auch ihre eigentümliche Räumlichkeit, welcher das letzte Kapitel gewidmet ist. Unterschieden wird der Ort als das phänomenal Gebende und das Kunstwerk als das phänomenal Gegebene, das sich an diesem Ort zeigt. Der Ort ist sozusagen die Umgrenzung des Kunstwerks, die bestimmte Bedingungen erfüllen muss, um jenes in seiner Erscheinungsfülle zur Geltung zu bringen: So wie das Museum eine adäquate Betrachtung von Bildern gewährleisten will, benötigen Musikwerke einen geeigneten akustischen Raum – einen Konzertsaal – , damit sich ihr Klang optimal entfalten kann (S. 246 f.). Hier wäre nun allerdings genauer zu fragen, wie sich denn die Relevanz des ›gebenden Ortes‹ mit der bildlichen Erscheinungsform vertragen soll, die für jedes Kunstwerk konstitutiv ist und gerade Abgeschlossenheit, also ein Absehen von der Umgebung verlangt (S. 172).

[29] 

Die spezifische Räumlichkeit der Kunstwerke als Erscheinungsdinge zeigt sich weiterhin auch an dem Abstand, der für ein adäquates Erscheinen erforderlich ist. Ist der Abstand zu einem Gemälde zu gering, dann sieht man nur noch Textur, so wie man in der Mitte des Orchesters nur noch Getöse hört. Zu nahe kommt wiederum der Dichtung – an dieser Stelle könnte die Kunstgattung, aber auch die Kunstform gemeint sein –, wer am einzelnen Wort kleben bleibt und der Bedeutung eines einzelnen Satzes nachgrübelt. Wenn der Abstand hingegen zu groß wird, dann verliert sich die phänomenale Räumlichkeit, und das Kunstwerk schrumpft zu einem bloßen Objekt im Raum zusammen (S. 250).

[30] 

Figal weist in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung der Leere für jedes Kunstwerk hin: Beim Bild muss es einen ›Zwischenraum‹ geben, damit die Formen aus der Textur hervortreten können (S. 255). Ebenso benötigt die Musik das Innehalten der Pausen, um Töne, Phrasen und einzelne Sätze identifizieren zu können (S. 260). Als Pausen der Dichtung werden Zeichen wie Punkt, Komma und Semikolon, ferner die Versgrenzen der Gedichte und schließlich die Leere und Weiße des Papiers genannt, das als ein gebender Ort fungiert, vor dem sich die Schwärze der Schrift hervorhebt (S. 263). Die Natur stellt also einerseits in ihrer wahrnehmbaren Dichte die Textur – die Materialität der Kunst – dar, und bietet andererseits in ihrer Leere zugleich die Grundlage dafür, dass sich überhaupt ein Text abheben kann (S. 263). Infolgedessen lässt sich nach Figal jedes Kunstwerk als ein Spiel von Textur, Text und Leere verstehen, bei dem die Leere sozusagen zwischen Textur und Text vermittelt: »Sie läßt die Textelemente vor der Dichte der Textur stehen« (S. 264).

[31] 

Erscheint das Dichterische?

[32] 

Figals kenntnisreiches Buch ist angefüllt mit gelungenen phänomenologischen Beschreibungen, die eine bedenkenswerte Sichtweise auf Kunstwerke eröffnen. Dies gilt z. B. für seine Nachweise, inwiefern das Musikalische im Visuellen erscheint. Überzeugend sind auch jene Passagen, in denen Figal veranschaulicht, was er unter dem ›reinen Darstellen‹ versteht, indem er das Vorführen des Tennisspielens beim Pantomimen und beim Tennislehrer miteinander vergleicht (S. 112 ff.). Auffallend ist, dass er – anders als heute allgemein üblich – auf eine schärfere Differenzierung der Fragen ›Was ist ein Bild?‹, ›Was ist Kunst?‹ und ›Was ist ästhetisch?‹ keinerlei Wert legt. Bei der Lektüre seines Buchs überrascht ohnehin immer wieder, wie konsequent Figal fast allen zeitgenössischen Debatten zum Thema Kunst aus dem Weg geht. Diejenigen Denker, die er einer ausführlichen Auseinandersetzung für würdig erachtet, befinden sich ausschließlich auf dem Höhenkamm der Philosophie – vor allem hält er regelmäßig Zwiesprache mit Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Nietzsche, Husserl, Heidegger und Gadamer.

[33] 

Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass sich gerade in der Bildtheorie der letzten zwanzig Jahre einiges getan hat, dennoch bleibt in Erscheinungsdinge die Möglichkeit ungenutzt, der eigenen Theorie durch die Diskussion aktueller Positionen z. B. von Hyman oder Wiesing schärfere Konturen zu verleihen. Wenn Figal, der ohnehin eher das Bildliche favorisiert, schon auf die zeitgenössische Bildtheorie nicht eingeht, wundert es allerdings kaum noch, wenn er auch die Literatur- und Musiktheorie ausklammert, die in den letzten Jahren weniger rasante Entwicklungen durchgemacht hat. Ebenso werden jene Autoren der Gegenwart, die wie Figal selbst eine allgemeine Kunstphilosophie entwerfen – z. B. Arthur C. Danto oder Martin Seel – eher beiläufig mit einigen wenigen Federstrichen abgetan.

[34] 

Die Berücksichtigung literaturtheoretischer Positionen hätte möglicherweise dazu geführt, einen nahe liegenden Einwand zu begegnen, der sich auf Figals Konzeption des Dichterischen bezieht. Um das Problem in einem Bild zu veranschaulichen: Versteht man die Erscheinungsformen des Schönen als drei Sonnen, die das künstlerische Universum erhellen, so fragt sich, worin die Leuchtkraft des Dichterischen bestehen soll. Während es durchaus einsichtig ist, dass das Bildliche in seiner geschlossenen Ganzheitlichkeit und das Musikalische in seinem rhythmischen Spiel von Bewegungen einen durchweg ästhetischen Charakter haben, so drängt sich die Frage auf, inwiefern das Dichterische bei Figal überhaupt eine Erscheinungsformen des Kunstschönen sein kann. Denn seinem Wesen nach soll es sich dadurch auszeichnen, dass es gelesen werden kann, d. h. es gibt hier einen Sinnzusammenhang von einzelnen Teilen, der sich verstehen lässt.

[35] 

Im Grunde fällt das Dichterische auf diese Weise mit dem Hermeneutischen zusammen, also mit dem bloßen Umstand, dass Kunstwerke nicht nur schön, sondern eben auch interpretierbar sind (vgl. S. 18). Ist das Dichterische nach Figal also so zu verstehen, dass Interpretierbarkeit zu einem Schönheitskriterium wird? Sind juristische und biblische Texte deswegen schön, weil und insoweit sie verstanden werden müssen? Sind sie schöner als dichterische Texte, wenn sie einen größeren Interpretationsspielraum eröffnen? Wenn künstlerische Bilder, wie Figal schreibt, ›starke Bilder‹ sind, weil sie die bildliche Erfahrung in einem volleren Umfang ermöglichen, sind dann Dichtungen im eigentlichen Sinne auch ›stärkere Dichtungen‹, weil sich in ihnen die dichterische Erfahrung ausgeprägter entfaltet? Aber was kann damit gemeint sein? Sind sie schöner, insofern sie ›lesbarer‹ sind; sind sie besser zu verstehen oder gibt es in ihnen einfach mehr zu verstehen?

[36] 

Im Unterschied zu einem solchen Literaturverständnis haben Roman Jakobson oder Jan Mukařovský darauf insistiert, dass das Dichterische – Jakobson spricht von der »Poetizität« – etwas grundlegend anderes ist als die Übermittlung von Sinngehalten:

[37] 
Doch wodurch manifestiert sich die Poetizität? – Dadurch, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen. 3
[38] 

Ein Text ist für Jakobson gerade dann poetisch, wenn sich von einem solchen »Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen« 4 sprechen lässt, d. h. wenn, wie Mukařovský erklärt, »die sprachlichen Mittel im Sinne eines ästhetischen Selbstzwecks benutzt« werden. 5

[39] 

Mit Jakobson gesprochen, ist für Figal jedoch die poetische Funktion mit der referentiellen Funktion identisch. Was daher von der Erscheinungsform des Dichterischen bleibt, hat wenig mit dem Schönen zu tun, sondern eher mit dem Umstand, dass alles Schöne auch noch gelesen d. h. hermeneutisch verstanden werden soll. Die anderen beiden Erscheinungsformen des Schönen beanspruchen die wesentlichen ästhetischen Kategorien für sich und graben dem Dichterischen das Wasser ab, so dass die Auffassung der spezifisch dichterischen Erscheinungsform des Schönen blass, inhaltslos und schlichtweg unterkomplex bleibt. Es stellt sich der Eindruck ein, dass Figals phänomenologische Kunsttheorie beim Dichterischen an ihre Grenze stößt und die hermeneutische Texttheorie in die Bresche springen soll, ohne dass die Aufgabe dadurch wirklich gelöst würde. Die Literatur besitzt bei ihm keine eigene Erscheinungsform des Kunstschönen.

[40] 

Man könnte auf der Grundlage von Figals Wesensbeschreibung des Dichterischen eigentlich nur noch sagen, dass literarische Texte schön sind, weil sie bildlich oder musikalisch sind, denn insofern er das Dichterische mit dem Auslegbaren gleichsetzt, kann es selbst nicht mehr als Maßstab des Ästhetischen begriffen werden. Was wir also z. B. an Texten von Thomas Mann schön finden, ist das Bildliche und das Musikalische an ihnen. Dass sie ›dichterisch‹ sind, besagt nur noch, dass wir diese Texte verstehen und interpretieren können. Wenn die Kunstformen jene drei Sonnen sein sollen, die das künstlerische Universum erhellen, so ist bei Figal das Dichterische, sofern sich Schönes in ihm zeigen sollte, eigentlich nur ein Mond, der sich das Licht von woanders leiht.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Konrad Paul Liessmann: Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen. Wien: facultas WUV 2004.   zurück
Figal stützt sich dabei weniger auf einzelne Werke von Cézanne, sondern auf die mit Joachim Gasquet aufgezeichneten Gespräche: Joachim Gasquet: Ce qu'il m' a dit. In: Michael Doran (Hg.), Conversations avec Cézanne, Paris: Macula 1978, S. 106–161.   zurück
Roman Jakobson: Was ist Poesie? In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 67–82, hier S. 79.   zurück
Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 83–121, hier S. 111.   zurück
Jan Mukařovský: Der Strukturalismus in der Ästhetik und in der Literaturwissenschaft. In: ders.: Kapitel aus der Poetik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 7–33, hier S. 28.   zurück