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Literarische Anthropologie als Forschungsproblem

  • Rudolf Behrens / Maria Moog-Grünewald (Hg.): Moralistik. Exploration und Perspektiven. (Romanistisches Kolloquium XII) München: Wilhelm Fink 2010. 418 S. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-4953-5.
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1. Forschungskontext

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Der hier zu besprechende Band behandelt mit der Moralistik einen Gegenstand, dessen wissenschaftliche Behandlung im Rahmen der Kulturalisierung und Anthropologisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren von einigem Interesse sein kann, betrifft er doch nachhaltig deren semantische und theoretische Rekonfiguration von Strukturschemata wie Gott/Mensch, Stand/Individuum, Mensch/Natur von der Renaissance bis zur Aufklärung.

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Die Moralistik, deren Status und Deutung als literarische Anthropologie hier zur Erörterung steht, datiert mit dem Gros ihrer meist aus der Romania stammenden Quellen vor der Aufklärung, ist also nicht umstandslos mit den Parametern der Vernunftkritik im Geiste Foucaults zur Deutung zu bringen. Zu ihren kanonisierten Texten gehören Montaignes Essais (1580, 1588), Gracians Oráculo manual y arte de prudencia (1647), Pascals Pensées (posth.) La Rochefoucaulds Maximes et Réflexions (1664 u.ö.), La Bruyères Les Caractères (1688). Zur Reihe der französischen Epigonen zählen im 18. Jahrhundert Vauvenargues, Chamfort, Joubert. Für das 19. Jahrhundert mag Nietzsche als Moralist stehen, für das 20. Jahrhumdert Alain (i.e. Émile-Auguste Chartier). Im deutschen Bereich 1 wäre das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) von Karl Philipp Moritz ein theoretisches und sein Anton Reiser (1785, 1786, 1790, in vier Teilen) ein praktisches Äquivalent.

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Die Moralistik des 16. und 17. Jahrhunderts bewegt sich zwischen dem Rekurs auf die Morallehre der Antike (Cicero, Seneca) und der Maßstäblichkeit des Sündenfalls, zwischen ersten frühneuzeitlichen Subjektsetzungen und der auf Erfahrung gründenden Beobachtung der Subjektdomestikation durch Gewalt, Zufall und zu Hofe. Sie ist übergängig zur Hofmannsliteratur, zu Klugheitslehren und zur Diätetik. Ihre psychologische Gestalt bewegt sich zwischen optimistischer Selbstgewissheit, Leibgeprägtheit, Affektenlehre, Heroismus und tragischem Bewusstsein. Ihre französische Ausprägung kann in mancher Hinsicht als eine Kunstform aus dem Geist des Protestantismus im katholischen Umfeld erscheinen. Ihr Pessimismus hat als Trägerschicht die beiden Verlierer der Fronden: die in Opposition zum Hof bleibenden Teile des Hochadels und die Noblesse de Robe. Der Hof von Louis XIV ist dieser Richtung Gravitationszentrum und Anschauungsmaterial für eine Haltung der Distanz. Ihre ästhetische Gestalt ist insgesamt charakterisiert durch verknappten Ausdruck und offene Form der Kompositionsweise, die speziell in Gattungsformen wie Essay, Maxime, Réflexion, Sentenz, Aphorismus, Pensée, Porträt und ähnliche zur Erscheinung kommt.

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Betrachtet man die Moralistik des 16. und 17. Jahrhunderts in der Perspektive der Autonomieästhetik, gebietet sich der Nachweis ihrer Ethikabweisung und/oder ihrer Ästhetisierung. Will man sie mit dem Geist des Poststrukturalismus und der Postmoderne kompatibel halten, ist sie in den Horizont Nietzsches und des späten Foucault zu stellen, wenn möglich vernunftkritisch zu lesen. In beiden Intentionen sind jene Denkansätze flach zu halten, die es erlauben, den historischen und sozialen Ort der Moralistik zentral zu stellen – wie etwa Norbert EliasDie höfische Gesellschaft –, um so das transepochale Switching beim Nachweis ihrer Geltung besser zu ermöglichen. Der Band privilegiert im Wesentlichen die ersten beiden Zugangsweisen. Der Gefahr der Engführung widerstrebt er jedoch durch Ausgriffe ins weite Feld der »literarischen Anthropologie« mittels der zeitlichen Erweiterung des moralistischen Korpus bis hinein ins 20. Jahrhundert, mittels der Einbeziehung anderer literarischer Gattungen, schließlich durch gelegentlicher Seitenblick auf die Geschichte des Menschenwissens.

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2. Bandgliederung und wissenschaftlicher Ertrag

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Der zeitlichen Ausspannung in 14 Beiträgen zu Gegenständen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert kann man entnehmen, dass die Herausgeber Ehrgeizigeres im Sinn hatten als die erneute Betrachtung dessen, was bisher konventionellerweise in der deutschen Romanistik als Moralistik bezeichnet wurde und im romanischen Kernbereich auch gut erforscht ist, wie das Vorwort (S. VII-XIII) richtig feststellt. In der Absicht der Universalisierung der Geltung des historischen moralistischen Diskurses stellt das Vorwort zunächst den höfischen Raum (Italiens, Spaniens und Frankreichs) als Keimzelle der Moralistik heraus und behauptet zugleich für das moralistische Schreiben den Status »modernen (?, H.T.) anthropologischen Wissens«. In einem zweiten Schritt führt es den Leser zu Kants »pragmatischer Menschenkenntnis«: »Der moralistisch beobachtete höfische Raum mutiert dabei zu einem protopsychologischen Laboratorium, aus dem heraus sich ein ›bürgerliches‹ und damit von sich aus zur Verallgemeinerung tendierendes anthropologisches Wissen entwickeln sollte.« (S. VIII). 2 Derart stehen ein als modern bezeichnetes moralistisches und ein auf Universalität angelegtes bürgerliches Wissen unerörtert im Raum. Die Brücke von der Moralistik zu Kant wird mit der Formel von dessen »Skepsis« gebaut. Sie ließe sich befestigen durch Kants moralistische Pointe vom Menschen als »krummes Holz«, der den andern benutzt und benötigt, hätte dann allerdings auch den vergesellschaftenden Aspekt dieser Formulierung ebenso in den Blick zu nehmen wie die nicht widerrufene, optimistisch gestimmte Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). Wollte man die Brücke im Zwischenraum von Moralistik und Kant verstärken, gehörte zu der »noch nicht ins rechte Licht gerückten Rezeptionsgeschichte« (S. VII) auch das Material der mittleren Aufklärung, in dem aus dem scheiternden Versuch einer ›Moralistik der Tugend‹ Einsichten erwachsen, welche ältere Dissimulationsdebatten zum ehrbaren Verhalten in systemtheoretische und funktionale Betrachtungsweisen aufzulösen beginnen. 3 In einem dritten Schritt geht das Vorwort wieder zurück auf die historische Moralistik, die nun aus der Hofkonstellation entlassen wird zugunsten der allgemeiner gefassten Verortung ihres Schreibimpulses aus »vielfacher Kontingenz« in »Früher Neuzeit und Moderne (?, H.T.)«, angesichts deren »jede Orientierung jeweils unbekannte Kontingenzen freizusetzen vermag« (S. VIII). Im selben Atemzug ist die Rede von gelegentlicher Nähe und partieller Konvergenz der Moralistik zu Theologemen augustinischer Provenienz. Gemeint ist der Jansenismus, dessen Bedeutung für Pascal und Racine Lucien Goldmann bereits 1955 nachgewiesen hatte. 4

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Während also die Formel von der »Kontingenzerfahrung« den Sitz im Leben der Moralistik undeutlicher macht und diese damit wohl universaler werden lassen soll, wird als zweiter Grund ihrer Verallgemeinerbarkeit die durch ästhetische Verknappung erreichte inhaltliche Offenheit der anthropologischen Diagnosen benannt. Hierauf zielt die Formulierung von einer »Ästhetik der Ambiguität, der Paradoxie und der Ironie der Moralistik«, die sie in eine Vorläuferschaft zu »moderne[n]« (?, H.T.) Anthropologien» (S. IX) bringe, »die das Wissen über den Menschen an die Darstellbarkeit seines (Sich)Verhaltens im doppelten Sinn knüpfen: an die empirische Sichtbarkeit und Vielfältigkeit seiner Selbstmodellierung und an die Möglichkeit, dieses Potential in diskursiver und/oder bildlicher Ordnung überhaupt erst darzustellen, bevor es einem Sein entspricht« (ibid.). Für diesen, in der Pointe etwas enigmatischen bleibenden, vierten Schritt der Konstruktion einer wissenschaftlichen und literarischen Nachfolgeschaft der Moralistik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert werden Paul Bourget, Simmel, Pirandello, Sartre und Plessner reklamiert, womit in der Hauptsache philosophische Anthropologie und Existenzphilosophie als Erben der Moralistik aufträten. Dieser Denkschritt bleibt leider unausgeführt, er wird auch in den Beiträgen nicht evidenziert. Auffällig ist die gnoseologische Zentrierung des Vorworts. Ebenso eine gehäufte, ohne Differenzierung bleibende Semantik von Moderne. Dieser letzte Aspekt vermittelt besonders den Eindruck des noch Unfertigen der Anspruchsreichtum signalisierenden Gesamtkonzeption. Dafür entschädigt eine sukzinkte, das Vorwort schließende Vorstellung der Beiträge. Ein Forschungsüberblick wird im Vorwort nicht gegeben. Die Einzelbeiträge sind bibliographisch meist gut dokumentiert.

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Die einzelnen Beiträge

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Im Einzelnen umfasst der Band zunächst zwei das Thema rahmende Beiträge. Karlheinz Stierle (»Was heißt Moralistik«, S. 1–22), stellt die Deutungsgeschichte des Gegenstands souverän in die lebensphilosophischen Herkunftslinien von Nietzsche und Dilthey, sodann mit den interessanterweise alle in den 1930er und 1940er Jahren entstehenden Arbeiten von Gerhard Hess, Fritz Schalk und Hugo Friedrich in den Horizont der romanistischen Fachgeschichte. 5 Er benennt Friedrich im Anschluss an Nietzsche als den Begriffsgründer, der seine Auffassung von Moralistik – seelische Tiefenschürfung ohne Moralrücksicht und offene Form – an Montaigne entfaltete. Die französische Forschungstradition, die nur von »moralistes« spricht, bleibt außer Betracht. Von symptomatischer Signifikanz ist die Kritik an Friedrichs optimistischer Montaigne-Deutung, die bei dem Bürgermeister von Bordeaux und späteren Privatier eine »ihrer selbst gewisse Individualität« ausgemacht hatte. Nach Stierle versperrt diese Sicht Friedrichs den Zusammenhang zur Moralistik des 17. Jahrhunderts und zu deren negativer Anthropologie, die zugleich den »heißen Kern der französischen Klassik« (S. 9) repräsentiere (S. 3, Fazit). Stierles Beitrag macht auch das grundsätzliche Problem kenntlich, dass ›Moralistik‹ weder eine Gattung repräsentieren noch letztlich eine Homogenität von Schreibart und Subjektposition beanspruchen kann.

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Der zweite, mit den Mitteln der Sprachkritik aus der Distanz geführte Beitrag, der das Thema nicht direkt untersucht, sondern es umkreist, stammt aus der protestantischen Theologie (Günter Bader, »Zugang zu ›Moralistik‹: Fünf Ausdifferenzierungen und eine vorläufige Definition«, S. 23–45). Er verweist zu Beginn auf die im Christentum erstmalige Ausdifferenzierung von Theologie und Moral im Zeitalter der Religionskriege durch den Protestantismus, eine Entwicklung, in deren Gefolge sich mit Kant und Nietzsche das Verhältnis beider verkehre, indem es nun der Moral bedürfe, um zu sagen, was Religion sei. Strukturierend ist auch der Hinweis auf Luhmann, der protestantische Ethik als Reflexionstheorie normativer (sc. theologischer) Moral versteht. Schließlich bewegt sich der Autor argumentativ zwischen Moral und Moralen, was den Blick auf die Sitten (mores) richtet, sowie zwischen Moral und Moralisieren und spricht zum Ende von liminalen Berührungen konträrer Sphären, ohne die Differenz nicht gedacht werden kann, sodass auch Moralistik, die sich in einem Jenseits von Gut und Böse ansiedele, von dieser Dichotomie losgelöst nicht existieren und, so soll man folgern, auch nicht untersucht werden könne.

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Montaigne gilt dann die erste Applikation. Die hintersinnige Studie von Helmut Pfeiffer (»Selbstentblößung und poetische Präsenz. Montaignes ›Sur des vers de Virgile‹«, S. 47–82) stellt die Essais in den Horizont einer »listigen Lebenskunst« (S. 81 ff). Im Zeichen des ›Begehrens‹ hebt der Autor auf das Thema der Erotik und auf die Erotik des Schreibens ab, liest Altersweisheit als Exzess, Selbstsorge als Selbstentfesslung und lässt deren taktisches Verhältnisses zum eigenen Selbst schließlich unerwartet in die These einer massiven Ethisierung der Erotik durch den Autor münden, in der auch das gewählte Beispiel der Vergilschen Vereinbarkeitsfiktion von Eros und Ehe (Äneis , Buch VIII) ihren Platz habe. Die Interpretation ist wohl auch als eine Überblendung von Foucaults Theorieentwicklung in die Essais gemeint. Erinnert werden sollte deswegen daran, dass diese, »un livre consubstantiel à son auteur« (Ed. Garnier II, 69), mit Haus, Gemeinwesen, Sitten, Freundschaft, Kultur der Antike sowie der Beschreibung des eigenen Standorts als den des Mittelstands noch weitere identitätsprägende Kohäsionsbezirke sowie Darstellungsnormierungen dieser freiwillig auf Rückzug (in den Bücherturm) gestellten (Gelehrten) Existenz 6 aufrufen, als nur jene, die im Bezirk des Eros zur Erscheinung kommen. Vor einiger Zeit hätte man Pfeiffers Thema in die Motivik des Karnevalesken gestellt. In seiner Fokussierung auf die moralische Pointe und die Ordnungsbedürftigkeit des Subjekts kommt ein jüngeres zeitgeistiges Bedürfnis zum Tragen.

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Die schwierige Passung zum Bandthema charakterisiert den Beitrag von Andreas Höfele (»Kannibale und Tier: Figurationen des (Un)Menschlichen in Shakespeares Rachetragödien«, S. 82–117), der von Montaigne seinen Ausgangspunkt nimmt, welcher bekanntlich in einem Stück der Essais mit dem Titel »Les cannibales« diese Art Mensch eher vorteilhaft den grausamen Religionskriegern kontrastiert hatte. Höfele evoziert Pico della Mirandolas Satz von der Wahlfreiheit des Menschen in seiner Nähe zum Göttlichen wie zum Tierischen und rettet dessen falsche Lesart als Äquidistanz seitens Agambens. Seine Studie zeigt die Nähe des Racheprinzips zur Grausamkeit der frühneuzeitlichen Strafjustiz, bringt das von ihm in Titus Andronicus (1594) und Hamlet (1603) aufgesuchte Thema einmal in die Nähe zur politischen Anthropologie wie allgemein zur condition humaine. Er liest dabei Hamlets Weltdeutung als die einer universalkannibalistischen Nahrungskette wie Shakespeares Stücke insgesamt als Vorführung der »Menschenmöglichkeit des Unmenschlichen« (S. 116). Der Beitrag sieht sein Anliegen im Kontext der so genannten human-animal studies als jüngster interdisziplinärer Forschungsrichtung aufgehoben.

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Der Vorgeschichte beziehungsweise dem italienischen Beispiel gilt Jörn Steigerwalds Studie zur Hofmannsliteratur »(Die (Selbst) Problematisierung des Hofmanns bei Baldassare Castiglione und Torquato Accetto«, S. 120–150). Man kann den Cortegiano (1528) eigentlich nicht der Moralistik zuschreiben, da ihm deren wesentlicher amoralischer Zugang abgeht. Steigerwald begegnet diesen Einwänden mit Ausführungen zu Sache und Begriff der »anthropologia christiana« der frühen Neuzeit, spricht von deren Gabelung in ein optimistisches und ein pessimistisches Menschenbild (S. 127) und will so, wenigstens von Acetto (Della dissimulazione onesta, 1641) aus, eine Linie zur französischen Moralistik ziehen. Letztlich gibt er für den Cortegiano die zuvor behauptete These einer »moralistische[n] (Selbst)Darstellung« (S. 133) auf. Der zweiten These, dass das pessimistische Menschenbild zur Epigrammatik neige, widerspricht die von Accetto gewählte Form des Traktats (in gegenreformatorischer Absicht). Für sich genommen ist der Beitrag sehr informativ in der bibliographischen Führung und eine durchaus interessante Ergänzung zu Manfred Hinz’ Standardwerk Rhetorische Strategien des Hofmannes: Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts (Stuttgart 1992).

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Den Blick nach Spanien richten zwei Studien zu Gracián. Friedrich Wolfzettel, (»Zwischen Spätbarock und Aufklärung: Moralistik und Säkularisierung bei Baltasar Gracián«, S. 151–170) zeigt sehr fasslich die Moralistik des Oráculo manual (1647) als säkulare Klugheitslehre (arte de prudencia), spricht hierbei von einer Dezentrierung des Subjekts von Gott, bringt die Weltklugheit in die Nähe von Adornos »instrumenteller Vernunft«, spricht von der Ersetzung des Gewissensbegriffs durch Selbsterkenntnis und Weltrücksicht und folgert, der Gott dieses kulturanthropologischen Denkens, das Ich-Aufwertung und Ich-Gefährdung in einer unüberschaubaren Welt verbinde, sei Proteus (S. 157). Der Gedanke der Gleichzeitigkeit von Polyformität und Universalität lässt für Wolfzettel in der Nachfolge Sebastian Neumeisters das Gattungsproblem zweitrangig werden, wofür die Definition von Moralistik als »übergreifender intertextueller Diskurs« (S. 157/8) einstehen muss, was ihn dann in der Hauptsache zu einer Analyse von Graciáns Erziehungsroman El criticón (1651, 1653, 1657, in drei Teilen) veranlassen kann, den er als Dokument eines elitären, auf Nachruhm bedachten Heroismus liest, der jede Erbaulichkeit verweigere.

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Die topographische Situierung dieses Romans untersucht in medientheoretischer Sicht die Interpretation von Jörg Dünne (»Die Tilde der Welt. Graciáns moralistische Kulturtechniken«, S. 171–195). Sein Verfahren der Interpretation ist eine syntagmatische Lektüre der allegorischen Reise, die sich in einer realen Topographie vollziehe, wobei die abschließende »Kappung des terrestrischen geographischen Bezugs« den »Weg des Menschen zu seiner spirituellen Bestimmung« (S. 179) zum Nachweis bringe: aus dieser Sicht also ein Roman mit einem eher erbaulichen Schluss. Trotz mancher aus dem Theorieansatz resultierenden jargonalen Eigenwilligkeit sind von Interesse die nachweisstarken Überlegungen zur Medialität des Beobachterblicks (Panoptismus, Fernrohr, Karte, Schrift), in dessen Diversität, so Dünne, das Bedürfnis nach Weltdeutung und zugleich die Unmöglichkeit ihrer Fixierung zum Austrag kommen.

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Zu teils misslichen Resultaten führt der Aktualisierungswille im Beitrag von Wolfgang Matzat (»Die Gestalt der Zeiterfahrung in La Bruyères ›Caractères‹ – Wiederholung, Diskontinuität, Beschleunigung«, S. 197–221), der im Anschluss an Norbert EliasÜber die Zeit eine gerade bei La Bruyère besonders auf Statik und Fixierung angelegte Schreibhaltung in den Horizont von Kontingenz und Beschleunigung rücken will. So soll etwa die Mode, die sich als solche ohne Richtung wiederholt, als Beleg für Beschleunigung dienen, so soll der Tod, der uns alle ereilt, für eine subjektive Zeiterfahrung stehen, und beide Beispiele sollen das Verhältnis von sozialer Zeitpraxis und individuellem Zeiterleben (S. 201) illustrieren. Die beträchtliche Zahl der Kautelen und Affirmierungspartikel (»mag zunächst überraschen«, hochfrequentes »allerdings«, »natürlich«, »durchaus«, »scheinbar«, »nur schwerlich« etc.) indizieren das Bewusstsein vom Wagnis des eigenen Unterfangens, das im Schlussabschnitt den Zeitaspekt weitgehend aufgibt und die Frage nach den normativen Parametern der Sozialkritik in den Caractères (Stoa, Arbeitsethos, christliche Pflichtenlehre) aufwirft.

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Einen neuen Akzent setzen will ebenfalls Patricia Oster (»Poesie als Vollendung der Moralistik: Die Fabeln La Fontaines«, S. 223–248). Die Wahl einer Versgattung und der Finalismus des Titels machen neugierig, zumal La Fontaine sich in keiner Sammlung zu den Moralisten findet und die Fabel gemeinhin als moralische Gattung zählt. Dies weiß Oster, entsprechend will sie die Fabeln La Fontaines von moralischen Absichten entlasten, folgt darin der communis opinio. Zu ihrer Deutung bemüht sie in Ahnlehnung an jüngere Forschung auch eine Krise des Exemplarischen in einer als komplex erfahrenen Welt (S. 229). Die zunächst näher liegende Lesart der Fabeln als Illustration einer antiklassizistischen Ästhetik der »diversité«, 7 welche sich mit der antihöfischen Intention der Moralistik und ihrer Syntagmatik des Bruchs verbinden ließe, bleibt außer Betracht. Oster liest die Fabeln dagegen als Metafabeln. Als Beispiele dienen eine in Fabelform gefasste Maxime La Rochefoucaulds sowie die auf Äsops Vorbild wie auf Pascals »L’homme et le roseau qui pense« anspielende Fabel »Le chêne et le roseau«. Diese Einzelinterpretationen sind sehr gut geführt. Doch steht die These von der Vollendung des Moralistischen im Poetischen, die im Anschluss an Stierle 8 auf eine Beerbung Pascals durch Baudelaire hinausläuft, nicht nur quantitativ in einer weit stärkeren Nachweispflicht, als hier eingelöst.

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Die im Aufbau recht klare Studie von Roland Galle (»Moralistische Porträtierung«, S. 249–319) kommt ohne Aktualisierungszwang aus. Selbstaffirmation und pessimistische Selbstbefragung sind in seiner Sicht die Charakteristika dieser Art Porträtierung. Zur Vorgeschichte rechnet er Montaigne, dessen Essais als Muster eines dekonturierten Selbstporträts des aus alten Absicherungen herausgelösten Menschen gelten, sowie das mondän-galante Porträt als Projektion der Person auf die kollektiv imaginierte Norm der Gesellschaft mit dem Vorrang des Repertoires und der reihenartigen Aufzählung von Darstellungsbezirken wie Körper, Seele, Geist in der Absicht von Komplettheit, Stabilität und Unbeweglichkeit. Der Weg zum moralistischen Porträt sei markiert durch die Denkvoraussetzung einer ontologischen, durch den Sündenfall bedingten Zerrissenheit (Pascal), in der die verlorene Gottesliebe in Eigenliebe umschlage. In der Konsequenz entziehe der Jansenismus dem pikturalen wie dem literarischen Porträt als Ausdruck der »vanité« (Nicole) die Legitimation und den identitären Boden. Beleg ist für Galle das Eigenporträt La Rochefoucaulds, der selbst über sein physisches Aussehen keine Sicherheit mehr besitze. Mit La Bruyère wechselt die Perspektive hin zum Sozialen. In den Caractères entstehe die Entleerung des Charakters aus der beklagten Vielfalt seiner Konditionierungen. Schließlich bildet für Galle Saint-Simons Attribuierung einer Person als »honnêtement corrompu« den Nachweis der definitiven Krise des durch das Ziel des »plaire« charakterisierten galanten Porträts, indem nun »plaire« und »perdre« untrennbar zusammen gehörten. Das moralistische Porträt biete so das Anschauungsmaterial einer historischen Anthropologie, deren Schule der Hof sei.

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Die Perspektivierung der moralistischen Schreibhaltung in zeitlicher Ausfaltung untersucht der anspruchsvolle und bibliographisch ausführlich dokumentierte Beitrag des Bandherausgebers Rudolf Behrens (»Zur Geschichte perspektivischer Beobachtung im moralistischen Diskurs (Pascal, Marivaux, Senancour)«, S. 303–346). Er stellt den moralistischen Blick in die Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung und ihrer Beobachtungstechniken. Für die Moralistik wird als Hintergrundsvoraussetzung eine »(natur)wissensorientierte und theatralische (sc. theatrum mundi, Modell des anatomischen Theaters) Sichtweise« (S. 305) angenommen. Ihr ›Hineinblick‹ in den Menschen folge einer schon in der Zentralperspektive vorbereiteten Kultur des Auges, die sich jedoch, wenn auch von den Autoren uneingestanden, in der Vergeblichkeit der Suche nach einer anthropologischen Substanz erschöpfe. Diese These wird belegreich und argumentationsstark an Pascal vorgeführt. Die an den Pensées gezeigten, im Wissenschaftskontext der Zeit situierten raum-zeitlichen Aporien der Standpunktfindung erweisen sich nach Behrens in der Intention Pascals letztlich als Vorbereitung, die »Evidenz der christlichen Religion als ein alle bislang konstatierten Widersprüchlichkeiten aufhebendes System zur Anerkennung zu bringen.« (S. 321) Diese These bringt die Moralistik Pascals allerdings in die Funktion eines Mittels zum Zweck des Glaubens. Für das 18. Jahrhundert gibt Behrens den Blick auf die Wissenskultur weitgehend auf. An Marivaux’ Spectateur français (1721–1724) konstatiert er den völligen Verzicht auf die Suche nach festen Koordinaten des Beobachtens aufgrund der sozialen Involviertheit des Beobachters. In Senancours Rêveries (1798/1802) schließlich rekurriere das Ich zwar noch auf moralistische Beschreibungsmodelle, besitze jedoch keine perspektivischen Semantiken in Subjekt-Objekt Relationen mehr, präsentiere sich vielmehr als »frühromantische[s] Beobachter-Ich«, das heißt »als bewegtes Ensemble von Durchdringungen durch die beobachtete Welt« (S. 310). Insgesamt besticht der Beitrag durch seine kluge Reflexion auf die Beobachterperspektive im Gattungsfeld des 18. Jahrhunderts. Der anregende Schlussabschnitt gibt einen korrigierenden Nachtrag zu den Naturwissenschaften und deren »Leitmodus« der Unmittelbarkeit der Beobachtung, welcher den moralistischen Beobachterblick im 18. Jahrhundert verdränge, der mit der Krise der Deutungshoheit der Naturwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber seine Geltung im Zeichen Nietzsches wieder gewinne.

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Zu dieser Problematik einer Kultur- und Wissensgeschichte der Moralistik trägt nur wenig der bereits anderwärts publizierte Beitrag von Rainer Warning bei (»Goethe, Diderot und der ›Neveu de Rameau‹«, S. 347–373), 9 eine kolloquial gehaltene, auf die Auseinandersetzung mit der reichen Literatur verzichtende Ausführung mit dem Fluchtpunkt einer im Neveu angeblich inkarnierten Ästhetik des Schreckens und des Dämonischen, deren Verständnis Goethe zum Zeitpunkt seiner Lektüre in der Correspondance littéraire noch nicht und erst in den Wahlverwandtschaften erreicht habe. Goethe sprach vom Neveu als einer »Zeitbombe«, meinte aber den sozialen Sprengstoff des Zynismus und Moral vor der Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts ergebnisoffen konfrontierenden Dialogs. Nach Diderot findet man mehr Menschenkenntnis bei den Marktfrauen der Hallen als bei den Moralisten des 17. Jahrhunderts.

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Mit größerem Interesse liest man den scharfsinnigen, auf einen historischen Funktionswandel hin konturierten Beitrag von Katharina Münchberg (»Moralistischer Diskurs und lyrisches Werk bei Paul Valéry«, S. 375–393). Im Anschluss an Barthes bildet den Ausgangspunkt der gegen bequeme Aktualisierungen taugliche Hinweis, dass der grundständige moralistische Diskurs bei aller Fragmentierung der Wahrheitsproblematik in ästhetischer Gestalt gleichwohl auf eine essentialistische Sinnordnung bezogen blieb. Valéry, der sich auf die Tradition der Moralistik bezieht, stehe nun in einer Epoche des Verlusts einer solchen Sinnordnung. Seine Sichtweise spalte die frühere Einheit des moralistischen Diskurses »von ästhetischer Sprachform und psychologischer, anthropologischer und theologischer Sinnform« (S. 378) auf und markiere damit den »Beginn einer unendlichen Entfernung« (ibid.). Münchberg illustriert ihre These an den Cahiers, an Monsieur Teste (1926) und an La jeune Parque (1918), deren Verschiebungen der Frageweise von ›Was ist der Mensch?‹ zu ›Was kann der Mensch?‹ das Aufgeben der Tiefendimension zugunsten der Oberflächendimension bedeute. Es gehe um eine »Selbstbeobachtung des Geistes an den Rändern des klaren Bewusstseins« (S. 385). Die Poesie werde in der Nachfolge Mallarmés zur »Reflexionsfläche des denkenden Ich« (S. 388), – mit der Konzession allerdings, dass der Biss der Schlange mit dem Moment der höchsten Selbstreflexion der Jeune Parque zusammenfalle. Münchberg verdrängt etwas das beigebrachte Beispiel und ordnet Valérys Beziehung zur Moralistik, besser zur Subjektposition, in eine verallgemeinerbare Entwicklungslinie ein, »im Subjekt auf das Subjektlose« zu zielen. Eine Schreibhaltung, welche »die Differenz von Oberfläche und Tiefe, Maske und Sein, Lüge und Wahrheit verabschiedet« (S. 392). Jedenfalls verschiebt.

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Schließlich rundet ein Blick auf Roland Barthes den Band chronologisch ab. Maria Moog-Grünewald (»Moralistik im ›Reich der Zeichen‹ – Roland Barthes«, S. 395–418) geht aus von einem Essay Barthes’ zu La Rochefoucaulds Maximes et Sentences, der die Moralistik als Versuch der Wiederherstellung der Würde des Menschen im Angesicht seines Elends in moralischer Hinsicht liest. Die Auffassung von Moralistik resultiere aus der grundsätzlichen Sicht Barthes’ von Kultur als Tragödie, wozu eine frühe Schrift, Culture et tragédie (1942), herangezogen wird, welche im Anschluss an Nietzsche Kultur als in Zeitaltern der Klassik aufgefangenen Vitalismus versteht. Gegenstand der klassischen Epochen sei das Rätsel des Menschen, die adäquate Kunsthaltung zu seiner Darstellung sei das Tragische. Barthes erkenne es in La Rochefoucauld, er sei wie dieser Moralist etc. Im Folgenden liest Moog-Grünewald dann Barthes’ ideologiekritischen Kulturalismus der Mythologies als Moralistik, lässt sein atopisches Schreiben auf Montaigne zurücklaufen und bringt ihren Autor via Mangel und Begehren in Homologie zur historischen Moralistik, da diese sich aus demselben Geist nähre.

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3. Fazit

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Der Band gibt eine theorie- und fachgeschichtliche Situierung seines Gegenstands. Er handelt von den klassischen moralistischen Autoren, bezieht ferner Gattungen wie Theater, Roman und Lyrik sowie Beiträge zur Hofmannsliteratur oder zum Kannibalismus ein, die nicht zum kanonisierten Autoren- beziehungsweise Formenbestand zählen. Ein Bandtitel »Moralistik und Literarische Anthropologie« 10 wäre zur begrifflichen Abbildung der sachlichen und chronologischen Extension stimmiger gewesen. Wo der klassische moralistische Beobachterblick zur Erörterung steht, wird er Anlass zu unterschiedlich glückenden Modernisierungen aus dem Geist der jüngeren und jüngsten Gegenwart: Säkularisierung, Beschleunigungserfahrung, Autonomieästhetik, Philosophische Anthropologie, Lebensphilosophie, Poststrukturalismus sind die mehr oder minder fruchtbar gemachten Referenzebenen für eine Lesart der Moralistik zwischen Heroismus, Tragik und Szientifik, bei welcher der einst für die frühmoderne Subjektkonstition als Beleg und Muster zählende Montaigne ins Abseits zu geraten droht und die höfische Konstellation wie deren Opposition als ihr wesentlicher Sitz im Leben weitgehend aus dem Blick.

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Auch literaturwissenschaftliche Paradigmen tragen die Signatur ihrer Zeit. Karlheinz Stierle war mit der problematischen Einseitigkeit der These von der Modernität der Französischen Klassik aus dem Geist ihrer negativen Anthropologie (Anm. 8) der spiritus rector einer Hermeneutik, die in den 1980er Jahren, angeregt von Barthes’ Sur Racine (1963), das poststrukturalistische Interpretationsdispositiv am französischen 17. Jahrhundert zur Evidenz zu bringen suchte. 11 Stierle nutzte hierbei das mit dem jansenistischen Umfeld verwobene moralistische, theatrale und narrative Korpus (Pascal, La Rochefoucauld, Mme de Lafayette, Racine) zur eindringlichen Beschreibung eines Subjekts, das sich in mehrfachen Dezentriertheit (kosmologisch, Sündenfall, Verstrickung in die Leidenschaften, verborgener Gott) befinde und so zu einem Selbst- und Menschenbild gelange, dessen Universalisierbarkeit bis ans Ende des 20. Jahrhunderts reiche, ja dort erst zur richtigen Geltung komme. Mit dieser These rückte er, wohl unwissentlich, eine Auffassung wieder ins Licht, die rund 100 Jahre zuvor, in einem anderen Fin de Siècle, bereits der Literaturhistoriker Ferdinand Brunetière und Direktor der Revue des deux Mondes mit der programmatisch gemeinten Studie »Jansénistes et Cartésiens« (1889) 12 vertreten hatte und in der er die Auffassung des Jansenismus von der »perversité« der menschlichen Natur positiv dem cartesischen Rationalismus kontrastierte. Auch bei Stierle ging es weniger um ein komplexeres Bild der Klassik als um eine emphatiegeprägte qualitative Verschiebung der Epochenbestimmungen, indem die Homologsetzung von negativer Anthropologie, Klassik und Gegenwartsgestimmtheit es erlauben sollte, eine Abwertung Descartes’ und der Aufklärung wie beider Geltung mit sich zu führen. 13 Stierles poststrukturalistischer Zugriff, der noch das ältere Paradigma der Autonomieästhetik im Horizont hält und dessen fast exklusiv in der Literaturhistorie verbleibende Beweiskette nicht zufällig mit einer wechselseitigen Anverwandlung von Racine und Beckett endet, war gegenüber der größeren Amplitude des vernunftkritischen Zugriffs von Foucault von geringerer Kraft. Dessen Theoriebildung hätte zwar am Punkt des Begehrens Gemeinsamkeiten erlaubt, jedoch nicht mit seiner These von der Episteme der Repräsentation, die auf dem inneren Zusammenhang des »esprit classique«, das heißt vom 17. und 18. Jahrhundert, beruhte. 14 Mit seiner größeren wissens- und institutionstheoretischen Reichweite war Foucaults Denkansatz forschungsgeschichtlich praktikabler und einflussreicher als ein letztlich auch sachlich nicht haltbarer anthropologischer Dualismus von negativer vs. positiver Anthropologie und dessen normativen, zur Einwandsimmunität tendierenden Implikationen. 15

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Die Wirkung der Negativen Anthropologie und des Poststrukturalismus sind im vorliegenden Band zur Moralistik noch spürbar, jedoch sind sie nicht mehr uneingeschränkt modellbildend. Die Zielstellung einer historischen Gesamtschau des Gegenstands über vier Jahrhunderte und die Korpusausweitung hin zu anderen Gattungen führen zwangsläufig zu funktionaleren und nüchterneren Zugängen. Sie werfen darüber hinaus das grundsätzliche Problem der Literarischen Anthropologie als Gegenstand der Literaturwissenschaft auf. Dies scheint nach dem Ende der Autonomieästhetik eine Möglichkeit, zur Geschichte zurückzufinden. Ein solcher literaturwissenschaftlicher Zugang dürfte sich nicht in kurzschließender Aktualisierung erschöpfen, müsste zunächst wohl auch das Schema Foucaults einer dialektischen Kritik unterziehen. In einer solchen Sicht steht Literarische Anthropologie als Form der Menschenerkundung und als Verfahren der Weltdeutung zunächst in einem objektiven Zusammenhang der Verschiebung von Subjektpositionen im historischen Kontinuum. 16 Ihre Deutungsleistung wäre alsdann in einem Konkurrenz- beziehungsweise Bedingungsverhältnis zur philosophisch / wissenschaftlichen und ab dem 19. Jahrhundert auch zur soziologischen Reflexion des jeweiligen Menschenwissens zu bestimmen. 17 Die Spezifik der Reichweite einer Literarischen Anthropologie ergibt sich aus ihrem im Verhältnis zu den Wissenschaften geringeren Systematisierungs- und Normierungszwang, der in der narrativen, theatralischen beziehungsweise lyrischen Vielfalt ihrer Möglichkeiten gründet und der bei der Darstellung der komportamentalen Veränderungen wie der epochalen Grundstimmungen 18 die filigrane Nuance und Rissbildungen ebenso erlaubt wie die statuarische Vereinfachung. Literarische Anthropologie wäre derart Kultur in actu mit diagnostischem, normbildendem, genussstiftendem und resistentialem Potential zugleich. Sie ist so etwas wie der Seismograph der bürgerlichen Formation vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Ihre Untersuchung kann derart auch eine anthropologisch-kulturwissenschaftlich verfahrende Literaturwissenschaft verstärkt ins Recht setzen. In diese Richtung setzt der Band zur Moralistik manchen verdienstvollen Akzent, gerade zum Ineinanderlaufen von anthropologischer, gnoseologisch-wissensgeschichtlicher und ästhetischer Fragestellung.

 
 

Anmerkungen

Cf. hierzu die Arbeiten von Giulia Cantarutti, neuerdings: Il saggio: forme e funzioni di un genere letterario. Bologna 2008.   zurück
Zu Kants Menschenbild cf. Reinhard Brand: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007.   zurück

Die Sitten im Titel führen und auch moralistischen Schreibverfahren folgen François Vincent Toussaint: Les mœours (1748), ein Text zur Höflichkeitskritik, welcher den Vf. ins Exil nötigt; die Considérations sur le génie et les mœurs de ce siècle (1751) von Soubeyran de Scopons sowie das Werk gleichen Titels und Jahrgangs von Duclos . Cf. hierzu Heinz Thoma: »Politesse und Kulturkritik: Rousseaus Erster Discours im Kontext.« In: Anne Amend-Söchting u.a. (Hg.): Das Schöne im Wirklichen – Das Wirkliche im Schönen. Festschrift für Dietmar Rieger zum 60. Geburtstag, Heidelberg 2002, S. 391–403.

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Siehe auch die gesammelten Aufsätze von Margot Kruse: »Beiträge zur französischen Moralistik«. Hg. von Joachim Küpper in Verbindung mit Andreas Kablitz, Berlin (u.a.) 2003.   zurück
Vgl. auch Machiavellis Verhalten während der Verbannung auf sein Landgut durch die Medici, wo er sich abends vom Arbeitsschmutz reinigt und sich ehrwürdig kleidet, bevor er zu den antiken Autoren greift.   zurück
Zur sozialen Verortung der Fabeln cf. grundlegend René Jasinski: La Fontaine et le premier recueil des Fables. Paris 1966.   zurück
»Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil«. In: Karlheinz Stierle / Fritz Nies (Hg.): Französische Klassik. Theorie. Literatur. Malerei. München 1985, S. 81–133.   zurück
Siehe ders. »Moral und Moralistik in der französischen Aufklärung«. In: Romanistisches Jahrbuch 49 (1998), S. 51–67.   zurück
10 
Das Bearbeitungsfeld der Literarischen Anthropologie ist bisher im Anschluss an Foucault bevorzugt das 18. Jahrhundert Cf. u.a. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie: Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes (1987). Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch: Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, 1992. und das Studienbuch von Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008.   zurück
11 
Auf den poststrukturalistischen Zusammenhang macht explizit der Diskussionsteil aufmerksam. In Stierle/Nies, Anm. 8, S. 131. Ex negativo gegen Barock und Rhetorik gewendet blieb Stierles These vom »funktionalen Stil« angesichts einer Kultur der Honnêteté, die weder in negativer Anthropologie aufgeht noch in ihrer distinktiven Absicht ohne Rhetorik auskommt.   zurück
12 
»Jansenistes et Cartésiens«. In: Etudes critiques sur l’histoire de la littérature française. Paris 1880–1907, 8 vol., 4, S. 111–178.   zurück
13 
Beide richten sich gegen die erste große Nationalgeschichte der Literatur des 19. Jahrhundert von Désiré Nisard (Histoire de la littérature française. Paris 1844–1861), die in einem vernunftoptimistischen Paradigma Klassik und Aufklärung in einen Ergänzungszusammenhang bringt.   zurück
14 
Stierle ist sich der Konkurrenz bewusst. Er reagiert aber nur mit einer Kritik an Foucaults Sprachauffassung im Kontext von Port-Royal. Auch muss er in seiner Überhöhung der Klassik die Nähe zu Adornos negativer Dialektik abweisen (siehe Stierle, in Anm. 8, Anm. 11).   zurück
15 
Stierle löst seinen anthropologischen Dualismus dahingehend auf, als er auch das 18. Jahrhundert letztlich in eine negative Anthropologie verfallen lässt (in Anm. 8, S. 120 ff) und diese Linie über Baudelaire bis ins 20. Jahrhundert führt. Auf diese Weise findet die Autonomieästhetik in der Französischen Klassik ihren Beginn und die maßstabsetzende Vollendung.   zurück
16 
Eine historische Gesamtrekonstruktion versucht Rez., in: Von der Entdeckung des Ich zur »Amputation des Individuums«. Subjektposition und Subjektkonstruktion an literarischen Beispielen. Heidelberg 2007 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 140), Heft 1.   zurück
17 
In der Fort- und Umschreibung von Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985.   zurück
18 
Zu epochalen Psychemen vgl. Heinz Thoma/ Kathrin v. d. Meer (Hg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen. Von Montaigne bis Houellebecq, Würzburg 2007.   zurück