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Wider das ambivalente Allerlei

Ambiguität revisited

  • Frauke Berndt / Stephan Kammer (Hg.): Amphibolie - Ambiguität - Ambivalenz. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 336 S. Broschiert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-8260-4000-9.
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Eine Internetrecherche zum Schlagwort ›ambivalent‹ generiert circa drei Millionen Treffer: Ambivalent erscheint alles, vom Konzept der Heimat über den Klimaschutz und das Elterngeld bis hin zur Stammzellenforschung, um nur einige der Themenfelder zu nennen, die die Suchmaschine zu Tage fördert. Ambivalent, diesen Eindruck kann man gewinnen, ist zum Synonym von ›kompliziert‹ geworden, und die Phrasen, die mit dieser Bedeutungsverschiebung verbunden werden, sind hinreichend bekannt: Wer wolle bestreiten, dass die Welt komplexer geworden ist, dass Zusammenhänge ambivalent, i.e. kompliziert, dass eindeutige Zuordnungen schlicht ein Ding der Unmöglichkeit geworden sind? It’s so complicated!

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Dieser Befund gilt aber nicht nur für die allgemeine Nutzung des Terminus, sondern lässt sich auch auf den Sprachgebrauch in Academia übertragen. Wenn nahezu alles zweideutig erscheint, muss gefragt werden, welchen Wert die bloße Feststellung noch hat, dass Zusammenhänge ambivalent sind oder welches (interpretatorische) Potenzial der Begriff bei einem solch inflationären Gebrauch noch zu entfalten vermag. Wie bei zahlreichen anderen Termini, die in der kulturwissenschaftlichen Diskussion Konjunktur haben – ›Heterotopie‹ oder ›Kontingenz‹ wären andere prominente Beispiele –, droht der Begriff ›auszufransen‹, teilweise gar beliebig zu erscheinen. So wird der Terminus zwar umfassend anschlussfähig und überaus prominent, gleichzeitig aber verliert er an Trennschärfe und damit an Bedeutung.

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Der vorliegende Band verfolgt das überfällige Projekt, einen dieser Begriffe mit Konjunktur – eben denjenigen der Ambiguität – (wieder) nutzbar und anschlussfähig zu machen, gerade indem er, rekurrierend auf die Vielzahl von Termini und Definitionen, das Phänomen abstrakter und präziser als ›strukturale Ambigutität‹ umschreibt, den Begriff also enger fasst und so produktiv macht.

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Begriff(e) – Eine Trias der Zweideutigkeit

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Ambiguität, so erklären die beiden Herausgeber Frauke Berndt und Stephan Kammer in ihrer den Beiträgen vorangestellten, ausführlichen Einleitung, gelte in kulturwissenschaftlichen Diskursen als eine Zentralkategorie, »sobald das Erkenntnisinteresse für kulturelle Zeichen- und Deutungssysteme vom Misstrauen gegenüber geistesgeschichtlichen Synthesen und dialektischen Versöhnungen geprägt ist« (S. 8). Dieser Popularität des Begriffs aber stehe ein mangelndes Interesse an terminologischer Fundierung entgegen: Für das mit »Ambiguität« umschriebene Phänomen gibt es gleich eine Trias von Begriffen, neben der Ambiguität ist auch die Rede von der Ambivalenz oder der Amphibolie. Zu diesem terminologischen Überangebot verhalte sich die kulturwissenschaftliche Forschung nicht entsprechend, eine präzise Definition sei, ebenso wie eine auf Klärung der Begrifflichkeiten ausgelegte Diskussion – trotz zahlreicher Handbuch- und Lexikoneinträge – bis heute Desiderat:

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Amphibolie, Ambiguität und Ambivalenz, so scheint es beinahe, sind selbst keine klärungsbedürftigen Begriffe. Den Verdacht, dass es sich bei solcher Pragmatik um einen Rekurs auf schlechte Evidenz handelt, vermag indes gerade die Rückversicherung bei den institutionellen Delegationsorten für die Definitionsarbeit am kulturwissenschaftlichen Handwerkszeug nicht auszuräumen. (S. 8)
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Zur Agenda

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Eine starke These, denn zu den von den Herausgebern konsultierten »institutionellen Delegationsorten für Definitionsarbeit« zählen Standardwerke wie das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, das Historische Wörterbuch der Rhetorik und das Historische Wörterbuch der Philosophie. Das Nachschlagen zeige, dass von einer beträchtlichen Erweiterung der definitorischen und analytischen Spielräume des Begriffs im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte ausgegangen werden kann. Ambiguität, so das Fazit, wurde »zur geradezu universalen Matrix für die Beschreibung aktueller so gut wie historischer Lebenswelten« (S. 10).

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An diesem Punkt, an dem der Begriff der Ambiguität jegliche Trennschärfe zu verlieren droht, setzt der Band ein: Der »geübten, wenn auch kaum reflektierten Praxis, bei der die diagnostische und analytische Brauchbarkeit dieser Konzepte an deren vage Bestimmung als ›Viel-‹ oder ›Mehrdeutigkeit‹ gebunden zu sein scheint«, setzen Berndt und Kammer eine »gleichzeitig engere und abstraktere Begriffsdefinition entgegen« und sprechen im Folgenden von ›strukturaler Ambiguität‹.»Strukturale Ambiguität«, so wird erläutert, »ist der Name, den wir […] einer antagonistisch-gleichzeitige Zweiwertigkeit generierenden Matrix geben« (S. 10).

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Und warum bietet sich gerade die Literaturwissenschaft für die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen an? Ambiguität, so Berndt und Kammer, provoziere Krisen, produziere Situationen erzwungener Entscheidung und stelle Manifestationen von Systemzwängen aus, vor allem im Medium der Literatur:

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Immer wieder sind es […] literarische Texte, die auf diese Risse hinweisen und sie in dramatische Handlungen, Narrative oder andere Darstellungsformen übersetzen. Die Literatur hat diesen ihren Vorzug gegenüber anderen Artikulationsformen vor allem auch dadurch behauptet, dass sie als selbstreflexives Organon einer Kritik der Kultur Ambiguität sowohl produziert als auch beobachtet. (S. 23–24)
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Dieser ›literarischen Ambiguitätsreflexion‹ gehen die Beiträge des Bandes in unterschiedlichen Epochen, Genres und Kunstformen nach. Eingeteilt sind die siebzehn Aufsätze in vier Kategorien, über die ich im Folgenden einen kurzen Überblick geben werde.

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Reden und Erzählen

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In der ersten Sektion, überschrieben mit dem Titel »Reden und Erzählen«, beschäftigen sich die Beiträge mit den Systemvoraussetzungen sprachlich-literarischer Ambiguität. Martina Wagner-Egelhaaf eröffnet diesen Teil mit ihrem Beitrag zur Bedeutung der Ambiguität in der Rhetorik am Beispiel von Texten Quintilians, Derridas und Butlers. Klaus Weimar vertritt die These, dass Ambiguität als sprachliches Phänomen nicht Zwei-, oder Vieldeutigkeit sei, sondern modifizierte Eindeutigkeit. Gerhard Neumann baut seine Lektüre des Heizers auf dem Freud’schen Fetischbegriff auf und liest die Kafka’sche Novelle vor dem Gesichtspunkt entfremdeter und entfremdender Objektbeziehungen. Stephen D. Dowden schließlich widmet sich den narratologischen Amphibolien in Thomas Manns Dr. Faustus, während Michael Scheffels Beitrag nach den genrespezifischen Formen von Ambiguität und deren möglichen Funktionen fragt.

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Erscheinen und Darstellen

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Die zweite Sektion des Bandes widmet sich unter dem Titel »Erscheinen und Darstellen« den phänomenalen und medialen Voraussetzungen ästhetischer Ambiguität. Dieter Mersch unterscheidet drei verschränkte Aspekte von Ambiguität und rekonstruiert diese dreifache Ambiguität als einen chiastischen Raum, in dessen Mitte Sinn als offene Ereignung geschieht. Frauke Berndt erörtert anhand von Baumgartens Diskursivitätsbegründung der modernen Ästhetik Ambiguität als eine kulturwissenschaftliche Fundamentalkategorie. Die Ambiguität der Rhetorik, so das Fazit, münde bei Baumgarten in eine Medio-Metaphysik der Ambiguität, in der an die Stelle der einwertigen Wahrheit der Logik die zweiwertige Wahrheit der Ästhetik trete. Heinz J. Drügh arbeitet mit Blick auf die Genese der klassischen Phase im Werk von Friedrich Schiller eine Ambivalenz des Klassischen heraus und unterzieht vor diesem Hintergrund die Braut von Messina einer Relektüre, und Stephan Kammer widmet sich Goethes Poetik der Ambiguität, unter anderem in Bezug auf den Divan.

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Sprechen und Schreiben

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An der spezifischen Medialität der Literatur sind die Beiträge der dritten Sektion interessiert. Waltraud Wiethölter geht vom Überschuss aus, den die spezifische Medialität der Schrift und die performative Phänomenalität der Rede gegenüber dem propositionalen Gehalt sowie der poetischen Faktur der Sprache aufweisen und zeigt dies an Texten Heinrich von Kleists. Davide Giuriato beleuchtet die Ambiguitäten in Georg Büchners literarischen Schriften aus dem Blickwinkel einer drastisch inszenierten Rhetorik der Deutlichkeit. Erika Greber widmet sich der Zweideutigkeit in minimalistischen Sehtexten der Avantgarde und liefert drei Fallstudien zur kubistischen Amphibolie, während Steffen Wallach die Implikationen der komplexen medialen Verknüpfung von Laut und Buchstabe sowohl in systematischer als auch in poetisch-poetologischer Hinsicht unter anderem mit dem Fokus auf Wilhelm von Humboldt und Ernst Jandl untersucht.

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Handeln und Verhandeln

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Mit literarischen Beobachtungen und Einlassungen zu einer kulturellen Pragmatik der Ambiguität setzen sich die Beiträge der vierten Sektion auseinander. Cornelia Blasberg skizziert in ihrem Beitrag Entstehungsformen, Kontexte und Implikationen des Skandals und liest vor diesem Hintergrund Marcel Beyers Roman Spione. Bernhard Greiner untersucht den Fall der Anwendung des Prinzips der Ambiguität auf diese selbst, was zu einer Ambiguität aus Ambiguität und Nicht-Ambiguität führen muss, und sieht das Paradigma für Ambiguität in einer solchen mise-en-abyme-Stellung in Shakespeares Merchant of Venice. Helmuth Kiesel nimmt das Doppelspiel ästhetischer und politischer Ambiguität in Brechts und Eislers Maßnahme in den Blick, und Uwe Wirth zeigt abschließend, wie Ambiguität im Kontext von Witz und Komik als Doppelsinn und Zweideutigkeit in Erscheinung tritt, aber auch als Inszenierung von karnevalesker Zweistimmigkeit.

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Die Bandbreite der in den Beiträgen behandelten Themen – das zeigt dieser kurze Überblick – ist enorm. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie die produktive Anwendung des Konzepts der strukturalen Ambiguität konkret aussieht, werde ich im Folgenden drei Beiträge detaillierter vorstellen, die Ambivalenz als Lektüreeffekt (Weimar), als zentrales Konzept moderner Selbst- und Weltwahrnehmung (Neumann) und als Verweis auf die F(r)aktur der (Schrift-)Sprache fassen (Wiethölter).

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Ambiguitätstoleranz und die Entwicklung der Germanistik. Oder: Sei kein Esel!

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Klaus Weimar reflektiert in seinem Beitrag die Bedeutung und unterschiedliche Konzeption von Ambiguität in der Interpretation von literarischen Texten und liefert damit gleichzeitig eine kleine Methodengeschichte der Germanistik. Laut Weimar bestehen die Antworten auf die Frage, was Ambiguität sei, meist aus wenig mehr als aus Übersetzungen des lateinischen Wortes ambiguitas mit den deutschen Begriffen ›Doppelsinn‹, ›Zwei-‹ oder ›Mehrdeutigkeit‹. Weimar fasst den Begriff, auf dessen Etymologie rekurrierend, ein wenig anders, nämlich als ›unentschlossen‹, ›unzuverlässig‹ oder ›schwankend‹.»Amb-iguitas«, so heißt es, »ist also der Zustand, in dem etwas schwankt zwischen zwei Möglichkeiten und beiden gleich nah oder fern ist« (S. 55). Dieses Schwanken zwischen zwei Möglichkeiten nun bedeute keinen strukturellen Mangel, den es durch Disambiguierung zu beheben gelte, vielmehr biete es interpretatorisches Potenzial. Die Möglichkeit des Umkippens in eine andere Bedeutung sei als »Modifikation der Eindeutigkeit« zu verstehen, die mit dem Wissen des jeweiligen Rezipienten verbunden sei. »Ambiguität«, so erklärt Weimar sei »ein Ereignis oder Phänomen, das sich bei der Lektüre von Texten einstellen kann und bisweilen auch einstellt, jedes Mal abhängig vom Kenntnisstand und Sprachkompetenz derer, die lesen« (S. 56). Diese – beinahe klassisch-hermeneutisch klingende – Definition nun wird programmatisch weiter entwickelt am Beispiel eines Streits um die Auslegung der Schluss-Sentenz von Mörikes Auf eine Lampe (»Was aber schön ist, selig scheint es ihm selbst«):

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Emil Staiger hat das Wort ›scheint‹ vor dem Hintergrund von Goethes »Die Schöne bleibt sich selber selig«, als ein vorsichtiges und eindeutiges ›scheint zu sein‹ (videtur) gelesen; Herman Meyer hat dasselbe Wort in Kenntnis von Staigers Deutung offenbar ebenso eindeutig als ›leuchtet‹ (lucet) verstanden haben wollen – virtuelle Ambiguität, die schon bei ihrem Erscheinen von beiden Beteiligten je auf ihre Weise beseitigt worden ist. Walter Rehm und Hugo Friedrich haben sich der Staigerschen Variante der Disambiguierung angeschlossen, Martin Heidegger dagegen mit aller Entschiedenheit der Meyerschen. (S. 56)
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Weimar erläutert an diesem Beispiel, dass Disambiguierung eine Unmöglichkeit sei, sofern sie als Auflösung der Ambiguität verstanden wird. In Mörikes Vers, das zeigt der Disput dieser ›Granden‹ des Faches, lassen sich beide Bedeutungen finden: Gerade im Schwanken des Begriffs liegt der Reiz. »Disambiguierung kann in diesem Fall und überhaupt nur heißen, dass man eine von zwei realisierten Bedeutungen eines Wortes aus welchen Gründen auch immer unterdrückt, ohne sie doch beseitigen und vergessen zu können.« (S. 57) Die Fähigkeit, Ambivalenz aushalten zu können, so konstatiert Weimar, habe in der Literaturwissenschaft deutliche Fortschritte gemacht und die »Ambiguitätstoleranz« sei in den Philologien »wenn auch nicht überall und bei allen, deutlich größer geworden, und das ist gut so« (S. 57).

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Mit den Gründen für diesen Zuwachs an ›Ambiguitätstoleranz‹ beschäftigt Weimar sich nicht eingehender. Dass der Disput um die Auslegung der Mörike-Sentenz aber aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt und dem heutigen Leser, der heutigen Leserin seltsam erscheint, ist kein Zufall, hat sich doch durch Theoreme wie das der Intertextualität, die damit verbundene Erweiterung des Textbegriffs, aber auch durch die psychoanalytische Literaturwissenschaft oder die Dekonstruktion das Verhältnis von Literaturwissenschaft zu und die Perspektive auf Ambiguität entscheidend verschoben, und der Begriff ist heute eher positiv konnotiert.

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So schließt auch Weimar mit dem Hinweis an diejenigen, deren Profession das Lesen ist, nur ja keine Esel zu sein:

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Eine praktische Notwendigkeit zur Entscheidung besteht nicht, wenn beim Lesen zumindest von Witzen und literarischen Texten Ambiguitäten auftauchen. […] Nur sollte man dann (wie überhaupt) nicht ›Unentscheidbarkeit‹ sagen; denn das ist ein semantisch leeres und bestenfalls nichtssagendes Wort. Dass es nicht möglich wäre, (sich) zu entscheiden, ist nicht möglich, außer man wäre entscheidungs- und also unzurechnungsfähig wie oder als Buridans Esel. (S. 59)
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Freuds Fetisch und Kafkas Koffer.
Ambivalenz, narrative Strukturen und die Moderne

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Gerhard Neumann arbeitet in seinem Beitrag an und mit Texten Sigmund Freuds und Franz Kafkas, verknüpft also Kulturtheorie, Psychologie und Literatur. Dabei liegt der Fokus auf Freuds Zeichentheorie, genauer gesagt den ›Zeichen der Krankheit‹, den Symptomen. Diese treten laut Freud aus dem Konflikt zwischen Unbefriedigtheit und Drang nach Befriedigung hervor. »Sie sind«, so konstatiert Neumann, »a priori doppelsinnig.« (S. 62) Zurückgeführt werden diese doppelsinnigen Symptome auf traumatische Urszenen, zu dessen wirksamsten die Kastrationsandrohung zähle:

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Es ist also der Kastrations-Schock, als das eigentliche Krisenerlebnis der kindlichen Sozialisation, von dem hier die Rede ist. Dieser Schock erzwingt eine doppelsinnige Kontamination, die paradoxe Zusammenzwingung von Anerkennung und Verleugnung von Wahrnehmungen, die ihrerseits zur Bildung des Fetischs, als eigentlicher Form der Deckerinnerung, führt: des Fetischs als eines Ersatzobjekts – freilich mit ganz spezifischem schillerndem Zeichen-Charakter. (S. 63 f.)
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Der Fetischismus werde zu einem zentralen Konzept der Analyse des modernen Subjekts und seiner Stellung in der Kultur durch die besondere Art der in ihr repräsentierten Objektbeziehung. Der Fetischist, so Neumann, idealisiere ein Element des Objekts, aber nicht in dem Sinne, dass dieser Teil für das Ganze stehe, auf das er verweise, sondern indem dieser Teil »tyrannisch« (S. 64) behaupte, das Ganze zu sein. Damit funktioniere der Fetisch »als ein fundamental paradoxes Zeichen, das auf seiner materialen Präsenz insistiert und dabei zugleich die ›Sperre‹ der Symbolisierung, der Abstraktion oder Generalisierung ›ausstellt‹, also ›vorzeigt‹, und daraus eine Sequenz von Meta-Narrativen ableitet.« (S. 64) Anders gesagt: Das Zeichen ›Fetisch‹ funktioniert als Geschichte, die sich als Objekt maskiert. Neumann erkennt in dieser strukturalen Ambiguität des Fetischs ein »Grundmuster moderner Welt- und Selbst-Erfahrung, eine Modellierung des unüberwindlichen Konflikts zwischen Objekt und Narration« (S. 66).

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Mit dem Koffer Karl Roßmanns nun steht ein Objekt im Zentrum von Kafkas Heizer-Novelle, ein Objekt, das sich »für eine Geschichte ausgibt, die, wegen ihrer traumatisierenden Umstände nicht erzählt werden kann« (S. 68). Skizziert wird eine Verbindung zwischen dem sexuellen Trauma Karls und dem »Familienkoffer« (S. 69), der die Objekte eines abgebrochenen Lebens enthält.

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Was aus dem doppelsinnigen Zeichen des Koffers – also des Fetischs, der eine Geschichte als Gegenstand ausstellt – herausgetrieben wird, ist ein Spiel der Narrationen und Meta-Narrationen, die an einer ›erlebten‹ Geschichte (der Verführung) arbeiten, welche als verdrängte und abgewehrte, geschriebene, wiedererzählte, verschwiegene und übersetzte im Erzähltext wiederkehrt – und zwar im nie endenden Spiel von Anerkennung und Verleugnung. (S. 73)

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So erzählt die Köchin stellvertretend die Geschichte Karls, dieser wiederum gibt diejenige des Heizers wieder, der Onkel wiederum berichtet die Geschichte Karls. Meta-Narative, wie der Kafka’sche Text sie setzt, sind Offenbarungen des Fetisch-Charakters der erlebten Geschichte, die sich als unerzählbar erwiesen hat und im Gegenstand eingeschlossen ist. Neumanns Fazit:

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Erzählen [ist] für Kafka die Inszenierung eines gespaltenen Zeichens […]. Erzählen wäre in diesem Fall das Ausstellen des Risses zwischen Objekt und Narration, der – nach und nach – in einer beinahe unabschließbaren Sequenz von Meta-Narrativen zum Verschwinden gebracht wird. Mit anderen Worten: Es wäre die einzig noch mögliche Form eines Bildungsromans, die hier geschrieben wird, seine gerade noch erzählbare Schwundstufe gewissermaßen. (S. 73 f.)
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Das Knackern der F(r)aktur.
Amphibolie in Sprache und Schrift

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Waltraud Wiethölters Beitrag widmet sich der sprachlichen Amphibolie am Beispiel von zwei Texten Heinrich von Kleists. Die Analyse nimmt eine Mikroperspektive ein; abgeleitet wird die Lektüre aus drei Versen des Zerbrochnen Kruges:

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Der Nahme jetzt, Fracturschrift, Ruprecht Tümpel.
Hier trag’ ich’s fix und fertig in der Tasche;
Hörst du es knackern, Evchen? (S. 186)
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Wiethölter interessiert an dieser Stelle die »Überschüssigkeit […] in funktionaler wie in semiotisch-semantischer Hinsicht« (S. 186), die »buchstäbliche Exposition des Frakturalen« (S. 187), konzentriert in den Worten »Fractur« und »knackern«. Zwar hat die Forschung sich bereits mit der besonderen Faktur des Kleist’schen Textes beschäftigt und das Stück als ›Sprachdrama‹ beschrieben, Wiethölter aber geht darüber hinaus: »Was ›knackert‹«, so erklärt sie, »sind die am Brief phänomenal und exemplarisch greifbar werdenden Züge eines Sprach- und Kommunikationsgeschehens, das in seinen basalen Modalitäten vom Ort des Anderen her, und das bedeutet: von einer primären, jedem Zeichen oder Symbol zuvorkommenden Alterität bestimmt wird.« (S. 190) Einen Beleg dafür finde sich in Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. Die hier entfaltete Sprech- und Denksituation beim Reden in Angesicht eines Anderen sei nämlich eine labile, vor allem aber eine aggressive, eine agonale:

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An den Amphibolien der Rede ist die strukturell bedingte Kommunikationsproblematik abzulesen, die darin besteht, dass diese Rede im eigentlichen Verstande, sozusagen an ihrem Ursprung, eine re-actio und ein Responsiv, dass von Grund auf durch die Existenz des anderen imprägniert, immer schon vom Anderen affiziert, genährt, besetzt, durchkreuzt oder entwendet, dass sie eine zweideutige, genausogenommen herrenlose Rede ist (S. 193).
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Das aber löse Kleists Essay auch performativ ein, unter anderem auf der Ebene der Interpunktion nämlich. Dient die Interpunktion eigentlich als Mittel, Schriftsprache zu organisieren, zu ordnen, Ambiguität zu vermeiden und damit die Funktion der Pausen, die das in der mündlichen Kommunikation ermöglichen, zu ersetzen, so werden die Satzzeichen in Kleist Text nicht zu Stiftern von Eindeutigkeit, sondern vermehren die Zahl der Amphibolien noch. »[D]ie Schrift«, so Wiethölter,

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wie immer sie optisch gestaltet sein mag, [entpuppt sich] als eine ›Frakturschrift‹, die es, noch einmal mit Adam zu reden, ›knackern‹ lässt, das heißt in ihrer funktionalen Amphibolie eine Textur erzeugt, die einen erklecklichen Teil ihrer internen Zuordnungen bestenfalls temporär, als unterkomplexe, gewaltsam beschnittene, den sofortigen Einspruch provozierende Momentaufnahmen erlaubt. (S. 198)
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Von hier aus schlägt Wiethölter den Bogen zu ihrer Beobachtung in Kleists Zerbrochnen Krug. So liest sich das Lustspiel, das durchzogen ist von abgebrochenen Versen, von abgehackten und missverstandenen Sätzen, von Kommata und Gedankenstrichen als eine »Allegorie der Interpunktion, als ein (sinnbildliches) Spiel um die von Komma und Co. markierten amphibolischen und Amphibolien freisetzenden Frakturen« (S. 199). Und so ist der Text auch von zahlreichen Signifikantenpielen mit dem Wortfeld des Frakturalen durchzogen. Nicht nur der titelgebende Krug zerbricht, sondern auch der Wagen des Gerichtsrats, der Hosenbund Adams, die Türe, etc.

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Dass das Ganze aber vor Gericht stattfindet, lässt sich als reflexives Verweisspiel lesen: »[V]or Gericht wird die Alterität des Kommunikationsgeschehens, wird das Frakturale, werden – nun wörtlich – die Fraktionen ihrer selbst ansichtig, indem sie sich im Rahmen einer Choreographie definierter Rollen gegenübertreten.« (S. 204) Das Amphibolische ist bei Kleist auch vor Gericht nicht ausgeräumt und dem Krug kann nur Recht geschehen, indem »nach Maßgabe aller Indizien, insbesondere aber nach Maßgabe des nicht ent-schiedenen Kleist’schen Textes«, das Verfahren wieder aufgenommen wird und alle »Ver-antwortlichen« bereit sind, »den Prozess offenzuhalten, ihn tatsächlich – und sei dies über das ordnungspolitisch Erwünschte hinaus – prozessieren zu lassen« (S. 204).

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(Eindeutiges) Fazit

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Das große Verdienst des vorliegenden Bandes liegt darin, dem Begriff der Ambiguität neue Trennschärfe gegeben zu haben: Zum einen liefert die präzise Einleitung nicht nur einen Überblick über die Begriffsgeschichte von Ambivalenz, Ambiguität und Amphibolie, sondern argumentiert darüber hinaus programmatisch, das Herausgeberduo hat sich die Mühe gemacht, Definitionsarbeit zu leisten und den vagen Umschreibungen mit Zwei- oder Mehrdeutigkeit den enger gefassten, präzisen Begriff der ›strukturalen Ambiguität‹ entgegenzusetzen.

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Zum anderen zeigen die durchgehend auf hohem Niveau argumentierenden und Texte von Quintilian bis Derrida, von Friedrich Schiller bis Thomas Mann, von Goethe bis Brecht in den Blick nehmenden Beiträge des Bandes, wie der im Vorwort entwickelte Begriff neue Lesarten für scheinbar ausinterpretierte Texte ermöglicht, gerade in der konkreten, das tatsächliche Manuskript und die Anordnung der Autographen in den Blick nehmenden ›Arbeit am Text‹. So zeigt sich nicht nur an Wiethölters, sondern auch an anderen Beiträgen, wie etwa demjenigen von Davide Giuriato, der die Dramen Georg Büchners in den Blick nimmt, dass Ambiguität auf der materiellen Ebene der Texte eine zentrale Kategorie ist: in den Manuskripten, in der Anordnung derselben (beispielsweise beim Woyzeck, bei dem sogar die Namen der Protagonisten wechseln) oder in den Überarbeitungen, die nicht einhergehen mit der Tilgung der vorherigen Versionen (so beim Zerbrochnen Krug), um nur zwei Beispiele zu nennen.

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Mein Fazit: Manchmal sind die Dinge eindeutig. Der vorliegende Band zeigt luzide – entgegen dem Trend zum ambivalenten Allerlei –, wie der Begriff der ›strukturalen Ambiguität‹ für eine kultur- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung produktiv gemacht werden kann und liefert die Grundlage für jegliche weitere Beschäftigung mit dem Phänomen der Ambiguität.