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Regelkonforme Regelverletzungen in der Literatur aus fiktions-, erzähl- und medientheoretischer Sicht

  • Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. (Philologische Studien und Quellen 202) Berlin: Erich Schmidt 2007. 427 S. Paperback. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-503-09809-5.
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Vorbemerkung: Im Steinbruch der Systeme

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Die Zeit, in der Niklas Luhmanns Theorie der sozialen Systeme ideologische Kontroversen entfachte, ist auch für die Literatur- und Kulturwissenschaften vorbei. Systemtheoretische Ansätze und Gedanken finden sich heute in einer Vielzahl von Arbeiten, in regelmäßigen Abständen erscheinen neue Nachschlagewerke und Sammelbände, die das Luhmannsche Erbe für die Literatur- und Kunstforschung präsent halten. Damit ist es zunächst – wenig spektakulär – den Weg praktisch aller größeren Theoriemodelle der Moderne gegangen: vom heiß diskutierten »neue[n] Paradigma« 1 zur etablierten Spartendisziplin, aber auch: vom monolithischen Theorieblock zum Foucaultschen ›Steinbruch‹, aus dem sich munter bedient wird. Der von strikten Systemtheoretikern bereits 1996 beklagte Trend zum »halbierten Luhmann« 2 hat sich vielfach zur Einsicht manifestiert, dass ein Luhmann in Scheiben für die neue, eigene Theoriebildung allemal verträglicher ist als in toto.

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Somit wäre das Systemdenken also Teil des geisteswissenschaftlichen Tagesgeschäfts geworden. Der Systemtheoretiker mag nun mit Recht darauf verweisen, dass das Bewusstsein, selbst nur Teil des Wissenschaftssystems zu sein, der systemwissenschaftlichen Forschung von jeher inhärent, ja konstitutiv für sie war – Luhmann selbst hat dies stets betont. Andererseits führte dieses Bewusstsein bei Luhmann und Luhmannianern bekanntermaßen nicht zwangsläufig zu bescheidener Selbstrelativierung, sondern zuweilen gerade zur Elevation der Theorie über sich selbst hinaus: Auf einen Beobachterstandpunkt, der noch die eigenen Beobachtungen zu beurteilen imstande schien, so dass der vielbeschworene ›blinde Fleck‹ jedweder Beobachtung für die eigene Theoriepraxis letztlich doch ausgefüllt sein sollte. Nach innen differenzierte sich diese Praxis in beeindruckender Breite aus, während sie sich durch entsprechende Hypostasierungen vor jedweder Kritik von außen zu feien schien – man denke etwa an das sequenzielle Aneinandervorbeischreiben Luhmanns und Habermas’ in der prominenten gemeinsamen Publikation. 3 Eine dergestalt einst ›reine‹, maßgeblich von ihrer Geschlossenheit und Größe profitierende Systemforschung müsste heute freilich ungleich mehr unter der angesprochenen Zerstückelung leiden als beispielsweise die Foucaultsche Diskursanalyse.

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Faltungen: Idee des Buchs

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Vor diesem Hintergrund lässt sich die vorliegende Dissertationsschrift von Remigius Bunia, ehemals Assistent von Dirk Baecker und seit 2009 Juniorprofessor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU Berlin, zunächst als Vorschlag begreifen, sich auf eine zentrale Grundlage der Luhmannschen Theorie zu besinnen – das Denken in Differenzen –, ohne sich zu sehr mit den Ideologiedebatten und Idiosynkrasien vergangener Jahrzehnte aufzuhalten. Den angesprochenen Totalisierungstendenzen der ›reinen‹ Systemtheorie beugt Bunia auf allgemeiner methodischer Ebene zunächst dadurch vor, dass er eine Vielzahl teilweise durchaus konträrer theoretischer Ansätze ins Boot holt: So greift er etwa auch auf das (von Luhmann seinerzeit zwar anerkannte, in seiner Ausrichtung aber skeptisch kommentierte 4 ) »différance«-Konzept Derridas und auf andere poststrukturalistische Modelle zurück. Hinzu gesellen sich im Verlauf der Untersuchung verschiedene, meist modifizierte und eingepasste Elemente aus Semiotik und Rezeptionsästhetik wie auch aus Konstruktivismus und Mathematik sowie – in den jeweiligen Hauptkapiteln – eine Reihe zeitgenössischer Ansätze aus Fiktions-, Narrations- und Medienforschung, die teils überblickshaft dargestellt, teils produktiv rezipiert und ummodelliert werden. Entsprechend versteht sich Bunias Arbeit trotz vieler Anleihen bei Luhmann nicht als systemtheoretische, sondern führt den wenig vorbelasteten und zunächst recht allgemein gehaltenen Terminus ›Differenztheorie‹ ein, der sich erst im Verlauf der Untersuchung überhaupt schärfer konturieren soll.

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Differenzen müssen im konstruktivistischen Sinne gesetzt werden; am Anfang aller Beobachtung steht stets eine (für die jeweiligen Operationen dann unhintergehbare) Unterscheidung. Bunias Arbeit zielt nun darauf ab, zu zeigen, wie literarische Texte zunächst Operationen ermöglichen, die auf einem allgemeinen – auch außerliterarisch gültigen – Verständnis von Fiktionalität, Narrativität und medialen Grenzen gründen; diese Operationen werden dann aber an einem gewissen Punkt unterlaufen, indem sie der Ausgangsunterscheidung widersprechen. Durch solche »regelkonforme Regelverletzung« (Klappentext) offenbaren sie jeweils letztlich die paradoxale Basis der genannten Kernkonzepte.

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In jedem der drei entsprechenden Hauptkapitel werden zunächst prinzipielle, auch jenseits des Künstlerischen gültige Definitionsmöglichkeiten der jeweiligen Parameter diskutiert – wie lassen sich Fiktion, Erzählen und Begrenzungen im Medium heute generell bestimmen? –, bevor anhand literarischer Beispiele charakteristische »Faltungen« aufgezeigt werden, die den drei Bereichen inhärent sind. Der Faltungsbegriff stammt aus der Mathematik, wo er einen Operator bezeichnet, anhand dessen sprunghafte Funktionen geglättet werden. 5 In Bunias Übertragung bezeichnet er »Unterscheidungen, die das Unterschiedene gleichzeitig als Identisches kennzeichnen« (S. 9). Den Unterschied zur Paradoxie sieht Bunia in der Tatsache, dass selbige auf »Unvereinbarkeit« basiere, Faltungen indes auf »Übervereinbarkeit«: »zwei Dinge sind absolut gleich, müssen aber im Rahmen […] einer Teillösung unterschieden werden« (S. 10). Ob es sich hier nicht eher anböte, von einer besonderen (Unter-)Form der Paradoxie zu sprechen, wird nicht diskutiert; im Übrigen geht Bunia von einer nicht näher bestimmten »Verwandtschaft« (S. 99, Anm. 326) beziehungsweise Ähnlichkeit aus; beide, Faltung wie Paradoxie, lassen sich demnach »bloß konstatieren« (S. 355) und erfordern je partielle Lösungen.

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Zielsetzung und Struktur des Buchs

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Folglich lassen sich zwei Hauptziele der Studie festmachen: Zum einen die performative Entwicklung eines Theoriekomplexes, der, wie sich am Ende der Untersuchung herausstellt, weitreichende Folgen für eine verunsicherte Literaturwissenschaft haben soll, deren überwiegender Anspruch heute in der »grundsätzliche[n] Deutungsgewalt über die Undeutbarkeit von Texten« (S. 12) bestehe; und zum anderen die Untersuchung und Erklärung literarischer Phänomene, die maßgeblich anhand dieses Theoriekomplexes erfolgen soll, ihm aber zugleich zu verschiedenen Gelegenheiten Belege liefert. Dieses Neben- und Ineinander, das seinerseits an systemtheoretische Verfahren der theorieinternen Retrovalidierung erinnert – man fängt, wie es bei Luhmann in charakteristischer Diktion einmal heißt, mehr oder weniger einfach an zu »operieren« 6 –, will schlichtweg akzeptiert sein (so darf man in Betrachtung der eingangs erwähnten jahrzehntelangen Debatten heute bündig formulieren), sonst kommt man in der Auseinandersetzung mit systemtheoretisch inspiriertem Denken auf keinen grünen Zweig. Bunia selbst spricht von einer »rhetorische[n] Tradition, die in einer alten Genealogie der dialektischen – heute logischen – gegenübersteht« (S. 16), und vom Wunsch nach Versöhnung.

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Überhaupt sind die synergetischen Ansprüche des Buchs, wie sie sich bereits in der Vielzahl der zitierten Bezugstheorien andeuten, sicherlich nicht zu bescheiden formuliert. Absagen werden erteilt an »Metaphysik«, »Wahrheit« und »Referenz« – indes »nicht ohne ihre Anliegen ernstzunehmen« (S. 11); »unter Wahrung der […] erlangten Ergebnisse« sollen entsprechende Forschungskonzepte »zugunsten eines differenztheoretischen Modells abgelöst werden« (S. 17). Den allgemeinen Appell an wechselseitige Anerkennung der antipodischen Forschungsbewegungen der Gegenwart im Zeichen eines »gemeinsamen Erkenntnisinteresse[s]« (S. 11) liest der Rezensent mit großer Sympathie und leichtem Pessimismus.

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In den Hauptkapiteln werden als Einstieg jeweils exemplarische literarische Texte andiskutiert, wobei ein erster Schwerpunkt auf Aspekte der Nicht-Festlegbarkeit (bezüglich Fiktionalität, Erzählstatus, medialer Begrenztheit) gesetzt wird. Es folgt jeweils eine Auseinandersetzung mit neueren Theorien, Forschungsrichtungen und -ergebnissen zum betreffenden Schwerpunkt, die zu unterschiedlichen Graden bereits des Autors eigene Argumentation grundieren. Kern der Kapitel ist dann die jeweilige Erörterung des Faltungskonzepts – des paradoxalen Potentials, das den gemachten Bestimmungen grundsätzlich inhärent ist – und seiner Bedeutung im differenztheoretischen Horizont. Vor selbigem wird schließlich ein zweiter, abschließender Blick auf die Ausgangstexte geworfen – eine insgesamt gelungene Strukturidee, die eine gute Mischung aus Konkretion und (der vom Autor im Übrigen emphatisch verteidigten, s.u.) Abstraktion darstellt.

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»Fiktion. Die Erschaffung von Welten«

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Das erste und längste Hauptkapitel erörtert zunächst einige Problemstellungen hinsichtlich des Fiktionsstatus literarischer Texte am Beispiel von Rainald Goetz’ ›ultrarealistischer‹ und von (scheinbaren) Selbstauskünften durchsetzter Quasi-Biografie Abfall für alle. Von hier aus startet Bunia einen Durchgang durch die (vor allem neuere) Geschichte der Fiktionstheorie, der hinsichtlich Zusammenstellung der Themen und Einordnung der entsprechenden Theorien häufiger explizit auf Frank Zipfels Grundlagenwerk Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität zurückgreift. 7 Behandelt werden die im Fiktionskontext zentralen (Streit-)Begriffe Mimesis, Darstellung, Referenz, Wahrheit und Realität; diskutiert werden außerdem Fragen nach der Fiktionalität nichtwissenschaftlicher Texte, dem »Als ob«-Charakter des Fiktiven sowie der Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede, die laut Bunia heute problematischer denn je erscheint.

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Generell arbeitet der Autor aus den teils hochkomplexen, in kompakte Abrisse gegliederten Diskussionen sukzessive die eigene Position heraus. Fiktion wird zunächst, in dezidierter Abgrenzung etwa von positivistischen Positionen, nicht als Gegenkonzept zu Realität, sondern als alternative Realität begriffen. Realität gilt – im Anschluss an Luhmanns relationalistische Bestimmungen – als Prinzip, das nicht auf Substanz, sondern primär auf beobachteter Konsistenz beruht: Als real gilt, was in sich kohärent erscheint. Um Fiktion überhaupt als solche wahrzunehmen (also als »fiktive Realität« und nicht etwa als Unsinn oder Lüge), müssten in dieser Hinsicht die gleichen Beobachtungsmaßstäbe »realer« Konsistenz angelegt werden: »Unterscheidungen können ihrerseits nicht fiktiv oder real sein« (S. 79).

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Jene alternativen Realitäten werden wiederum, nun in Abgrenzung von der Systemtheorie, als »Welten« beschrieben. Ausgehend von verschiedenen historischen und zeitgenössischen Theoriekonzepten möglicher beziehungsweise fiktiver Welten skizziert Bunia einen recht pragmatisch gehaltenen Weltbegriff, der einerseits die angesprochene Vergleichbarkeit bezüglich Konsistenz ermöglichen soll, andererseits aber auch die prinzipielle Trennung zwischen Fiktivem und Realem aufrecht erhalten hilft. Abseits allzu formalistischer Tendenzen der Systemtheorie wie auch der latenten Esoterik mancher possible worlds-Konzepte bleibt Bunia bei der Existenz einer realen Welt; die fiktiven Welten können unterschiedlichste Grade von Ähnlichkeit zu ihr aufweisen.

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Wie werden nun Äußerungen in Zweifelsfällen der einen oder anderen Welt zugeordnet? Bekanntlich lassen sich fiktionale und nicht-fiktionale Äußerungen nicht zwangsläufig ›aus sich selbst heraus‹ voneinander unterscheiden. Zwei Texte können etwa grundsätzlich miteinander identisch sein und dennoch verschiedenen Welten zugerechnet werden. Für die allgemeine Definierbarkeit von Fiktion heißt das, dass sie sich »nicht durch das aus[zeichnet], was sie ist, sondern dadurch, wie mit ihr umgegangen werden kann« (S. 100), und dass sie ein »Verarbeitungsmodus und keine Texteigenschaft« ist (ebd.). 8 Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Zuschreibungen extrahieren, die den Fiktionsmodus nach Bunias Darstellungen grundieren: Die Bestimmbarkeit eines »Modell-Autors«, Poietizität und Darstellungscharakter.

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Die erste Zuschreibung arbeitet Bunia heraus, indem er zunächst auf die bekannte, etwa bei Cohn und Genette ausführlich besprochene Unterscheidung zwischen Autor- und Erzählerposition verweist: Selbige sei grundsätzlich ein valides Äquivalent zum (das heißt zugleich Anzeichen für den und Folge des) Fiktionalitätsstatus eines Textes – wo also diese Unterscheidung gemacht werden könne, liege offenbar Fiktion vor (und vice versa). Anstelle der ihrerseits oft diskutierten und hinsichtlich ihrer Anthropomorphizität kritisierten »Erzähler«-Kategorie (wie auch der verwandten Kategorie »Stimme«) sollte Bunia zufolge allerdings vom »Modell-Autor« gesprochen werden – wiederum eine Modulation und Abstraktion einer von Umberto Eco eingeführten, ursprünglich rezeptionsästhetischen Kategorie. Sie konzentriert sich, der pragmatischen Ausgangsdefinition entsprechend, auf den Umgang mit Texten: Im Falle von Maxim Billers Skandalroman Esra sei etwa die juristisch zu klärende Frage, ob ein Modell-Autor erkennbar sei (ergo Fiktion vorliege) oder der tatsächliche Autor spreche.

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Zum Begriff der Poiesis, der zweiten Zuschreibung, gibt der Autor zunächst eine kompakte historische Darstellung. Im Vordergrund steht die an die aristotelische Poetik anknüpfende kunstbezogene Entgegensetzung »Poiesis vs. Mimesis« – ergänzt werden können hätte sie allerdings um Aristoteles’ moralphilosophische Differenzierung zwischen Poiesis und Praxis (im Sinne eines eher zielgerichteten beiziehungsweise eher selbstgenügsamen Handelns, die unterschiedliche moralische Beurteilungen verlangen), auf die sich etwa auch Humberto Maturana und Luhmann in ihren (von Bunia ebenfalls erwähnten) Autopoiesis-Begriffen berufen. 9 Bunia selbst wiederum versteht den Poiesis-Begriff nicht im historischen Sinn etwa der romantischen Elevation des schaffenden Künstlersubjekts, sondern schließt sich einer konstruktivistischen Ummodellierung Georg Stanitzeks an: Poiesis ist demnach im doppelten Sinn ein Kriterium für Fiktion, begriffen als ›Gemachtes‹ (Neues) und ›Fingiertes‹ (Scheinhaftes) zugleich, wobei die Fragen nach Autorschaft und Intentionalität gerade keine Rolle spielen sollen.

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Stattdessen versucht Bunia, eine dergestalt un-auktoriale Poietizität zunächst mit Verweis auf Derridas bekannten Aufschubgedanken näher zu bestimmen: Das Neue entsteht nur im Kontrast zum Alten und bleibt ihm dadurch verbunden, weshalb ein tatsächlich Neues stets nur als Verschiebung aufscheint. Entsprechend zeugt auch die systemtheoretisch verstandene Poiesis nur von relativer Neuheit: Sie fußt allgemein auf der Verbindung der »Ablehnung einer Kommunikation mit dem Angebot einer neuen Unterscheidung« (S. 112), wobei die Fiktion (im Unterschied etwa zur Lüge, die ihre »Neuheit« zu verbergen sucht) ihre Poietizität gleichsam offen zur Schau stellt – oder, auf systemtheoretisch: Sie »fordert auf, sie als negative Beobachtung der Welt anzunehmen und positiv an sie anzuschließen« (ebd.). Unnötig erscheinen in diesem Kontext die Anklänge an die umstrittene Luhmannsche »Evolutions«-Rhetorik (»Poiesis ist einer der Mechanismen kontrollierter Variation im Evolutionsprozeß«, S. 111) – gerade im Horizont eines Beschreibungsversuchs, der auf »teleologische Annahmen« (S. 107; hier freilich auf Autorintention bezogen) verzichten will.

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Die dritte, neben Modell-Autor und Poietizität diskutierte Zuschreibung ist schließlich der Darstellungscharakter der Fiktion. Darstellungen sind bei Bunia grundsätzlich Beschreibungen von Erleben (das ja einem systemtheoretischen Grundsatz zufolge das Einzige ist, was einem psychischen System zu Verfügung steht), niemals von Handlungen (die demzufolge allein als Selbstzuschreibungen psychischer Systeme Bestand haben) oder Dingen an sich (die demzufolge unzugänglich bleiben). Entsprechend wendet sich Bunia insbesondere auch gegen Zeichenmodelle der Semiotik einerseits und affirmative Repräsentations- und Illusionsbegriffe der Kunstwissenschaften andererseits. Darstellung sei grundsätzlich subjektiv und daher »im Prinzip nicht zurückzuweisen« (S. 119). Hinsichtlich der vieldiskutierten Frage, wie Darstellung letztlich funktioniert (wie also etwa ein Bild eines Schiffes mit einem Schiff in Verbindung gebracht wird – trotz der etwa von Nelson Goodman vorgetragenen Nachweise, dass keinerlei »Ähnlichkeit« zwischen beiden besteht), bemüht sich Bunia um eine neutrale – und entsprechend konstruktivistisch abstrakte – Position: Identität zwischen Darstellung und Dargestelltem werde angenommen, wenn entsprechende Merkmale »dieselbe Form im Medium Sinn haben« (S. 126); »Transformationsinvarianzen« (ebd.) solcher Art seien alltägliche, keinesfalls auf Kunst beschränkte Phänomene; indes könne Kunst – wie es dann wiederum recht affirmativ im Anschluss an Gombrich heißt – als »Erkenntnisstütze« (S. 127) zu deren Erkundung verstanden werden.

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Anschlüsse wie dieser erlauben in der Folge erste Betrachtungen zu allgemeineren Bestimmbarkeit künstlerischer Fiktion. Eine zentrale Frage Luhmanns lautete, ob Kunst die Kommunikation von Wahrnehmung ermöglichen könne (während beide Sphären ansonsten getrennt blieben – Kommunikation als sozialer, Wahrnehmung als psychischer Prozess, beide somit gegeneinander abgeschlossenen »System«-Typen zugehörig). Bunia sucht nun die bei Luhmann recht basal bleibende und teils als widersprüchlich aufscheinende Definition von »Wahrnehmung« mithilfe seiner eigenen Bestimmung des »Erlebens« und der »Darstellung« zu verfeinern: »Will ein Beobachter sein Wahrnehmen ›am ehesten‹ als Wahrnehmen kommunizieren, so beschreibt er es als Erleben: er wählt eine Darstellung« (S. 124). Nicht leugnen lässt sich hier zumindest ein fruchtbarer Anklang an gängige (Alltags-)Unterscheidungen zwischen bewusstem und unbewusstem Wahrnehmen (»strukturierender und nicht strukturierender Verarbeitung«, S. 123), dem vielleicht – wenn auch zuungunsten systemtheoretischer Abstraktion – weiter hätte nachgegangen werden sollen. Dann wäre auch klarer geworden, inwiefern Bunia die eigenen Ausführungen – wie es an späterer Stelle heißt – als regelrechte Zurückweisung (S. 148) der Luhmannschen Idee versteht.

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Offen beigepflichtet wird dem gegenüber einer zweiten Grundannahme Luhmanns: Kunst demonstriere, dass Ordnung generell unvermeidbar sei. Während Luhmann indes in der Regel von der prinzipiellen Abgeschlossenheit des Kunstsystems gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen ausging, setzt Bunia hier einen zweiten Schwerpunkt, der abermals von einem affirmativeren Kunstverständnis zeugt: Kunst und Literatur können sich demnach durchaus gesellschaftlich engagieren, das heißt die beobachtete »Ordnung« kann »gegebenenfalls strukturierend für sonstige Unterscheidungsbedürfnisse genutzt werden« (S. 149). Auch hier wären weitere Ausführungen nützlich gewesen – wenngleich sie, da dieser Denkansatz nicht auf fiktionale Kunst beschränkt ist, vom Thema des Kapitels weggeführt hätten.

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In Bezug auf Letzteres kommen kapitelabschließend den Ausführungen zu Metafiktion, Iteration und ›mise en abyme‹ wichtige Rollen zu. Zum zuvor bezeichneten Faltungscharakter von Fiktion – der Tatsache, dass ihre Beobachtung letztlich auf einer kontingenten Entscheidung (»Verarbeitungsmodus, nicht Texteigenschaft«) beruhe und ihre Wahrnehmbarkeit als Einheit damit auf einer Paradoxie basiere – heißt es, er werde in metafiktionalen Texten besonders »sichtbar«: »die Unterscheidung zwischen zwei identischen Produktionsinstanzen wird in den Text wiedereingeführt (›re-entry‹) und lässt den Unterscheidungsgebrauch für den fiktionalen Text selbst oszillieren« (S. 141). Tritt demnach etwa der Autor selbst in der Handlung auf oder spricht der Text über die eigenen Produktionsbedingungen, wird die Frage nach dem Verarbeitungsmodus so unentscheidbar, wie sie Bunia zufolge prinzipiell schon von jeher ist. Dieses Prinzip der Rückführung lässt sich auch in anderen zentralen Bereichen fiktionaler Literatur beobachten: Etwa im Auftauchen historischer Figuren (ist der Napoleon im Roman der ›echte‹?) und in der ›mise an abyme‹ (ist das Stück im Stück weniger real als das Stück selbst?). Völlig zu recht betont Bunia, dass es sich hierbei um Elemente handelt, die ebenso alt sind wie die moderne Konzeption von Fiktion selbst, und dass sie gerade nicht als Grenzüberschreitungen, sondern vielmehr als Betonung der Grenzen des Fiktiven zu begreifen sind – exemplarisch und prominent bereits an Cervantes’ Don Quijote nachzuweisen.

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»Diegese. Das Erzählen von Geschichten«

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Mit einer elegant abgefederten Majestätsbeleidigung setzt das zweite, die Diegese behandelnde Hauptkapitel ein: Aufgezeigt werden einige Unklarheiten in der kanonisch gewordenen Terminologie Genettes wie auch eklatante Widersprüche zwischen deren Auslegungen im Rahmen verschiedener Grundlagen- und Nachschlagewerke. Bunia selbst versteht »Diegese« demgegenüber – und gegenüber der eigenen Konzeption von Fiktion im vorangegangenen Kapitel – grundsätzlich nicht als Bezugnahme auf eine vom jeweiligen (Kon-)Text unabhängig vorhandene »Welt«, sondern als deren performative Herstellung: »die Welt, die von einer Erzählung erzeugt wird, in derjenigen Struktur, die der Récit (auch der nicht-fiktionale) ihr auferlegt« (S. 194).

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Wie sich in dieser Bestimmung bereits andeutet, gilt »Erzählen« in grundsätzlicher Entsprechung zu Genette weiterhin als »eine Darstellung, bei der zwischen Histoire und Récit unterschieden werden kann« (S. 199). In Anknüpfung an sein bis dahin entworfenes Programm sucht Bunia diese Unterscheidung differenztheoretisch zu reformulieren: Zunächst soll die Differenzierung zwischen »Darstellung« und »Darstellungsmodus« einen schärferen Blick auf die Reziprozität zweier Bereiche legen, die Bunia mit semiotischen und hermeneutischen Begrifflichkeiten nur ungenügend gewürdigt sieht. Vorgeschlagen wird ein »Gegenangebot wider die klassisch gewordenen ›aktiv/passiv‹-Paare wie zum Beispiel ›Signifikant/Signifikat‹« (S. 202) – was eine verkürzte Darstellung ist, hat doch bereits Saussure, wie Bunia in einem späteren Kapitel auch selbst anmerkt, selbige Trennung als »durchaus sehr viel komplizierter« (S. 314, Fußnote 249) begriffen, und beruhen hieran anknüpfende semiotische Folgemodelle oft doch zumindest auf der Vorstellung einer reziproken Evokation. Das »Gegenangebot« lautet nun:

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Das Wie jeder Darstellung soll als Darstellungsmodus bezeichnet werden. […] [Er] besteht aus den einzelnen Wörtern, Buchstaben, Farbklecksen, Linienführung, Akkorden und jedem ad libitum. Er ist, so könnte man sagen, zugleich die Struktur und die Elemente einer Darstellung. […] die Struktur ist eine kontingente Möglichkeit, den Modus auf seine Beschreibbarkeit hin festzulegen. Dagegen ist der Modus das Material, die konkreten und wahrnehmbaren Einritzungen und Spuren, die als gemachte bewertet werden […] und auf ihre Strukturierbarkeit hin beobachtet werden. (ebd.)
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Die Unterscheidung »Darstellung/Darstellungsmodus«, die Bunia im Folgenden weiter ausbauen will, »korreliert mit der vertrauten ›Form/Inhalt‹-Unterscheidung«, soll aber dem Problem gerecht werden, dass »Inhalt stets eine Form hat und Form, wenn sie von Interesse ist, einen Inhalt besitzt« (S. 202 f).

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Wie sich nicht nur im hier beobachtbaren Übergang zum Luhmannschen Formbegriff zeigt, handelt es sich bei Bunias Modellierung um eine (in Anbetracht der eingangs ausgeführten Wirkgeschichte wohl heutzutage auch als »klassisch« zu bezeichnende) Denkfigur ur-systemtheoretischer Prägung: die Unterscheidung des Identischen. Die Problematik mangelnder Differenzierbarkeit wird benannt; auf den differenzierenden Dualismus wird dennoch nicht verzichtet, er soll indes jener Problematik – und somit letztlich doch der Relativität der eigenen Gültigkeit – stets eingedenk bleiben. Allgemein stellt sich hier die Frage, ob dieser Balanceakt, das Oszillieren der theoretischen Terminologie selbst, einerseits durchzuhalten und andererseits analytisch lohnend ist – so sehr er das Bedürfnis nach möglichst tiefer Durchdringung ausdrücken hilft. Grundsätzlicher gefragt: Soll eine Theorie, wenn sie auf anscheinend ›Unauflösbares‹ stößt, diese Unauflösbarkeit operativ mitvollziehen? Wäre es nicht ausreichend oder sogar fruchtbarer, sie möglichst genau zu bestimmen (wie Bunia dies im Folgenden auch tut)? Hierauf wird bei der Besprechung des Kapitelendes zurückzukommen sein.

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Der Faltungscharakter der Diegese ist nun in eben angesprochenem Verhältnis begründet: Obwohl jegliche Darstellung im Grunde »unitär« (S. 225) ist, das heißt Darstellung und Modus prinzipiell untrennbar miteinander verbunden sind, bietet die Darstellung genau diese Trennung beständig an – etwa, indem sie die Unterscheidbarkeit von unmittelbarem und mittelbarem Sinn, Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit und letztlich von Diegese und Mittelbarkeit ermöglicht. Diese Trennungen sind Bunia zufolge einerseits in der Regel notwendig, können aber andererseits letztlich stets als kontingent herausgestellt werden. Für den – auch literaturwissenschaftlichen – Umgang mit Darstellung bedeute dies: »Man beobachtet, wie sich eine Darstellung verhält und setzt die Wirkweise erst dann in ›Bestandteile‹ der Darstellung [sic], die als Bestandteile aber erst in dieser Operation konstituiert werden« (S. 226).

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Die grundlegende Möglichkeit zum entsprechenden ›Umschalten‹ bieten Darstellungen aufgrund der Tatsache, dass Sie stets als Darstellungen erkennbar sind; sie erlauben dem Beobachter so eine spezifische Distanz, was Bunia in loser Anknüpfung an Kant und Klopstock als »hypotypotische« (S. 228) Qualität bezeichnet. Spezifische Momente, die den Blick von einer Darstellung auf ihren jeweiligen Modus zu lenken imstande sind, sind etwa Darstellungsfehler, Multiperspektivität und unzuverlässiges Erzählen. Sie alle »erlauben, die Strukturierungen von Erleben selbst zu erleben« (S. 235). Königsbeispiel für den Faltungscharakter ist auch hier indes die Metaisierung, nun als Metanarrativität, und die – diesmal diegetische – Metalepse. Sie demonstrieren Bunia zufolge mit besonderer Deutlichkeit die Kontingenz der Grundunterscheidung zwischen Darstellung und Darstellungsmodus, indem sie beides auf ostentative Weise (wieder) miteinander vermischen.

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Exemplifiziert werden diese Ausführungen anhand eines literaturhistorischem Paradebeispiels für Metaisierung, Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy, sowie von E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr. Tristram scheitert bekanntlich gleichermaßen ausführlich wie grandios beim Versuch, das eigene, ›echte‹ Leben und Erzählen selbst erzählend einzuholen, was Bunia einerseits als Demonstration der grundlegenden Notwendigkeit liest, zwischen diesen Aspekten zu trennen – welche andererseits freilich nur durch den unitären Charakter der Erzählung zum Vorschein tritt. Bei Hoffmann wiederum werde in den erzählerischen und formalen herausgeberfiktiven Verschränkungen der Murr- und der Kreisler-Diegesen letztlich die Tatsache manifest, dass Histoire und Récit keinerlei »Rücksicht« (S. 255) aufeinander nehmen müssten, »obwohl beide nicht ohneeinander sein können« (ebd.).

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Im Kontext dieser – grundsätzlich überzeugenden – Ausführungen ist noch einmal auf die angesprochene Terminologiefrage zurückzukommen. Zum Abschluss des Diegese-Kapitels heißt es über die angeführten Texte: »Das Unmittelbare und das Mittelbare einer Darstellung sind miteinander verwoben. Sie treten als Darstellung und Darstellungsmodus auseinander, doch sind nur durch Blick auf die stets jeweils anders mögliche Grenzziehung zu trennen« (ebd.) – eine schlüssige Zusammenfassung, sofern »Darstellung und Darstellungsmodus« mutatis mutandis als Entsprechungen zu »Inhalt« und »Form« gelesen werden, die dann der Satzaussage gemäß je nur relative Gültigkeit besäßen. Der Anspruch der Studie war nun aber, jene Relativität in die Begriffe gleichsam ›einzubauen‹ – es »werden Darstellung und Darstellungsmodus unterschieden; zugleich wird ihre Untrennbarkeit anerkannt« (S. 363) –, was sich im Angesicht dieser und einiger weiterer 10 Formulierungen als ebenso schwieriges wie letztlich wohl unnötiges Unterfangen erweisen will. Grundsätzlich verweist diese Frage, wie ebenfalls bereits angedeutet, auf das Verhältnis der Theorie zum Gegenstand – genauer: des theorieperformativen Interpretierens zu den Interpretationsprozessen, die es beschreibt. Sie wird im Kontext der abschließenden Selbstverortung der Studie noch einmal aufgegriffen.

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»Ende. Die Begrenzungen im Medium«

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Zu den fiktions- und narrationstheoretischen Bereichen gesellen sich im dritten Hauptkapitel schließlich medienspezifische Überlegungen, bei denen zunächst das Buch und dort insbesondere die Bestimmbarkeit von Grenzen und Enden im Vordergrund stehen. In einem kurzen Abriss zu einem literarischen Kernbeispiel, Musils Mann ohne Eigenschaften mit seiner bekannten Editionsproblematik, werden einige grundlegende Schwierigkeiten im Umgang mit Fragmenten, Autornotizen und Entwürfen benannt. Hiervon ausgehend soll im Folgenden sowohl nach der Begrenzbarkeit einzelner Textelemente als auch nach denjenigen ganzer Erzählungen gefragt werden.

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Zuvor gibt es einen sehr aufschlussreichen Überblick zu Theorien des Endes und der Paratextualität, der vor allem Mario Kunz’ 1997 erschienenes El final de la novela als Übersichts- wie auch als eigenes Theoriewerk hervorhebt. An ihm orientiert sich auch Bunia selbst bei der Aufschlüsselung verschiedener Dimensionen des »Endes«: Dasjenige des Récit wird demnach im Allgemeinen als »Schluß« begriffen, dasjenige der Histoire unter dem Begriff »Letzte Ereignisse« und dasjenige des Textes als »Rahmen« (S. 275). Spielen jeweils mehrere dieser Dimensionen eine Rolle – die weitere Untersuchung wird zeigen, dass dies der Regelfall ist –, so lässt sich von »hybriden Formen« des Endes (mit jeweiligem Kernbereich) sprechen: der »Klausel« (Récit), dem »Dénouement« (Histoire) und der »Begrenzung« (Text). Dezidiert wendet sich die Studie gegen die weit verbreitete Unterscheidung zwischen ›offenem‹ und ›geschlossenem‹ Ende; Kategorisierungsgrundlage sei hier die »Zufriedenheit des Lesers« (S. 294) – ein aus Bunias analytischer Sicht unbefriedigendes, da wandelbares und unpräzises Kriterium, das mitunter zu höchst divergenten Einschätzungen führe.

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Bereits in diesen allgemeinen Bestimmungen wird erkennbar, dass sich das letzte Kapitel stärker als die vorangegangenen auf konkrete Literatur- beziehungsweise Textbezüge stützen muss, sofern sich allgemeinere Aspekte ›des‹ Endes im Horizont der Arbeit schwieriger greifen lassen als solche ›der‹ Fiktion und ›des‹ Erzählens. Tatsächlich konzentriert sich die Studie in diesem letzten Teil auch auf textuelle und künstlerische Beispiele des »Endens« sowie auf Interdependenzen mit den Themen der vorangegangenen Kapitel. Hinsichtlich medientheoretischer Diskussionen belässt sie es abgesehen von einigen kurzen Seitenblicken beim literarischen (Noch-)Leitmedium – im Übrigen inklusive eines bemerkenswerten re-entrys, der Re-Konkretisierung des hochabstrakten Luhmannschen Medienbegriffs auf das »Medium Buch«, in dem sich freilich immerhin noch konkrete Einzelbücher als »Formen« tummeln dürfen (S. 285).

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Dass nun auch Enden – in der eingangs vorgestellten Aufschlüsselung – grundsätzlich als Faltungen begreifbar sind, leitet Bunia zunächst maßgeblich über deren »transzeptionellen« Charakter her. Transzeption bezeichnet eine »Unterscheidung, die allein durch Transgression erkennbar wird« (S. 346) – also in diesem Fall nicht als einzelner Moment oder konkrete Linie, sondern nur indirekt oder relational durch die Bestimmung dessen, was diesseits oder jenseits derselben sei. Im Fall der Klausel könne etwa das Ende des Récits grundsätzlich nicht auf der Ebene des Récits selbst, sondern nur durch außerhalb, also durch dessen Nichtsein angezeigt werden – etwa durch typografische Markierungen. Ähnlich ließen sich die »letzten Ereignisse« der Histoire letztlich nur durch einen Abgleich mit der Zeitstruktur des Erzählens, also wiederum auf der Ebene des Récit, bestimmen – ansonsten wären sie innerhalb der (potenziell unendlichen) fiktiven Welt nicht als »letzte« zu bezeichnen. Und schließlich werde auch die Begrenzung des Texts, zu der etwa Peritexte, »das blanke Papier […] und andere typographische Markierungen« (S. 283) zählen, »nicht als reine Form der Trennung von Text und Nicht-Text« (S. 295) erkennbar, sondern »nur […], wenn man Histoire und Récit […] einbezieht« (ebd.).

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Der Faltungscharakter des Konzepts »Ende« besteht nun nach Bunia nicht in solcher Transzeptionalität, also der Nichtfestlegbarkeit des Endes aus sich selbst heraus, sondern vielmehr in der – gleichsam eine Stufe ›höher‹ beobachtbaren – Tatsache, dass die verschiedenen Formen sowohl als nicht festlegbare wie auch als festlegbare, also als ›echte‹ Enden behandelt werden können. Hier ist nun auch grundsätzlich von außerliterarischer Anwendbarkeit die Rede:

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[D]ie Faltung Ende [baut] auf [der Unterscheidung] Ende / Transzeptionalität auf. Die markierte Seite der Unterscheidung, ›Ende‹, wird nicht nur auf Erzählungen […] angewandt […]. Der Ausdruck ›Ende‹ umfaßt (als ›Grenze‹) vielmehr alle Formen des Endens, Schließens und Aufhörens, die auf der Seite der realen Welt […] statthaben. (S. 298 f.)
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Einen direkten, indes seinerseits auf Darstellungen beschränkten Bezug zu außerästhetischen Bereichen bildet die Diskussion verschiedener Konzeptualisierungen von Rahmungen bei Lotman, Goffman und Marin. Jedwede Form der Darstellung werde demnach letztlich durch einen Rahmen von der unmittelbaren Realitätserfahrung unterschieden. Solche Rahmen sind indes, wie Bunia über das gesamte Kapitel hinweg immer wieder darlegt, grundsätzlich problematisierbar – unter anderem hinsichtlich ihrer Ablösbarkeit (»ist der Rahmen noch Werk oder nicht? « (S. 320)), Letztbestimmbarkeit und spezifischen Ausdehnung (Linien? Stellen? Punkte?).

[42] 

Der dergestalt omnipräsenten Transzeptionalität von Rahmen und Grenzen, die jeweils dennoch als ›echte‹ fungieren können, geht Bunia weiterhin anhand verschiedener Beispiele nach – hauptsächlich aus dem Bereich des Textuellen. Bezüglich gängiger Praxen der wissenschaftlichen Zitation wird etwa hervorgehoben, wie unklar die Rahmungsparameter der Typografie und des Dekontextualisierungsverbots bleiben können. Ähnliche Relativierungen werden bezüglich der Versiegelung von Texteditionen, des Authentizitätsbegriffs sowie verschiedener Konzepten textueller Vollständigkeit, Einheit und Geschlossenheit aufgezeigt.

[43] 

Der Kapitelrahmen seinerseits schließt sich mit einem Blick auf Julio Cortázars Roman Rayuela, dessen Spiel mit multiplen Buchversionen, alternativen Enden und erzählerischen Endlosschleifen Bunia zufolge demonstriere, »daß Ende immer das Ergebnis einer künstlichen Markierung, nie des Leseabbruchs ist« (S. 351), und mit einem abschließenden Kommentar zu Musil. Die verschiedenen vorliegenden Fassungen seines Romanfragments erweisen sich vor dem Hintergrund des Gesagten als Ergebnisse je einer Reihe von Grundsatzentscheidungen, die von der Fragilität und zugleich der buchstäblichen Produktivität editorischer Grenzziehungen zeugen.

[44] 

»Poetica metaleptica«

[45] 

Das abschließende Kapitel versammelt eine Reihe von resümierenden und grundlegenden Gedanken zu Kunst, Interpretation, Literaturwissenschaft und Theorie. Der Kunst wird, wie schon angedeutet, letztlich ein wesentlich höheres Kritik- und Wahrheitspotenzial eingeräumt als etwa bei vielen Systemtheoretikern; so plädiert Bunia auf Grundlage des ausgearbeiteten Darstellungskonzepts dafür, Kunst als ein Phänomen zu fassen, bei dem – ähnlich wie in der Wissenschaft – auf Produzenten- wie auf Konsumentenseite erlebt wird. Der Künstler wäre demnach stärker als in Luhmanns Konzeption in der Lage, das eigene Erleben durch Darstellung auszudrücken – wenngleich dieser Vorgang auch wesentlich schwächer konditioniert sei als in der Wissenschaft.

[46] 

Die im Kunstkontext wohl häufigste systemtheoretische Grundsatzfrage, ob Kunst ein ausdifferenziertes Funktionssystem sei, bleibt hingegen (leider) unbesprochen, da sie »allzu soziologisch« (S. 366) sei; die zweithäufigste, auf welchen letztgültigen »Code« man alle Kunst zurückführen könne, wird (glücklicherweise) nur kurz behandelt. Die Aufforderung, »die Ordnungs-, Experimentier-, Strukturierungs- und Erkenntnisleistung von Kunst als deren indirekte Funktionsbestimmung anzusehen« (S. 366), könnte man sicherlich noch emphatischer formulieren, dennoch ist sie ein Bekenntnis zum Rufzeichen hinter einem affirmativen Kunstverständnis. 11

[47] 

Interpretation wird ein weiteres Mal als notwendiger Bestandteil literaturwissenschaftlichen Arbeitens herausgestellt, literaturwissenschaftliches Arbeiten indes hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Relevanz in starker Abhängigkeit vom Gegenstand gesehen – über den Status einer »Hilfswissenschaft« (S. 364), die beim Verständnis von Kunstwerken helfen kann, kommt sie laut Bunia nicht hinaus.

[48] 

Vor allem kommt das Kapitel indes auf die Bedeutung der Differenztheorie zu sprechen, wie sie sich im Verlauf der Arbeit konturiert hat. Als übergreifende Arten literaturwissenschaftlicher »Programmausführung« hatte Bunia in den entsprechenden Hauptkapiteln drei basale Formen der Interpretation bestimmt: die mundane, die sich primär mit den Vorkommnissen in der fiktiven Welt befasst; die modale, die sich mit den Formen der Darstellung befasst; und die transzeptionelle Interpretation, die verschiedene Grenzdimensionen der Darstellung in den Blick nimmt. Zu ihnen heißt es abschließend, sie seien »keine positiven, autarken ›Methoden‹, sondern bestehen nur in der wechselseitigen Abgrenzung voneinander, erlangen dann aber sehr hohe Stabilität und Wiedererkennbarkeit« (S. 362).

[49] 

Die Stelle eignet sich als Exemplifikation für einen allgemeineren Kritikpunkt. Da es hier um ein grundlegendes Resümee geht, kann ebenso grundlegend gefragt werden: Warum sollten diese Kategorien »nur« in der genannten »Abgrenzung voneinander« Bestand haben? Und wie genau ist das folgende »dann« zu verstehen? Im Lauf der Untersuchung erschienen die drei »Interpretationskerne« nach Bunia durchaus plastisch als brauchbare Sammelbegriffe für je eine Reihe von interpretatorischen Fragekomplexen; mit Willy Michel und im Anschluss an Robert K. Merton könnte von Kategorien »mittlerer Reichweite« 12 gesprochen werden. Warum nun also eine nachträgliche ›Reziprozierung‹ der Begriffstrias, die als Formel zwar zum Grundinventar systemtheoretischer Konzeptualisierungen gehört, 13 in diesem Fall aber zuvor gezogene Kategoriengrenzen zugunsten einer diffus bleibenden Ganzheit zu verwischen scheint?

[50] 

Wahrscheinlich geschieht dies – wie etwa auch die oben angesprochene Konzeptualisierung von »Darstellung« und »Darstellungsmodus« als umfassende, noch die eigene Widersprüchlichkeit integrierende Dualität – im Horizont der am Ende des Kapitels projizierten Rolle der »künftigen Differenztheorie« als »einer neu aufgestellten Grundlagendisziplin« (S. 381) für geisteswissenschaftliche Theoriebildung. Zunächst werden hier einige Grundprobleme gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Praxis benannt:

[51] 
Eine geisteswissenschaftliche Theorie überlebt im Moment nur, wenn sie Schüler hat, aber sie hat nie Schüler, die die Theorie anwenden, ohne sie abzuwandeln. […] Das Beste, was einer geisteswissenschaftlichen Theorie passieren kann, ist, daß einige ihrer Schlagwörter durch die Wissenschaft geistern. (S. 381)

Die Lösung bestünde Bunia zufolge nun in einer neuen Verbindlichkeit bei gleichzeitiger Bewahrung der »produktive[n] Vielfalt der Methoden« (S. 383):

[52] 
[E]s sollte eine Theorie zur Grundlage erhoben werden, die in der Lage ist, mit den für geisteswissenschaftliche typischen Unschärfen umgehen zu können. Eine solche Theorie würde erlauben, endlich gegnerische Positionen abzulehnen – und nicht als existenzielle Bedrohungen zu empfinden und als Häresie zu verdammen. (Ebd.)
[53] 

Dies müsste ganz offensichtlich eine Theorie sein, die andere Theorien einschließt – eine Metatheorie. Dass diese Rolle dereinst durch eine weiter ausgearbeitete Differenztheorie eingenommen werden könnte, wird gleichermaßen vorsichtig wie eindeutig formuliert. Hier mag der Grund dafür liegen, dass die Theorie im Verlauf ihrer vorliegenden bisherigen Ausarbeitung im Zweifel eher ›große‹ Kategorien wählt und auch vor einer paradoxalen, offene Widersprüche inkludierenden Begriffsbildung nicht zurückschreckt – in beidem wiederum vergleichbar mit der Systemtheorie, wie unten noch einmal angesprochen werden soll. Zuvor bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass der zitierte Schlussteil die literaturwissenschaftlichen Grabenkämpfe überaus zutreffend als Problem benennt – indes zu fragen wäre, ob sich die ›existenzielleste‹ Bedrohung durch die ›Anderen‹ nicht noch häufiger im Rennen um Forschungsgelder manifestiert, und ob deren »Verdammung« nicht häufiger vom Nichtverstehenwollen herrührt denn vom Mangel an »saubere[r] und verbindliche[r] Terminologie« (S. 383).

[54] 

Fazit: Für eine mittlere Distanz

[55] 

Faltungen ist ein kluges, überaus anregendes und insbesondere hinsichtlich seines Theorieinputs und Gedankenreichtums beeindruckendes Buch. Der Vorwurf, ›modischen Diskurseklektizismus‹ zu betreiben, ist in manchen konservativen Teilen der Forschungslandschaft heute selbst zur Mode geworden – im Falle der vorliegenden Studie wäre er recht billig. Natürlich geht es um große Theorien und Texte (in nicht geringer Zahl), die im Rahmen eines solchen Theorieprojekts schlicht nicht umfassend verhandelbar sind. Natürlich werden Durchgänge durch die Literatur- wie durch die Theoriegeschichte häufig in Siebenmeilenstiefeln zurückgelegt. Neue Arbeitsbegriffe werden – im Einklang mit dem Projekt einer performativen Theorieentwicklung – in beträchtlicher Zahl vorgeschlagen oder eingeführt, wobei die Ordnung untereinander zuweilen eher einen mittelwichtigen Stellenwert einnimmt – wie es einmal wunderbar nonchalant heißt: »Hier wird sequenziert, nicht klassifiziert« (S. 144). All dies ist Teil eines Programms, demzufolge Theorie weniger der Erstellung von Typologien verpflichtet ist als dem Abstrahieren als »›kreative[m]‹ Akt« (S. 380) und entsprechend eher »wuchern« (ebd.) lässt, als zugunsten vermeintlicher Übersichtlichkeit zu reduzieren.

[56] 

Das grundlegende Prinzip, von Paradoxien des alltäglichen Umgangs mit der Welt auszugehen und literarische Texte als verdichtete Belege für selbige zu fassen, ist ein sehr gewinnendes – und im Fall der vorliegenden Studie für literaturwissenschaftliche Arbeit in der Tat weitaus fruchtbarer als die meisten anderen Versuche, System- und Literaturtheorie in Einklang zu bringen. Insbesondere vollzieht der vorliegende Text kaum je jene Verquickung von Paradoxizität des Gegenstands (literarischer Texte) mit argumentatorischen und analytischen Paradoxismen, wie sie etwa manche radikalen Ansätze der vergangenen Jahrzehnte kennzeichnete. 14 Statt entsprechende Theorie-Gegenstand-Knäuel zu produzieren, die meist maximal für die Betrachtung der jeweiligen Einzeltexte Relevanz anmelden konnten, gelingt der Studie anhand des titelgebenden Faltungsmotivs einerseits eine Reihe luzider Einsichten in verschiedene Texte – von Goetz, Gide, Sterne, Hoffmann, Musil und Cortázar – und andererseits eine hochinteressante theoretische Perspektive für weitere(s) Arbeiten. Der dem Faltungsgedanken inhärente präzise Blick auf das ›Wie‹ des Paradoxalen – bei dem die Beschäftigung mit dem ›Was‹ naturgemäß nicht weiterführt – unterscheidet sich wiederum wohltuend von jenen beschwörerischen Bannkreisen um das Paradoxe, wie sie ›klassische‹ Interpretationen zu oft ziehen.

[57] 

Wenn laut Bunias Grundthese die Literatur also Paradoxien verdeutlicht, die auch der außerliterarischen Welt inhärent sind, so können sich für die Literaturwissenschaft Möglichkeiten ergeben, am ›echten Leben‹ teilzuhaben (sofern sie dies will). Eine Gefahr der Verbindung von literarischen und außerliterarischen Fiktions-, Narrations- und Medienphänomenen – und von literatur- und sozialwissenschaftlicher Theorie – liegt aus literaturwissenschaftlicher Sicht allerdings in der möglichen Marginalisierung des Literarischen zum rein soziologischen Randbereich. Unbezweifelbar ist auch diese Tendenz manchen anderen, vor allem frühen systemtheoretisch argumentierenden Ansätzen eigen. Nicht zuletzt wurde sie auch Luhmann selbst vorgeworfen, was Bunia dahingehend entkräftet, dass er etwa Die Kunst der Gesellschaft zuvorderst als kunsttheoretische Abhandlung begreift – und die eigene Arbeit als dezidiert nicht soziologisch.

[58] 

Bunias Studie selbst gelingt die Balance zwischen gesellschaftlicher Rolle und ästhetischem Eigensinn des Literarischen meist dort ausgesprochen gut, wo sie (um im Bild zu bleiben) selbstbewusst auf dem Drahtseil bleibt. Wo sie indes abhebt – in Richtung einer metatheoretischen Perspektive – wachsen mit den Reizen auch die Gefahren solch freien Schwebens.

[59] 

Luhmann beschrieb seine Systemtheorie einmal charakteristisch als »Flug […] über den Wolken«, 15 der nur selten »Durchblicke nach unten« gestatte (dann unter anderem auf die »erloschenen Vulkane […] des Marxismus«) und maßgeblich anhand der »eigenen Instrumente« erfolgen müsse. Damit ist zum einen die hohe Abstraktionslage der Theorie bezeichnet – zum anderen aber auch ein spezifisches (Wunsch-)Verhältnis zu anderen Theorien. Als »Supertheorie […] mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner einbeziehenden) Ansprüchen« 16 bildete die soziologische Systemtheorie ihrerseits manch paradoxal anmutenden Selbstbeobachtungsstrategien aus und war nicht selten gezwungen, mit überaus allgemeinen Kategorien zu arbeiten, da selbige ja verschiedenste andere (noch gegnerische!) Ansätze zu berücksichtigen hatten. Wie heute etwa manche auf Kognitionsbiologie fußenden Ansätze, die umfassende Ansprüche im geisteswissenschaftlichen Feld anmelden – und von Bunia hierfür wiederholt zu Recht kritisiert werden (vgl. etwa S. 358) – so hat auch Luhmanns soziologische Systemforschung in ihren extremen Ausformungen entsprechend metaisierende Züge angenommen, freilich nicht basierend auf vermeintlicher Empirie, sondern vor allem auf ihrer enormen Abstraktionspotenz und Unitarität.

[60] 

Bunia bricht diese in seiner eigenen Studie auf und erinnert so vielfach an die wichtigen Impulse, die das Luhmannsche Denken der Literaturwissenschaft geben konnte und kann – seine intellektuelle Wirkmacht, analytische Kühle, kreative Kombinatorik, auch: sein kritisches Potenzial. Allerdings scheint die Studie selbst in einigen Momenten (zwei Beispiele wurden angesprochen) mit ihrem differenztheoretischen Alternativmodell nicht minder umfassend denken zu wollen. Dem gegenüber erscheint es für eine Literaturtheorie, die ihre Gegenstände nicht aus den Augen verlieren will, wohl grundsätzlich sinnvoller, unter der Wolkendecke zu bleiben – ohne dort im Mindesten auf Abstraktion verzichten zu müssen. Eine mittlere Distanz 17 zu den Gegenständen bedeutet – gerade im Angesicht der beschriebenen Auseinandersetzungen im geisteswissenschaftlichen Feld – auch, sich nicht über die widerstreitenden Konkurrenztheorien zu erheben, sondern – vermittelnd, vergleichend, intermittierend, konkurrierend, kritisch – zwischen ihnen zu bleiben, wie die vorliegende Studien dies über weite Strecken mit Gewinn tut. Literaturwissenschaftliche Theorien bieten – auch wenn sie nicht streng klassifizierend verfahren – Ordnungen für jenes ›Unordentliche‹ an, das meist den Reiz der Texte ausmacht; eine buchstäbliche Über-Ordnung erscheint hier wenig fruchtbar. Die eingangs eingeforderte Toleranz zwischen den Gebieten der Theoriebildung ist kaum durch immer neue Hegemonialansprüche zu erlangen.

[61] 

Der studierte Mathematiker Bunia beschreibt zwar wiederholt das Ideal der Mathematik als ebenso präzise wie prinzipiell endlose Komplexität zulassende »›Strukturierungssprache‹« (S. 395, Anm. 20), sieht ein zukünftiges Projekt der Differenztheorie aber gerade darin, darzulegen, »warum der mathematische Formalismus für andere Bereiche nicht taugt« (S. 16). 18 Hier liegt ein weiterer wichtiger Grund dafür, warum Bunias Arbeit gegenüber den eingangs angesprochenen Problemen ›reiner‹ Systemtheorie vor allem dort überzeugt und fasziniert, wo sie partikularisiert und zwischen Theorien vermittelt: Die angesprochenen Einzeluntersuchungen und Anmerkungen zu literarischen Texten lassen jenen ihre Eigenheiten, Paradoxismen, Widersprüchlichkeiten, Unordentlichkeiten, und bringen sie doch – etwa unter dem Faltungsbegriff, der sein Gleichgewicht zwischen Abstraktion und Konkretion, Form und Inhalt findet – auf einen ›mittleren‹ gemeinsamen Nenner, mit dem sich in Zukunft sicherlich systematischer arbeiten lassen wird als mit ›reinem‹ systemtheoretischen Formalismus. Wird die Differenztheorie also einmal als »das Unterscheiden dritter Ordnung« (S. 380) bezeichnet, so lautet die Frage letztlich schlicht, wo man anfängt zu zählen. Geht man von der Prämisse aus, dass ein Kunstwerk bereits »das Beobachten des Beobachtens« (S. 366) lehrt, so steht der Theorie in Zukunft ein vielversprechender Platz neben den anderen Kunsttheorien zu.

[62] 

In formaler und handwerklicher Hinsicht sind der sehr brauchbare Anhang des Buchs (mit Bibliografie, Übersetzung der Zitate und Schlagwortregister) sowie eine ausgewogene Querverweispraxis hervorzuheben.

 
 

Anmerkungen

Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. (WV Studium 157) Opladen: Westdeutscher Verlag 1990.   zurück
Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. 4., neu bearb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 3.   zurück

Jürgen Habermas und Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. Gedacht ist hier etwa an die grundlegend unterschiedliche Auffassung der Autoren, was eine ›kritische Diskussion‹, die der Band ja beinhalten soll, überhaupt sein könne. Luhmann geht von einem systemtheoretisch-relationalen Diskussionsbegriff aus (ebd., S. 316) und will auf jedwede »polare und damit politisierbare Formel« (S. 291) verzichten, was freilich Habermas‘ Vorstellungen eines Diskurses massiv entgegensteht.

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S. etwa Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 160. Zur Idee einer »Rekonstruktion der Dekonstruktion« s. auch Niklas Luhmann: »Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung«. In: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen u.a.: Francke, S. 9–35, hier S. 19.   zurück
Interessant wäre hier sicherlich ein Abgleich mit Deleuzes Beschreibung der »Falte« als Motiv und Paradigma des Barock gewesen (Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000), geht es doch auch dort um den Übergang von linearer zu multipler Sinnkonstitution im Anbruch des modernen Denkens.   zurück
Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 93.   zurück
Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Schmidt 2001.   zurück
Bunia übernimmt diese Formulierung aus Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh 1996, S. 30. Er betont hierbei, die Autorinnen »gingen allerdings vermutlich mit meinem Ansatz nicht d’accord« (Faltungen, S. 100).   zurück
S. hierzu Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie. Hg. v. Dirk Baecker. 2. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme 2002, S. 111.   zurück
10 
Vgl. beispielsweise auch S. 224: »eine Grenze zwischen Modus und Darstellung«; S. 225: »das Verhältnis von Darstellung und Darstellungsmodus«. Gemäß dem eingangs verlautbarten Projekt müssten »Grenze« und »Verhältnis« je schon in den Begriffen mitgedacht werden.   zurück
11 
Auf der Website zum Buch (http://www.faltungen.de (5.7.3012)) ist das Rufzeichen denn auch gesetzt, s. das Kapitel »Kunst!«, http://www.faltungen.de/page.php?xSessionId=&xId=293 (5.7.2012).   zurück
12 
Willy Michel: »Kategorientransfer und monographische Darstellung. Zur Rollenästhetik und Sozialpsychologie des Romans im 20. Jahrhundert«. In: Georg Stötzel (Hg.): Germanistik– Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Teil 2: Ältere Deutsche Literatur, Neuere Deutsche Literatur. Berlin u.a.: de Gruyter 1985, 609–617, hier S. 613.   zurück
13 
Man denke etwa an die entsprechende Grunddefinition von Kommunikation als Synthese der einander reziprok bedingenden Selektionen ›Information‹, ›Mitteilung‹ und ›Verstehen‹ oder an die Typologisierung sozialer Systemizität nach ›Interaktion‹, ›Organisation‹ und ›Gesellschaft‹, wobei letztere alle Kommunikationen einschließt.   zurück
14 
Für eine Diskussion und Kritik entsprechender Ansätze in der ersten Hochphase der literaturwissenschaftlichen Diskussion vgl. Claus-Michael Ort: »Systemtheorie und Literatur. Teil II: Der literarische Text in der Systemtheorie«. In: IASL 20 (1995), S. 161–178.   zurück
15 
Dieses und die folgenden Zitate: Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 13.   zurück
16 
Ebd., S. 19.   zurück
17 
In der Soziologie entspräche dieser Gedanke etwa den oben bereits erwähnten »Theorien mittlerer Reichweite«, für die Merton 1962 u.a. in Abgrenzung von Parsons’ Strukturfunktionalismus plädierte (Robert K. Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin u.a.: de Gruyter 1995, S. 3 ff.).   zurück
18 
Irritierend ist dem gegenüber allerdings die ebenfalls im Schlussteil formulierte Wendung, Differenztheorie erlaube »[ä]hnlich wie der mathematische Formalismus […] trotz ihrer regulativen Terminologie sich der Mannigfaltigkeit sinnvollen Unterscheidens […] anzunehmen, ohne die Sprache als Fundament verwenden […] zu müssen« (S. 376).   zurück