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Mal „húbsch gemolt“, mal „getruckt“:

der Parzival in Handschrift und Frühdruck

  • Gabriel Viehhauser-Mery: Die 'Parzival'-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 55) Berlin [u.a.]: Walter de Gruyter 2009. X, 574 S. EUR (D) 118,00.
    ISBN: 978-3-11-020714-9.
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Kein Werk der mittelhochdeutschen höfischen Epik ist in größerem Umfang auf uns gekommen als der Parzival Wolframs von Eschenbach: Neben 16 mehr oder minder vollständige Handschriften treten rund 70 Fragmente, ja sogar in den Frühdruck ist das Werk bereits in den ersten Jahrzehnten nach dessen Erfindung eingegangen. Mit diesem Primärdruck, der 1477 in der Straßburger Offizin Mentelin gedruckt wurde, 1 sowie drei Codices des späteren 15. Jahrhunderts, die sämtlich aus der berühmten Hagenauer Handschriftenwerkstatt des Diebold Lauber hervorgegangen sind, befasst sich die vorliegende Arbeit (S. 53–102).

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Gabriel Viehhauser-Mery fragt dabei nach den Eigenarten spätmittelalterlicher Textaneignung, nach der Binnenstruktur der Überlieferungsträger und nach dem textkritischen Ort dieser Überlieferungsgruppe, die bereits seit Karl Lachmanns Klassifikation im Zuge seiner klassischen Wolfram-Ausgabe als verwandt (im *D-Zweig) erkannt wurde, 2 nun aber deutlich differenzierter untersucht und vom Verfasser mit der Sigle *m bezeichnet wird. Damit verbindet sich für Viehhauser-Mery die Frage, ob die Gruppe *m eine »Fassung« im engeren, von Joachim Bumke geprägten Sinne sei (S. 160 ff.), also eine Gruppe von Überlieferungsträgern, in denen ein gemeinsamer »Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar« werde. 3

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Man kann wohl zwei Ebenen unterscheiden, auf denen die vorliegende Studie interessant werden kann: zum einen eine engere, die Parzivalüberlieferung und deren Textkritik betreffende, zum anderen eine breitere, die auf die Arten der Textverbreitung und -bearbeitung höfischer Literatur im späten Mittelalter verweist und auch jenseits des konkreten Falls »Parzival« interessierte Leser finden könnte.

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Zunächst aber zu den textkritischen Ergebnissen.

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Die Überlieferungsgruppe *m

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Viehhauser-Merys neu geschaffene Gruppe *m umfasst die drei Lauberhandschriften mno aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2914; Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. pal. germ. 339; Dresden, Sächsische Landes- und Universitäts­bibliothek, Mscr. Dresd. M 66), Teile der sogenannten Handschrift V (»Rappoltsteiner Parzifal«) aus den 1330er Jahren (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 70), den Primärdruck der Straßburger Offizin Mentelin von 1477 (Sigle W) sowie die drei Fragmente F6, F19 und F69 (Liverpool, University Library, Ms. M 851; Würzburg, Staatsarchiv, verbrannt; Solothurn, Staatsarchiv, Handschriftenfragmente R 1.4.234 [2]) aus dem späten 13. beziehungsweise der Mitte des 14. Jahrhunderts. Gerade letztere bieten spannende Vergleichsmöglichkeiten. Ob freilich diese Gruppe *m tatsächlich bereits »in die älteste Zeit der Überlieferung« zurückgeht (S. 481), muss – das stellt auch Viehhauser-Mery ganz zu Recht fest – Vermutung bleiben.

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Eine Schlüsselposition im Text nimmt der Dreißiger 450 ein, um den herum Viehhauser-Mery einen Vorlagenwechsel, möglicherweise wegen Verderbtheit der ersten m-Vorlagen, annimmt (ein Stemma auf S. 109). Für Irritationen sorgen dabei freilich die Überschriften.

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Der Verfasser arbeiten die Charakteristik der einzelnen Überlieferungsträger auf verschiedenen Ebenen heraus: den Versen, den Überschriften, der Bebilderung etc. Besonders spannend – und damit wird schon voraus gewiesen auf eine Ebene, die auch jenseits der Parzivalphilologie interessant werden könnte – ist dabei das Kapitel zu den »Gliederungsmitteln« (S. 237–466). Hier wird deutlich, wie eigenständige gerade der Redaktor der Lauberhandschriften gearbeitet hat. Daneben zeichnen sich besonders diese Handschriften durch eine hohe Zahl zusätzlicher Verse aus. Freilich kann Viehhauser-Mery das seit Lachmann immer wieder wiederholte Verdikt der älteren Forschung, diese Handschriften böten »einen ziemlich sinnentstellten Text« insgesamt überzeugend korrigieren (S. 480).

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Der »Parzival« im Übergangsjahrhundert

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Viehhauser-Merys Studie lässt sich aber nicht nur als ein Beitrag zur Textkritik des Parzivals lesen. Auch in allgemeinerer Perspektive lassen sich hier interessante Einblicke in die Mediengeschichte des in dieser Hinsicht so spannenden 15. Jahrhunderts gewinnen. In einem lesenswerten Kapitel gegen Ende der Untersuchung etwa wendet er sich Nutzerspuren, vor allem an der Dresdner Handschrift zu (S. 467–479). Das überkommende Vorurteil, Wolframs »Fossil« 4 sei im späten Mittelalter gar nicht mehr gelesen, mithin nicht einmal mehr wirklich verstanden worden, wird dadurch zumindest im Einzelfall sinnfällig widerlegt. Die weiteren Hinweise auf Benutzerspuren in anderen Handschriften, die Viehhauser-Mery beibringt, bleiben aber leider sehr knapp.

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Dagegen verwendet er freilich einige Mühe, die Entstehungskontexte der Handschriften und Drucke einigermaßen zu rekonstruieren. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Beobachtung, dass sich sowohl Lauber als auch Mentelin im Umfeld des Straßburger Bischofs Ruprecht von der Pfalz-Simmern nachweisen lassen, sich also unter Umständen Handschrift(en) und Druck im Umfeld desselben Mäzen bewegen.

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Hier und da werden wertvolle Detailerkenntnisse beigebracht, die man allzu leicht überliest. So konnte Viehhauser-Mery mit großer Wahrscheinlichkeit das bereits von Hartmut Beckers in einer Inventarliste identifizierte, 5 bisher aber als Verlust verzeichnete Exemplar des Parzival-Drucks aus der bemerkenswerten Manderscheid-Blankenheimschen Bibliothek im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Inc. 25300) wieder auffinden – und damit zugleich zeigen, dass die offenbar sehr an mittelhochdeutscher Epik interessierten Sammler in der Tat auch ein Exemplar von Albrechts »Jüngerem Titurel« besaßen (S. 47 f.), was bislang noch nicht belegt war. Die Nürnberger Inkunabel enthält heute nur noch letztgenannten Titel; es ist aber sehr zu vermuten, dass ursprünglich der Straßburger Zwillingsdruck vollständig, das heißt in beiden Teilen, im Bibliotheksbestand vorhanden war.

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Beinahe selbstverständlich bleibt die Untersuchung nicht frei von kleineren Inkonsequenzen, wie sie eben passieren – etwa wenn die von Peter Jörg Becker aufgeworfene Unterscheidung zwischen einer »humanistisch gesonnenen Intelligenz« und einer »konservativ ausgerichtete[n] Klientel« als Käufer früher Druckerzeugnisse auf S. 89 als »letztlich nicht klar zu treffend[e] Unterscheidung« verworfen, 6 dann aber zwei Seiten später das »konservative[.] adelige[.] Publikum« als vornehmlicher Käuferkreis handillustrierter Drucke vorgestellt wird. Das vermag aber die Leistung des Verfassers nicht wesentlich zu schmälern.

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Wolframs »Parzival« als »unfester Text«

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Alles in allem wird uns hier also eine spannende und bisher unterbelichtete Gruppe von Handschriften in großer Detailfülle näher gebracht. Die Studie bemüht sich um Nachvollziehbarkeit und schafft das auch weitestgehend – vor allem, wenn die eigenen Arbeiten und Ergebnisse dargestellt werden. Lediglich wenn es um die Wiedergabe von Forschungsdiskussionen geht, gerät die Rekapitulation streckenweise so kurz und zum Teil auf die Andeutungsebene, dass es schwer fällt, diese ohne zusätzliche Lektüre nachzuvollziehen. Das bleibt aber selten.

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Mit dieser Studie ist Viehhauser-Mery 2007 an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern promoviert worden; entstanden ist sie im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Wolframs Parzival als »unfestem Text«, das vom Schweizer Nationalfond gefördert wurde. Aus selbigem Projekt ist noch eine zweite Dissertation entstanden, die Robert Schöller als Nachfolgeband derselben Reihe zur Fassung *T des Parzivals vorgelegt hat. 7 Auf weitere Arbeiten aus diesem textkritisch so fruchtbaren Umfeld dürfen wir zukünftig gespannt sein.

 
 

Anmerkungen

Digitalisat nach dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München: http://inkunabeln.digitale-sammlungen.de/Ausgabe_W-91.html    zurück
Karl Lachmann (Hg.): Wolfram von Eschenbach, Berlin 1833. S. XV und XVIII.   zurück
Joachim Bumke: Die vier Fassungen der »Nibelungenklage«. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 8), De Gruyter: Berlin u.a. 1996. S. 32.   zurück
Peter Jörg Becker: »Wolfram von Eschenbach: Parzival«, in: ders., Eef Overgaauw (Hg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S. 77–103, hier S. 79.   zurück
Hartmut Beckers: »Handschriften mittelalterlichen deutscher Literatur aus der ehemaligen Schloßbibliothek Blankenheim«, in: Die Manderscheider. Eine Eifeler Adelsfamilie. Herrschaft – Wirtschaft – Kultur. Katalog zur Ausstellung, Köln 1990, S. 57–82, hier S. 60 f.   zurück
Peter Jörg Becker: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eineide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1977, S. 247.   zurück
Robert Schöller: Die Fassung *T des »Parzival« Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 56), Berlin u.a. 2009.   zurück