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Die einen drin - die anderen draußen

Wie Wilhelm Heinses Ardinghello den Sprung in den Klassik-Kanon verfehlte

  • Leonhard Herrmann: Klassiker jenseits der Klassik. Wilhelm Heinses »Ardinghello« - Individualtiätskonzeption und Rezeptionsgeschichte. (Communicatio 41) Berlin/New York: Walter de Gruyter 2010. 352 S. EUR (D) 89,95.
    ISBN: 978-3-11-023037-6.
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Grundlegende Einzelstudien zur Kanonisierungsgeschichte deutscher Dichter sind trotz des wegweisenden Auftakts in dem von Renate von Heydebrand herausgegebenen Sammelband »Kanon – Macht – Kultur« 1 (1998) noch immer recht selten. Umso mehr Aufmerksamkeit hat eine Leipziger Dissertation verdient, die mit Wilhelm Heinse einen lange umstrittenen Autor zum Gegenstand hat, dessen Roman Ardinghello Goethe 1817 in seiner Schrift Zur Morphologie einen gescheiterten Versuch nannte, »Sinnlichkeit und abstruse Denkweisen durch bildende Kunst zu veredeln und aufzustutzen« (zit. Herrmann, S. 123).

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Heinses Ardinghello als Paradigma der Kanongeschichte

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Während im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Weimarer Klassik zum stabilen Fundament einer deutschen Kanonkultur wurde, liest sich die Rezeptionsgeschichte Heinses wie ein hartnäckiger, beständiger Widerstand gegen die Zuschreibung eines Klassiker-Status. Indem Herrmann die werkkonstituierenden und rezeptionsgeschichtlichen Mechanismen eines ›Klassikers jenseits der Klassik‹ analysiert, gewinnt seine Studie wichtige Einblicke in Prozesse literarischer Kanonisierungspraktiken.

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Herrmanns Ausgangsthese ist die Annahme, dass die »Kanonisierungsgeschichte von Heinses Ardinghello […] in zweifacher Hinsicht« eine Art »›Fallgeschichte‹«sei, und zwar für die »Konstruktion des ›Klassiker-Kanons‹, aber auch für den ›Fall‹ eines Textes aus diesem heraus« (S. 6). Der Ansatz bietet Chancen, Prozesse der Kanonisierung und Dekanonisierung an einem aufschlussreichen Paradigma zu beobachten, ohne einen normativen Klassikbegriff zu bemühen. Sein kanontheoretisches Profil leitet der Autor aus systemtheoretischen Prämissen ab, wobei er Systemtheorie »als epistemologisches Prinzip für die Literaturwissenschaft nutzbar« (S. 30) machen will. Vor diesem Hintergrund erscheint der »Kanon ›Klassik‹ als ein System«, das »genau jene Werke enthält, die er enthält«; der Kanon versammle »Werke, die strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen und auf eine bestimmte Bedürfnisstruktur einer Gesellschaft reagieren« (S. 32).

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Das System ›Kanon‹ und seine Umwelt

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Die Frage, wie der Kanon, verstanden als autopoietisches System, zu einer permanenten Wandlungen unterworfenen Reaktion überhaupt fähig sei, beantwortet Herrmann auf überzeugende Weise: »Autopoietische Systeme sind zwar selbstorganisierend und selbsterhaltend, existieren jedoch nicht isoliert von ihrer Umwelt«, so dass sie »Ereignisse in ihrer Umwelt identifizieren und in systemspezifische Ereignisse übersetzen« (S. 33) können. Das System ›Kanon‹ sei, so Herrmanns Folgerungen, daher einerseits »offen für Kanonisierungsansprüche und -bedürfnisse von außen« und spreche »dennoch kanonisierten wie zu kanonisierenden Texten bestimmte Eigenschaften zu, die über ihre Kanonisierung oder Dekanonisierung mitentscheiden« (S. 33). Damit akzentuiert Herrmann im Konzept des systemtheoretisch gefassten Kanonbegriffs den ständig wirksamen Umweltbezug und die Abhängigkeit von der Dynamik historischer Bedürfnisstrukturen: »Das System Kanon bleibt immer auf seine Umwelt angewiesen, die ihm neue Elemente zur Inklusion oder Exklusion zuträgt.« (S. 34). Und weil es in der Studie um den Klassik-Kanon geht, interessiert sich Herrmann insbesondere für die Mechanismen, die einen Text des literarischen ›Archivs‹ anschlussfähig für jenen Kanon erscheinen lassen oder auch nicht. Eine gewisse Verwandtschaft zu Achim Hölters systemtheoretisch argumentierenden Essay »Kanon als Text« 2 ist nicht zu übersehen – wie überhaupt Herrmann fast übervorsichtig die Passung seiner methodischen Grundlagen zu Positionen bekannter literaturwissenschaftlicher Kanontheorien (wie v. Heydebrand, Karl Eibl, Jan und Aleida Assmann, Simone Winko) hervorhebt.

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Werkanalysen:
Zur Individualitätskonzeption des Ardinghello

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Nach der methodisch-theoretischen Einleitung folgen die zwei Kernkapitel der Studie: »Die Konzeption von Individualität im Ardinghello« (S. 37–109) und »Die Rezeptionsgeschichte des Ardinghello« (S. 111–309). Das letzte Kapitel bildet schon vom Umfang her den Schwerpunkt des Ganzen. Und doch zeigt gerade die Auseinandersetzung mit Heinses Individualitätsverständnis, wie notwendig sich die präzise Klärung der komplexen philosophischen und anthropologischen Facetten des Romans für das Verständnis der späteren massiven Vorbehalte gegen den als anstößig empfundenen Entwurf literarischer Sinnlichkeit erweist. Herrmann war daher gut beraten, Philosophie und Anthropologie als Referenzfelder in den Mittelpunkt zu stellen, um Heinses »Konzept von Individualität« zu rekonstruieren, und Fragen der Ästhetik und des Utopischen ebenso wie den unproduktiven Streit um die Epochenzuordnung des Romans eher beiläufig zu streifen.

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Methodischer Ausgangspunkt ist, systemtheoretischer Logik entsprechend, Luhmanns Standardwerk Gesellschaftsstruktur und Semantik, vor allem das Kapitel »Individuum – Individualität – Individualismus«, 3 so dass Herrmanns werkanalytischer Teil über eine bloße Referierung philosophischer Einflüsse auf Heinse vom Neuplatonismus bis Rousseau, von der aristotelischen Metaphysik bis zum Sensualismus des 18. Jahrhunderts deutlich hinausgeht. Dies zeigt sich exemplarisch in Teilkapiteln wie »Die ganze Welt im Anderen: Individualität und Liebessemantik« (S. 89–96) und im zusammenfassenden Resümee »Individuum und Subjekt. Zum ›Standort‹ Heinses« (S. 104–109), das bereits die konzeptionellen »Grenzen« (S. 108) des spätaufklärerischen Romans und das Scheitern des Autors fixiert: »So steckt Heinses Versuch, unter den Bedingungen der Transzendentalphilosophie mit den Diskursmöglichkeiten der Metaphysik ein absolut freies, vollkommenes Individuum zu konzipieren, philosophiegeschichtlich wie poetologisch in einer ›Sackgasse‹.«(S. 109) Damit aber deuten sich bereits ungünstige Ausgangslagen für eine dauerhafte Positionierung Heinses im Klassikerkanon an; denn gerade »als ›sensualistisches‹ Alternativmodell individueller Freiheit« (ebd.) hat Ardinghello weder gegen den »idealistische[n] Kanon für die Zeit um 1800« eine wirkliche Chance noch gar die Kraft, sich als »Gegenkanon« (ebd.) auf Dauer zu behaupten.

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Kanongeschichte als Rezeptionsgeschichte

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Herrmanns rezeptionsgeschichtliche Revue des Ardinghello – der eigentliche Kern der gesamten Studie – ist chronologisch angelegt und reicht von der zeitgenössisch durchaus resonanzreichen Aufnahme des Romans bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Damit hat sich der Verfasser für einen Weg entschieden, der eine Fülle von Rezeptionsdokumenten auswertet und die Quellen auf ihre kanonqualifizierenden und -disqualifizierenden Werturteile hin untersucht. Die Haupttendenz – die starke Neigung zur Dekanonisierung Heinses – deutet sich freilich schon in den 1790er Jahren an, als »sich eine weitgehende Akzeptanz des Ardinghello«, die sich nicht zuletzt im Buchmarkterfolg des Romans äußerte, »in eine überwiegend ablehnende Haltung wandelt« (S. 111). Der Ansatz des Verfassers überzeugt in dem Maße, wie er seinen Durchgang durch die Rezeptionsgeschichte auf konzise Weise im Fokus des Klassik-Kanon-Diskurses organisiert. Herrmann verfügt über eine beeindruckende Materialbreite und über ein entwickeltes Problembewusstsein für Differenzierungen und Nuancierungen, so dass die Studie im Fortgang der Argumentation Schritt für Schritt die Einblicke in die Kanonisierungsthematik wie in die Ansprüche und Aporien des Romans erweitert. Schon in seiner Methodenreflexion hatte Herrmann die »Bedeutung von internen Strukturen und Texteigenschaften« (S. 34) für literarische Kanonisierungsprozesse hervorgehoben. Entsprechend detailliert arbeitet er bei der Analyse einzelner Rezeptionsakte nach, welche ›Eigenschaften‹ des Romans überhaupt wahrgenommen und welche dann für den Wertungsvorgang entscheidend sind. Diese Art Rezeptionsgeschichte hilft nicht zuletzt den literaturwissenschaftlichen Blick auf den Roman und seine Strukturen zu vertiefen und liefert auf diese Weise neue Impulse für künftige Ardinghello-Forschungen.

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Da Heinses romanhafte Option für die sensualistische Autonomie des Subjekts im Kontext der Schwellenzeit um 1800 eine breite Rezeption erwarten ließ, entschied bereits die Ausgangskonstellation über die Nähe und Ferne zum Klassikerkanon mit. Es ist daher nur konsequent, wenn Herrmann die »Zeitgenössische Rezeption« (S. 113–177) ausführlich analysiert. Trotz der anfänglichen Zustimmung, ja Begeisterung bei einzelnen Leser- und Leserinnengruppen wird doch bereits früh der ›Immoralismus‹ des Ganzen bemerkt und auch thematisiert. Herrmanns Quellen sind Briefzeugnisse, beispielsweise aus Weimar, wo der Roman eine für Kanonisierungspraktiken nicht unwichtige Anschlusskommunikation bewirkt. Positiven Resonanzen, wie in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (vgl. S. 120), stehen erste moralische Bedenken gegenüber (vgl. S. 119–121). Herrmann entscheidet sich im Folgenden dafür, einzelne herausgehobene Protagonisten der Kanonisierung intensiver zu beobachten, so etwa Goethe (S. 122–129), Wieland (S. 129–135), Gleim (S. 135–137) und Schiller (S. 137–143). Dieses Vorgehen verwundert in einer systemtheoretisch basierten Studie etwas, schon deshalb, weil Herrmann sein Vorgehen nicht transparent genug vermittelt und fast die gesamte zeitgenössische Rezeption auf Reaktionen literarischer Autoritäten aus dem Umfeld von Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Romantik beruht (Friedrich Schlegel [S. 143–153], Novalis [S. 153–156], Hölderlin [S. 156–169] und Tieck [S. 169–176]).

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Sind dies die für die sich bald abzeichnende Exklusionspraxis entscheidenden Kanonisten? Welche Resonanz hatten deren Urteile im zeitgenössischen Kontext; wer hat sich ihnen angeschlossen; und auf welchem Verständnis von ›Kanon‹ beruht die Kritik, die aus einer Zeit stammt, welche noch keineswegs einen klar umgrenzten, reflektierten Begriff eines deutschen Literaturkanons hatte? Die von Herrmann kanontheoretisch adaptierte Rezeptionsgeschichte zerfasert sich in Wirkungszeugnisse, deren Produzenten aus heutiger Sicht unumstrittene Kanongrößen sind. Aber gerade die Rolle, die der forcierte Sensualismus und das in Heinses Roman entfaltete Recht auf Sinnlichkeit im Dekanonisierungsprozess spielte, hätte einen vertieften Vergleich der Kanonkarriere Ardinghellos mit der Abwertung bestimmter Romane Wielands und mit der Verdammung von Schlegels Lucinde durchaus nahe gelegt. Eine Rezeptionsgeschichte, die ihren Blick auf einige Protagonisten des literarischen Feldes verengt, lässt zwar Konturen einer Kanongeschichte erkennen, löst aber nicht den Anspruch ein, literarische Kanonarchitekturen systemisch zu erhellen.

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Allerdings erweitert Herrmann im Folgenden seine Quellen um die »publizistische Rezeption« (S. 177–211), indem er u.a. die positive Beurteilung Heines im ›Jungen Deutschland‹ hervorhebt und in diesem Zusammenhang den Roman Ardinghello in seiner kanonischen Wirkung auf Heinrich Laubes Novelle Die Poeten (den ersten Teil der Romantrilogie Das junge Europa) betrachtet: Dort, wo Heinses Sensualismus, seine Individualitäts- und Liebeskonzeption auf ein zustimmendes Echo stößt, zeigt sich »die Wirkungsmächtigkeit der Heinse-Deutung Laubes« (S. 202). Analoges ließe sich auch für Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin nachweisen – bei aller Unterschiedlichkeit der Liebesthematik; und selbstverständlich gehört Heine in diesen Kontext (vgl. S. 207–211). Da Herrmann sich im Wesentlichen auf die Rezeptionsgeschichte Heinses konzentriert, entgeht ihm die kanongeschichtliche Brisanz des jungdeutschen Rekanonisierungsversuchs, der eng verbunden war mit deutlichen Vorbehalten gegen ein normatives Verständnis der Weimarer Klassik als Gipfel- und Höhepunkt deutscher Literatur schlechthin.

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Es geht daher in den 1820er und 1830er Jahren nicht um die Frage, ob Heinse zum Klassikerkanon gehört oder nicht, sondern um die Möglichkeit des semantischen Umbaus im Literaturkanon selbst. Dass letztlich jungdeutsche Publizisten wie Gutzkow mit diesem Vorhaben gescheitert sind, hängt aufs engste mit dem schon im frühen 19. Jahrhundert bemerkbaren, in den folgenden Jahrzehnten immer deutlicherem moralischen, juristischen und sozialen Disziplinierungsdiskurs zusammen, der mit seinen Tabuisierungen von Sexualität und Sinnlichkeit eine spezifische ›Umwelt‹ schafft, und die Romane wie Ardinghello und Wally, die Zweiflerin von vornherein als unsittlich markiert. Die Argumentationsmuster lassen sich im späteren 19. Jahrhundert am Beispiel der publizistischen Attacken gegen das Romanwerk Emile Zolas veranschaulichen; sie reproduzieren Positionen, wie sie am Paradigma Heinses bis ins Detail von Herrmann dargestellt werden.

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Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Literaturgeschichten bis 1900 beinahe stereotyp, wie der im Bildungsbürgertum und in den Gymnasien viel gelesene Friedrich August Pischon, Heinses »›südliche Gluth, erhitzte Phantasie, schlüpfrige, wollustathmende Schilderungen‹« (S. 216) im Ton der moralischen Entrüstung zurückweisen. Auch Eichendorff hat, wie Herrmann zu Recht hervorhebt (S. 217f.), sich als Literarhistoriker den Kritikern angeschlossen, die paradoxerweise seinem eigenen Romanerstling Ahnung und Gegenwart sowie der Novelle Das Marmorbild mit analogen Argumenten begegneten und beide Werke erfolgreich bis zum Ende des Kaiserreichs aus dem Schulkanon heraushielten.

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Herrmanns Durchgang durch die Literaturgeschichten ist konzise, materialreich, umfassend und differenziert: eine vorbildliche Rekonstruktion von Rezeptionsprozessen, in denen die sakrosankte Wertungs- und Kanonisierungspraxis der Weimarer Klassik als Referenzsystem durchscheint. Zugleich verdeutlicht Herrmann die faktische Präsenz Heinses in den Literaturgeschichten: Der Autor und sein Roman sind keineswegs vergessen, ja nicht einmal ins ›Archiv‹ verdrängt, sondern noch im Modus der Zurückweisung und Ablehnung erstaunlich präsent. So verwundert es nicht, dass sich im späteren 19. Jahrhundert der »Beginn einer Heinse-Philologie« (S. 247) abzeichnet, die den Ardinghello zum Editions- und Forschungsgegenstand macht und Heinses Vernetzung in seinem zeitgenössischen literarischen Feld genauer untersucht. Herrmann leitet daraus eine »Historisierung als Kanon-Strategie« (S. 263) ab, bevor er, von Nietzsche und den Moderne-Konstellationen um 1900 ausgehend, konstitutive Veränderungen des Heinse-Bildes im frühen 20. Jahrhundert darstellt, das eine gewisse Aufwertung der Sinnlichkeits- und Individualitätskonzeption Heinses einschließt und im Autor einen Vorläufer und Verwandten vitalistischer, ›moralfreier‹ Lebensutopien entdeckt. Heinse jedoch bleibt – so Herrmanns Schlussfolgerung – ein klassischer Außenseiter: »Die Unmöglichkeit, den Ardinghello in den Klassiker-Kanon zu integrieren, bedingt bis heute seine eigentümliche Lage innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses« (S. 315) – eben ein, wie Herrmanns Buchtitel-Formel treffend umschreibt, »Klassiker jenseits der Klassik«.

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Fazit

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Wer sich mit Heinse und dem Ardinghello auseinandersetzt, wird an Herrmanns fundierter, materialreicher Studie nicht vorbeikommen; beide Schwerpunkte, die Werkanalyse und die Rezeptionsgeschichte, bieten Einblicke in einen immer noch lohnenden Forschungsgegenstand und lesenswerten Roman. Die Grenzen der Untersuchung liegen freilich in ihrer methodischen Konzeption. Zwar hatte Herrmann schon zu Beginn richtig herausgestellt, dass Kanonwerke »auf eine bestimmte Bedürfnisstruktur einer Gesellschaft reagieren« (S. 32). Aber bis zuletzt bleibt offen, welche Kanoninstanzen und welche tonangebenden kanonkulturellen Protagonisten dafür sorgen, über Generationen hinweg dem Roman Ardinghello den Zugang zum Klassikerkanon zu verweigern. Es liegt auf der Hand, dass jene »bestimmte Bedürfnisstruktur« auf der Verdrängung von Bedürfnissen und einem Kanonverständnis beruht, dass klassischen Werken jede Lizenz auf Sinnlichkeit und Immoralismus verweigert. Über diese und ähnliche Prozesse hätte vielleicht ein an historischer Diskursanalyse orientierter Untersuchungsteil Aufschluss geben können: Rezeptionsgeschichten allein helfen hier ebenso wenig wie ein systemtheoretisch geschlossener Kanonbegriff weiter, zumal an Kanonisierungspraktiken selbstverständlich nicht nur Dichter des zeitgenössischen Feldes, Literaturkritiker und Literarhistorie betreibende Germanisten beteiligt sind. Die Akten über die »Klassiker jenseits der Klassik« sind also noch nicht geschlossen.

 
 

Anmerkungen

Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998.   zurück
Achim Hölter: Kanon als Text. In: Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1997, S. 21–39.   zurück
Niklas Luhmann: Individuum – Individualität – Individualismus. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. S. 149–258. Ein weiterer wichtiger Referenzautor Herrmanns ist Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg: Felix Meiner 2002.   zurück