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Das Reale
oder:
Was das 20. Jahrhundert im Innersten zusammenhält

  • Robert Buch: The Pathos of the Real. On the Aesthetics of Violence in the Twentieth Century. (Rethinking Theory) Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2010. 217 S. Kartoniert. USD 60,00.
    ISBN: 978-0-8018-9756-6.
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Das sogenannte Reale bildet heute den gemeinsamen Nenner einer ganzen Reihe interdisziplinärer Forschungsaktivitäten – und das im Hinblick auf den deutschsprachigen Raum nicht zuletzt auch durch das Konstanzer Graduiertenkolleg Das Reale in der Kultur der Moderne. An der University of Chicago hat Robert Buch in den vergangenen Jahren die Bedeutung des Realen im Selbstverständnis des (sehr) langen 20. Jahrhunderts erforscht und im transatlantischen Dialog kommuniziert. In seiner komparatistisch angelegten Studie zur Darstellung von Gewalt, Grausamkeit, Leid und Schmerz bei Klassikern der Moderne wie Franz Kafka, George Bataille, Claude Simon, Peter Weiss und Heiner Müller präsentiert er nun die Ergebnisse. Den Begriff ›Reales‹ veranschlagt Buch für literarische, am Referenzmedium des Bildes ausgerichtete Verfahren, die angesichts der unvorstellbaren Dimension von Gewalterfahrungen in (totalitären) Regimes, Kriegen, Konzentrationslagern und Revolutionen an der Darstellung dieser Gewalt gewissermaßen scheitern. Diesen Verfahren der (Un)Darstellbarkeit ist die Position des Beobachters implementiert, was schließlich – rezeptionsästhetisch gewendet – zu einer Spannung führt, die weder in entlastender Katharsis noch in Mitgefühl oder Mitleid abgeführt werden kann. Was Buch daher in den Texten beschreibt, das ist die dialektische Ökonomie von Repräsentation und Präsenz, Figuration und Defiguration, Immanenz und Transzendenz einer Ästhetik des Realen.

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Von der Passion zum Pathos des Realen

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Zwischen Alain Badiou und Jacques Lacan entwickelt Buch seine beiden zentralen Begriffe: den psycho-ontologischen Begriff des Realen und den stilistischen des Pathos. Dabei transformiert Buch Badious ›passion du réel‹, jene Besessenheit für die Gewalt und den Schmerz vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die der Philosoph in Le siècle der Kunst und Literatur attestiert, in ein (rhetorisches) Darstellungsverfahren. Der die Psychoanalyse Lacans beerbende Begriff des Realen changiert bei Badiou auf unbestimmte Art und Weise zwischen Affekt und Faktum (vgl. S. 1). Im Gegensatz zu anderen Versuchen, die moderne und postmoderne Ästhetik zu erklären, hält Badiou Gewalt und Schmerz für den zentralen Motor des 20. Jahrhunderts, indem er sie gleichzeitig von ihren tragischen Implikationen entbindet:

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If we associate the real with horror and disgust, as, say, in the sight of wounds, of bare flesh, of bodies in agony, the kinds of things with which it is frequently linked in Lacan, then Badiou’s depiction of the past age is, in some respects, not that different from other accounts of the century that have singled out the unheard-of scale of violence and destruction as its defining characteristic. But as much as the passion of the real may bear responsibility for the century’s darkest moments, Badiou tends to recall this passion as the mobilizing force behind the century’s most audacious aspirations, refusing, by the same token, to dwell on its tragic aspects. (S. 2)
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Mit dem Begriff des Realen macht Badiou also gegen Tendenzen mobil, die Gewaltverfallenheit des 20. Jahrhunderts als Ver(w)irrung oder Pathologie zu bewerten. Das Reale speist vielmehr einerseits die Bilder der kulturellen Einbildungskraft; andererseits treibt die Passion für das Reale die Menschen an, politisch und ethisch zu handeln. Diese doppelte Funktion liegt in der Struktur des Realen begründet, die das Begehren nach dem Realen mit einem Mangel an Realem verbindet:

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For Badiou the real is a political, and indeed an ethical, category, but what it indicates, above all, is a lack in and of reality, a kind of ontological shortcoming. The twentieth century felt this lack acutely, and its defining passion was to counter it. (S. 3)
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Diese Beschreibung eines Zeitalters der Extreme, wie Eric Hobsbawm bemerkt, ist insofern selbst extrem, als Badiou die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts als Kehrseite der Sehnsucht nach dem Realen versteht; gemeint ist ein Vermögen (transformative power), das Präsenzerfahrungen überhaupt erst – wieder – möglich macht. Den totalitären Phantasmagorien von Zerstörung und Reinigung stellt Badiou deshalb einen aktiven Nihilismus (active nihilism) oder eine affirmative Negation (affirmative negation) gegenüber, so dass Buch das Reale als Figur eines unversöhnlichen Antagonismus bzw. Konflikts bezeichnet. Völlig undialektisch bewegt sich diese Figur zwischen Ende und Neubeginn, Zerstörung und Anfang:

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Unlike the notion of the real in Lacan, and in one of the most vocal advocats of Lacanian psychoanalysis in the late twentieth century, Slavoj Žižek, Badiou’s conception of the real is […] an ›activist‹ one. The real is very much something to be seized. (S. 6)
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Dergestalt kann man das Reale als libidinösen Impuls bezeichnen, der die Menschen motiviert, sich auf Konflikte und Konfrontationen einzulassen. Dabei spielt der Preis des Realen – das menschliche Leiden – für Badiou keine Rolle. Die Passion für das Reale liegt diesseits von Gut und Böse; sie kennt weder Mitleid noch Erbarmen. Indem Buch freilich in seinen Untersuchungen der Konfrontation mit Gewalt und Schmerz in literarischen Texten der Moderne Badious Passion durch die stilistische Kategorie des Pathos ersetzt, verlagert er die Aufmerksamkeit von der existentialistischen Dimension des Realen auf dessen Theatralität:

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The complex semantics of ›pathos‹ is a better match for the elusive real and the twentieth century’s engagements with it, not just because it implies a kind of dialectic of grandeur ›and‹ defeat but also because of another prominent connotation it has to this day: the idea of ›theatricality‹. (S. 8)
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In seiner aktiven, intervenierenden Dimension geht das Reale – wie Buch ausführt – mit Badious Konzept des Ereignisses (event) einher. Dergestalt schafft es die Vernunft zumindest für den Moment der Begegnung mit dem Realen ab (deregulation of the logic of the world). Dabei verschiebt sich das Kräfteverhältnis innerhalb der Trias von Realem, Imaginärem und Symbolischem, in der nun das Reale privilegiert wird, eben gerade weil es weder in einem Bild stillgestellt noch auf einen Begriff gebracht werden kann. Das Reale ist das, was im Moment von physischer Ex/istenz verloren geht, wenn das Subjekt sowohl in den imaginären als auch in den symbolischen Raum (realm/domain/space of the Imaginary-Symbolic) eintritt. Als Markierung einer Leerstelle ist es per se abwesend und unzugänglich; dort, wo es auftaucht, bricht es ein oder durch und zerschmettert die Repräsentation (shattering representation). Zwischen Kantschem ›Ding an sich‹ und Freudschem Trauma blockiert das Reale mit immenser Energie das psychische System. Kurzum: Man bekommt es mit einem geradezu körperlichen ›memento mori‹ zu tun, dessen Sinn unfassbar, dessen Erlebnis umso schockierender ist. In Analogie zu Lacans großem Anderen handelt es sich bei Badiou also auch um ein absolutes Reales (mit großem ›R‹):

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The Real is at times associated with primal organic matter of which we catch a glimpse wherever bodies are torn apart; it figures as the material, corporeal foundation of the subject from which we shrink in horror as from our own finitude wherever we are reminded of it – our unfathomable origin and end being the contingent facts of our existence that the Symbolic is unable fully to grasp. (S. 9)
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In diesem Sinn ist das Reale mit dem Paradigma der Repräsentation eigentlich nicht zusammenzudenken, besteht seine genuine Leistung doch vielmehr in einer phantasmagorischen Präsenz (phantomlike presence) – eine Präsenz, die in den Schnitten und Brüchen der symbolischen Ordnung in Erscheinung tritt. Dieses performative ›Undoing‹ der symbolischen Ordnung legt die Affinität des Realen zu Gewalt und Zerstörung gewissermaßen motivisch nahe: »As in Badiou, the Lacanian Real is linked to violence and destruction« (S. 10). Im psychoanalytischen Verständnis steht mit dem Realen daher das Zentrum der symbolischen Ordnung zur Diskussion – und zwar in der Lacanschen Dialektik des Anderen, dem sich das Subjekt – Buch verweist mit Lacan auf Antigone bzw. auf Medea – zu entziehen strebt:

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Although the Real is accentuated slightly differently in Badiou, Lacan, and Žižek, it is privileged for similar reasons: for being antithetical to the reality principle and for being a kind of conduit for the undoing and radical recasting of the space of subjectivity and sociality. (S. 15)
[15] 

Wie aber hat man sich nun eine Kunst bzw. Ästhetik des Realen vorzustellen – noch dazu im Medium des literarischen Textes? Kann es nur Gewalt und Grausamkeit, Schmerz und Leid sein, die ein Gemälde darstellt bzw. deren Vision ein Text beim Rezipienten hervorruft. Kurzum: Geht es um die Repräsentation des Realen – und wenn ja, wie kann es repräsentiert werden? Oder geht es um die Präsenzerfahrung des Rezipienten – aber wie wäre darüber zu sprechen? Doch Buch schlägt weder den einen noch den anderen Weg ein. Sein systematischer Ausgangspunkt ist der Bildbegriff:

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In many instances the violence is evoked in strikingly visual terms, sometimes literally as a pictorial representation, sometimes ›as if‹ it was an image before which we are summoned. The term ›spectacle‹ should be taken in its proper sense of ›given to be seen,‹ of being arranged and staged for a spectator. The affinity between the focus on violence and excess and the appeal to images is one of the central puzzles of the texts’ engagement with the real. (S. 16)
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Daraus ergibt sich für Buch eine Ambiguität des Realen zwischen visueller Materialität und gespenstischer, auratischer Immaterialität. Mit der Rahmung, Aufführung und Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Bilder werden die Details gewissermaßen der Realität ent-rückt, sie werden ver-rückt und treten so merkwürdig surrealistisch oder hyperrealistisch in Erscheinung. Gleichzeitig kann das Reale aber niemals wirklich ein Gegenstand der Repräsentation sein: »It is what disrupts the virtuality of the image« (S. 17).

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Pathos ist daher das auf die attische Tragödie zurückführende, die Christlichen Passionsdarstellungen kreuzende Mittel, das Buch für seine Textanalysen stark macht. Der Ambiguität des Realen trägt es insofern besonders Rechnung, als sich Pathos einem spektakulären Blick auf die Szenen von Gewalt und Leiden verdankt (sight of suffering). Pathos ist also in Buchs Verständnis weniger eine stilistische als vielmehr – so wie auch das Reale – eine figurale Kategorie. Als Beobachtung zweiter Ordnung wird die Figur des Realen beispielsweise in den im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Pathosformeln (Aby Warburg) medial realisiert. In ihnen nimmt Pathos erst Form an. In der modernen Literatur analysiert Buch solche Formeln als ›mises en scène‹ und ›mises en image‹ und d.h.: als visuelle Inszenierungen (staging). Diese Bilder oder Szenen stellen Gewalt und Leid dar und gleichzeitig stellen sie den Blick des Betrachters auf diese Szenen dar.

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Pathos ist darüber hinaus aber vor allem die Kategorie, mit der Buch seiner Ästhetik eine Ethik des Realen an die Seite stellt:

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Pathos stands for the loss of the very aspirations Badiou’s passion of the real seeks to salvage. It also means a form of mourning that knows no consolation in the face of the destruction and suffering brought about by the failed encounters with the real. (S. 23)
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Intensiv hat sich Buch bis zu diesem Punkt auf Badiou eingelassen und dessen ›passion du réel‹ in Hinblick auf eine Ästhetik der Gewalt im 20. Jahrhundert einem allgemeinen Pathos-Konzept integriert, um schließlich sowohl sein Befremden zu äußern als auch Kritik an der Inhumanität des Konzepts zu üben. Buch stellt nämlich fest, dass Badiou, obwohl er mit dem Realen einige der wichtigsten politischen und künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts auf einen Nenner bringen kann, mit der Affirmation von Gewalt »a good deal of the tensions and of the complexity of the terms he suggests and of the radical engagements of the twentieth century they are meant to elucidate« verpasst (S. 23). Um die ästhetische wie ethische Differenzierung geht es Buch daher in den folgenden Kapiteln, in denen er kanonischen Texte der Moderne und Postmoderne einem Close-Reading unterzieht.

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Lob der Grausamkeit: Bataille, Kafka und Ling-chi

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Opfer und Transgression sind in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts Schlüsselkonzepte. Das erste Kapitel basiert auf einem Dialog über Gewalt, in dem Buch George Batailles Auseinandersetzung mit den Fotografien einer öffentlichen Hinrichtung in Beijing um die Jahrhundertwende und Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie aufeinander bezieht. Beide Texte sind mit einem Realen konfrontiert, das sich der logischen Bewältigung entzieht, weil die Gewaltexzesse nicht als bedeutungsvolle Erfahrung dargestellt werden. Seit den 1930ern setzt sich Bataille mit Ling-chi auseinander, einer chinesischen Hinrichtungsmethode, bei dem der Körper des Opfers mit ›tausend Schnitten‹ Stück für Stück zerlegt wird (seit 1905 ist Ling-chi in China offiziell verboten). In Les larmes d’Éros beschreibt Bataille mit ungebrochenem Pathos dokumentierte Fotografien, während Buch darüber hinaus auch Augenzeugenberichte berücksichtigt. Die archaische Gewalt dieser Foltermethode ist von Codes und Konventionen geregelt: Es gibt einen Plot (Bitte, Vergebung, Erlösung), dem die Muster der Qual (supplice-pattern) integriert sind, so dass die Folter einer präzisen Dramaturgie folgt. Im Zentrum von Buchs Interesse steht die Beziehung des Realen zur symbolischen Ordnung, die in Batailles Begeisterung für dieses Opfer auf das performative ›Undoing‹ der symbolischen Ordnung zielt. Dieser affirmativen Haltung liegt nämlich die Annahme zugrunde, das die symbolische Ordnung immer wieder suspendiert und überschritten werden muss – und zwar in kontrollierter Art und Weise. Auf diesem Weg kann das Subjekt in Kontakt mit denjenigen Kräften treten, gegen die sich die Kultur stets zu behaupten hat, weil sie den kulturellen Raum sowohl von innen als auch von außen bedrohen. Unter dem Strich weist Batailles Interesse an Opfer und Transgression (Gewalt, Sexualität, Tod) also auf dasjenige hin, das nicht in die symbolische Ordnung integriert werden kann, aber für die Ausbildung menschlicher Subjektivität und des Sozialen ausschlaggebend ist.

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Trotz ähnlicher Dramaturgie liegt Kafkas In der Strafkolonie eine unterschiedliche Vorstellung von der Beziehung des Subjekts zur symbolischen Ordnung zugrunde. Kafkas Maschine, die das Gesetz in den Körper des Opfers einschreibt, bestätigt nämlich die Grausamkeit dieser Ordnung an und für sich. Die Gewalt bricht nicht von außen in den Raum des Symbolischen ein, sondern sie konstituiert ihn. Dabei ist die verhandelte Form des Leidens mit zwei zentralen Themen in Kafkas Werk verbunden: Zunächst kann man die Erzählung als fehlgeschlagenen Versuch interpretieren, das Subjekt in die symbolische Ordnung ›einzuschreiben‹, die ihm als ostentativ arbiträres Gesetz unbegreiflich bleiben muss. Die Verbindung von Leid, Schmerz und Schreiben betont auf der anderen Seite einen zweiten Aspekt: die misslingende Transformation von Leben in Literatur, von Körper in Schrift. Die Figur wird wie viele andere von Kafkas Helden ausgesetzt zurückgelassen – fremd, unerlöst, gefangen zwischen Leben und Tod. Anders als Bataille – und das ist die stilistische Pointe, die Buch herausarbeitet – ist Kafkas Pathos aber nicht affirmativ. Die Erzählung ironisiert und parodiert ihr eigenes Pathos und findet dabei ihren eigenen pathetischen Stil.

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Fragmentarische Beschreibung eines Desasters:
Claude Simon

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Das zweite Kapitel startet bei W.G. Sebalds Englischer Wallfahrt in Die Ringe des Saturns mit dem Panorama von Waterloo und anderen Kriegsbildern, um sich dann einem Autor zuzuwenden, dessen Text ebenfalls in der Tradition der Schlachtbilder steht. Claude Simons Romane – Buch analysiert u.a. La route des Flandres und Les Georgiques – stehen für die fortgesetzte Anstrengung, die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen. Dabei geht es Simon um die Unmöglichkeit, diese Erfahrungen angemessen auszudrücken. Der Krieg markiert den plötzlichen Abbruch der symbolischen wie auch der imaginären Ordnung, weil weder Begriffe noch Bilder dieser Erfahrung gerecht werden. Im Krieg begegnet das Subjekt eben dem Realen, das keiner Ordnung integriert werden kann. Alle Bemühungen, die traumatischen Erfahrungen zu verstehen, verhindert Simon durch einen imaginativen Ansturm – einem Exzess übergenauer Bildern, die andere Bilder des ikonischen Archivs heraufbeschwören und dabei gleichzeitig ablösen bzw. absetzen. Auf gewissermaßen ikonoklastische Art und Weise bricht Simon mit den vorgefertigten Bildern, die eine Ikonographie des Pathos im kulturellen Gedächtnis zur Verfügung stellen. Seine Texte schwanken zwischen der Transformation alles Gesehenen oder Erfahrenen zu Bildern einer fortgesetzten ›mise en image‹ sowie der Zerstörung solcher Bilder und ihrer Sinnversprechen. Mit diesem Darstellungsverfahren – und das ist die Kehrseite von Simons unermüdlicher Suche nach Bedeutung und Bewältigung der Kriegserfahrungen – rückt das wahre Problem in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn Simons Figuren treibt weniger die Frage um, wie das Geschehene zu rekonstruieren sei, als vielmehr die unerklärliche Tatsache, warum ausgerechnet sie es überlebt haben. Alle Anstrengungen der Romane drehen sich um dieses Rätsel. Deshalb spricht aus Simons Romanen, obwohl sie sich gegen ein heroisches Kriegspathos richten und ihre Energie aus ihrer polemischen Opposition gewinnen, das ebenso sublime wie ambige Pathos der untoten ›Helden‹.

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Widerstand gegen das Pathos und
Pathos des Widerstands: Peter Weiss

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Im dritten Kapitel wendet sich Buch mit Peter Weiss einem Künstler und Schriftsteller zu, dessen Werke ihren ursprünglichen Impuls von einem schockierenden Erlebnis erhalten. Die Konfrontation mit Bildern der nationalsozialistischen Konzentrationslager lässt den jungen Künstler am Vermögen der Kunst zweifeln. Angesichts dieses Realen scheint alle Kunst obsolet zu sein. In seiner programmatischen Laokoon-Schrift reflektiert Weiss die Darstellung von Schmerz sowie die Beziehung von Bild und Text in dieser Darstellung. Dabei spielt er die Position des Betrachters, der vom Anblick der Gewalt und des Leidens gelähmt ist, gegen diejenige des engagierten Beobachters aus. Diese anti-pathetische Haltung zeichnet vor allem das Oratorium in 11 Gesängen: Die Ermittlung aus – Weiss’ berühmtes Drama über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Das Stück hat nicht zuletzt deshalb einen Skandal hervorgerufen, weil es nahelegt, dass der Völkermord weniger eine Folge der rassistischen Ideologie als des Kapitalismus ist. In der minutiösen Darstellung von Leid und Folter erzeugt die Gerichtsform trotz bzw. aufgrund der endlosen Bebilderung des Horrors eine gezielte Affektlosigkeit. Offensichtlich versucht das Stück die Versuchung des pathetischen Wegs zu vermeiden. Indem Weiss in der Ästhetik des Widerstands, seiner monumentalen Trilogie über den Antifaschismus der 1930/1940er Jahre, diese Poetik der Anästhesie fortsetzt, macht in diesem letzten Werk der Widerstand gegen das Pathos einem Pathos des Widerstands Platz. Der Roman lädt seine Figuren vor die berühmtesten historischen Gewaltdarstellungen vom Pergamon Fries bis zu Théodore Géricaults Le radeau de la Méduse oder Pablo Picassos Guernica ein, um nur die wichtigsten zu nennen. Indem er ihnen ein Denkmal setzt, adelt Weiss diejenigen, die ihr Leben für den Widerstand gegeben haben. So sichert er ihnen einen Platz in einer Genealogie, die die historische Niederlage umwertet und in einen Sieg konvertiert. Das Pathos des Widerstands besteht bei Weiss dementsprechend nicht in der Agonie der Figuren, die der Roman so detailliert bebildert, sondern darin, das Gefühl von Lähmung und Verzweiflung überwinden zu können.

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Medeamaschine: ›Fallout‹ der Gewalt bei Heiner Müller

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Das vierte Kapitel behandelt Heiner Müllers später so bezeichnetes post-dramatisches Werk. Es konfrontiert die Rezipienten mit eratischen Gewaltexzessen. Buch setzt mit der Analyse des apokalyptischen Szenarios in »Bildbeschreibung« ein. Wie viele andere postdramatische Ekphrasen zeichnet auch diese eine spezifische Koppelung von Form und Inhalt aus: Die dramatische Handlung hebt Müller in einem fragmentarischen Tableau auf, in dem sowohl der Handlungszusammenhang als auch die Beziehung der Figuren untereinander unklar bleiben. Dieses Tableau stellt mit dem Motiv der Rückkehr der Toten wiederholte Akte schockierender, Abscheu erregender Gewalt aus. Zum besseren Verständnis von Müllers Inszenierung des Realen, die zwischen Hysterie, Groteske und Pathos changiert, wendet sich Buch den drei frühen Stücken einer »Versuchsanordnung« (Philoktet, Der Horatier, Mauser) zu. Auch sie handeln von Gewaltexzessen, die hier freilich noch nicht theatralisch ausgestellt, sondern in der Tradition der Brechtschen Lehrstücke verhandelt werden. Die »Versuchsreihe« fragt nämlich nach dem Rest der Revolution und danach, wie man mit deren ›Fallout‹, den negativen Konsequenzen revolutionärer Gewalt, umzugehen habe, die man gezwungen gewesen sei auszuüben. Müllers zu historisierende Antwort auf diese Fragen lautet: In Demut sei zu töten und d.h. sowohl im Bewusstsein der Unvermeidbarkeit (der Gewalt) als auch der Fehlbarkeit (der Henker). Die »Versuchsreihe« ist also vom Pathos der Henker gezeichnet, die der Revolution ihre Humanität opfern. In späteren Werken wie Bildbeschreibung, Hamletmaschine oder Medeamaterial hat Müller diese Perspektive politischer Rechtfertigung aufgegeben. Vor allem die Akte sinnloser Selbstverstümmelung und die Selbstmorde der Frauenfiguren bekräftigt dasjenige an der Gewalt, das man eben weder rechtfertigen noch verstehen kann und das in seiner Archaik sinn- und bedeutungslos bleibt.

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Bilanz

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Buch legt eine Topik des Realen in der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts vor. Gleichzeitig bestätigt er damit, dass im 20. Jahrhundert das hermeneutische Paradigma abgelöst worden ist, wie es Jean-Luc Nancy behauptet hat. 1 Mit dem Realen geht es um jene Präsenz, deren Medium der Körper bzw. die körperliche Evidenzerfahrung ist. Indem das Buch seine luziden Einlassungen mit einem Epilog zum britischen Maler Francis Bacon beschließt, bestätigt Buch diese Wendung in der Wissensordnung, über die er nicht spricht, die er aber zeigt: Auch Bacons Visionen von Agon und Exzess wie beispielsweise auf einem Triptychon aus dem Jahr 1965 mit dem Titel Crucifixtion operieren wie Buchs Textbeispiele im Spannungsfeld von Repräsentation und Präsenz, von Figuration und Defiguration, von Immanenz und Transzendenz. Einer Ikonografie des Leidens verweigert sich auch Bacon, der seinen grausamen Gemälden weder selbst einen Sinn zuschreibt noch deren allegorische Deutungen unterstützt. Stattdessen beharrt er und beharren die Gemälde auf ihrer inkommensurablen Grausamkeit. Wenn Buch dergestalt über das Reale in Texten und Bildern des 20. Jahrhunderts nachdenkt, dann nicht nur in einer hohen Verdichtung des reichen Materials, sondern auch in einer Art und Weise, die selbst so schön und in vielen ihrer Wendungen so eindringlich, ja vor allem in den Bildbeschreibungen so real wird, weil sie sich einem ganz eigenen unpathetischen Pathos verdankt.

 
 

Anmerkungen

Jean-Luc Nancy: The Birth to Presence. Stanford: University Press 1993.   zurück