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  • Christoph Strosetzki (Hg.): Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte. (Archiv für Begriffsgeschichte Sonderheft 8) Hamburg: Felix Meiner 2010. 233 S. Kartoniert. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-7873-1971-8.
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Die Begriffsgeschichte hat beeindruckende, international beachtete Ergebnisse hervorgebracht, wie das Historische Wörterbuch der Philosophie (Hg. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel), das Historische Wörterbuch der Rhetorik (Hg. Gert Ueding) und das von Erich Rothacker begründete Archiv für Begriffsgeschichte (Hg. Christian Bermes, Ulrich Dierse und Michael Erler). Ebenso war eine entsprechende wissenschaftspolitische Institutionalisierung und Förderung gegeben: So gab es von 1957 bis 1966 unter der Leitung von Hans-Georg Gadamer eine Senatskommission für begriffsgeschichtliche Forschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die auch die Anlaufkosten des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (spätere Finanzierung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie den Berliner Senator für Bildung und Forschung) übernahm. Die DFG hat zudem das Historische Wörterbuch der Rhetorik (Fertigstellung 2011) finanziert. Nachdem die Konzeption der Begriffsgeschichte im Rahmen der begriffsgeschichtlichen Forschungsprojekte selbst diskutiert wurde (vgl. G.H. Meier: »Begriffsgeschichte«, HWBPh. Bd. 1, Sp. 788–809), ist die Begriffsgeschichte in den letzten Jahren auch Thema selbständiger Publikationen geworden (vgl. z. B. Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, Paderborn 2006). Der vorliegende Band ergänzt den Forschungsstand um Beiträge der Literaturwissenschaft (und zum Teil aus deren Umfeld), die insbesondere für das Verhältnis zwischen Begriffs- und Ideengeschichte bedeutsam sind. Das zwischen 2000 und 2005 erschienene Lexikon Ästhetische Grundbegriffe (Hg. Karlheiz Barck u.a.) ist einer der bedeutendsten literaturwissenschaftlichen Beiträge zur Begriffsgeschichte. Die Beziehung der Begriffsgeschichte zur Problemgeschichte, die man vereinfachend als neukantianische (Cassirer, Windelband) Antwort auf Hegels systematische Konstruktion einer einzigen, eben der Begriffsgeschichte als Element des Geistes ansehen kann, steht im Mittelpunkt des Sonderheftes 7 des Archivs für Begriffsgeschichte, das von Riccardo Pozzo und Marco Sgarbi unter dem Titel Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte (2010) herausgegeben wurde.

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Was ist Begriffsgeschichte?

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Trotz einer gewissen Offenheit des Themas benötigt jeder interessierte Leser Abgrenzungen, um zu verstehen, was Begriffsgeschichte ist. In seiner Einleitung benennt der Herausgeber nur die Vorgeschichte und die wichtigsten Forschungsarbeiten, gefolgt von einer Zusammenfassung der hier versammelten Beiträge. Das ist sicher zu wenig, denn die Autoren vertreten unterschiedliche, mit einander zum Teil unverträgliche Positionen. Beispielsweise hätte die schlichte (und deshalb berechtigte) Frage, ob Begriffsgeschichte dasselbe sei wie Ideengeschichte, einleitend geklärt werden müssen. Für Gottfried Gabriel ist Begriffsgeschichte »die Geschichte begrifflicher Unterscheidungen« (S. 18) basierend auf terminologischen Fixierungen in Definitionen und als solche von der Ideengeschichte zu unterscheiden, die nach Gustav Teichmüller, einem der Begründer einer Begriffsgeschichte, auf Mythen gegründet ist (S. 25). Dasselbe gilt für Wolfgang Rother, der nur eine weniger kritische Einschätzung Teichmüllers liefert als Gabriel (S. 32). Lutz Geldsetzer nimmt eine Abgrenzung zur Ideengeschichte in Anspruch, wenn er in den von Reinhard Koselleck und Otto Brunner herausgegebenen Geschichtliche[n] Grundbegriffe[n] eine Verwirrung stiftende Verwechslung von Ideengeschichte mit Begriffsgeschichte sieht, die sich seiner Meinung nach auf die geschichtswissenschaftlichen Begriffe im Unterschied zu den historischen politischen Ideen beschränken solle (S. 96). Die Auffassung Kosellecks, nach der Begriffe nicht nur Mittel, sondern auch Thema historischer Forschung sind, ist aber, so scheint es zumindest, mit dem Verständnis von Gabriel und Rother durchaus verträglich: Begriffliche Unterscheidungen sind, in ihrer historischen Entwicklung, gerade auch Thema der Philosophiegeschichte, nicht nur Mittel der Philosophiegeschichtsschreibung. Hat es nun die Geschichtswissenschaft thematisch mit Begriffen oder Ideen zu tun? In den Literaturwissenschaften stellt sich dieselbe Frage. Für Ulrike Zeuch ist Begriffsgeschichte dasselbe wie Ideengeschichte, zumindest verwendet sie beide Ausdrücke gleichbedeutend (S. 111 et passim). Carsten Dutt wiederum bezeichnet die Begriffsgeschichte umfassend als »Paradigma historischer Semantik« (S. 97), ein Verständnis, das auch bei Gerda Haßler vorliegt, die eine Entwicklung von Begriffen (im Sinne von begriffsbezeichnenden Worten) in Textserien untersucht (vgl. u. a. S. 140). Wenn aber der bloße Bedeutungswandel von Prädikaten bereits hinreichend für eine Begriffsgeschichte ist, schließt dieser Ausdruck eine Ideengeschichte ein, die sich auch auf begriffsbezeichnende Worte stützt, nur ohne Definition. In Teichmüllers Verständnis war umgekehrt Begriffsgeschichte spezielle Ideengeschichte, insofern Begriffe für ihn nichts anderes als genau definierte Ideen waren.

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Was können Literaturwissenschaft
und Begriffsgeschichte voneinander lernen?

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Gerade mit Blick auf die besondere Thematik dieses Bandes wäre es wichtig gewesen, zu entscheiden, ob man die Literatur aus einer historisch gegebenen Beziehung zum Mythos heraus verstehen möchte, die auf eine Arbeitsteilung zwischen Dichtungssprache und Wissenschaftssprache hinausläuft, oder nicht. Die Dichtung würde gemäß dieser Unterscheidung der Reflexion Ideen liefern, mit denen wir erfassen, wie die Welt ist, die Wissenschaft würde uns mit Hilfe deutlich bestimmter Begriffe sagen, was der Fall ist. Teichmüller hatte eine Auffassung, die dieser nahe kommt: »Der eigentliche Gegenstand der Ideengeschichte ist der Mythos, d.h. Literaturgeschichte oder Literaturwissenschaft ist für Teichmüller nur als Ideengeschichte, nicht aber als Begriffsgeschichte möglich« (Rother, S. 32). Natürlich hat diese Unterscheidung etwas mutwillig Vereinfachendes. Fast jeder literarische Text sagt (häufig indirekt) vieles aus, was wahr ist, ohne dass es in einem positiv feststellbaren Sinn der Fall sein muss, und jeder wissenschaftliche Text hat eine literarische Form und zeigt manches, was in ihm nicht gesagt wird. Die bedeutende Rolle, die Teichmüller eingeräumt wird, der wie Platon, Schelling oder Hegel die Dichtung auf eine veranschaulichende Darstellung von Ideen festlegt und ihr keinen Anteil an einer Begriffsgeschichte zugesteht, macht es aber erforderlich, grundsätzlich zu klären, ob die Dichtung Begriffe darstellt (oder darstellen kann) und wie sich eine wissenschaftliche Umgrenzung von Begriffen durch Definition davon unterscheidet. Gabriels These (S. 18), dass der Erkenntniswert von Definitionen im Unterscheiden (des scheinbar Ähnlichen) liege, wäre in diesem Sinne um eine Erläuterung der Erkenntnisfunktion von Ideen (mittels Analogien) zu ergänzen, die in der Verknüpfung (des scheinbar Verschiedenen) gesehen werden könnte. Dem analogen Denken in Ideen könnte jedenfalls eine Rolle bei der Auffindung und Bildung von Begriffen zugestanden werden.

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Naturgemäß gilt dies für poetologische Begriffe, wie Helmut C. Jacobs an der Entstehung der Novelle als literarischer Gattung durch Übertragung einer ursprünglich juristisch-politischen Bedeutung auf Dichtung veranschaulicht (S. 152). Viele philosophische Texte lassen sich in literarische Gattungen einordnen. Neben Montaignes Essais sind Descartes Meditationes ein klassisches Beispiel dafür. Bei Descartes bereitet die Übertragung der geistlichen Meditation in den Kontext eines rationalistischen Begründungsprogramms die kognitiven und emotiven Kräfte, Imagination, Reflexion und Passion auf eine Einstellung vor, die es ermöglicht, den Weg des methodischen Zweifels zu erfassen und zu beschreiten, wobei insbesondere die Imagination zu einer ›niederen‹ Fähigkeit des Geistes herabgesetzt wird (so Christian Wehr, S. 192 f., S. 195). Ein weiteres Beispiel für analogische Heuristik begrifflicher Unterscheidungen ist Montaignes Übertragung der discretio aus einem philosophischen und theologischen in einen psychologischen Kontext, um Dispositionen und Akte des Geistes zu beleuchten, insbesondere die Aufmerksamkeit (vgl. Gisela Schlüter, S. 175), wobei die analogische Entdeckung des Ähnlichen im Verschiedenen der begrifflichen Differenzierung feiner Unterschiede etwa zwischen Verschwiegenheit, Takt und Mäßigung vorarbeitet (S. 178).

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Eine versteckte Kontroverse: Was sind Begriffe?

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Dass ein Denken in Begriffen letztlich durch ein Unterscheiden gestützt auf Definitionen zu bestimmen sei, ist natürlich selber wieder eine These, die auf ihre Gründe und Konsequenzen zu befragen ist. Für Teichmüller ist anscheinend nur eine »Denkarbeit«, die in terminologischer Fixierung und scharf begrenzten Definitionen zur Ruhe kommt, im vollen Sinne begrifflich zu nennen. Für Gabriel gilt das sicherlich nicht: Wir unterscheiden oft (und benutzen in diesem Sinne Begriffe), ohne dass wir über eine Definition verfügen. Geldsetzer lässt Begriffe zu, die gegensätzliche Merkmale einschließen (wie etwa ›Sterblichkeit‹ inhaltlich sowohl das Merkmal des Lebendigen als auch das des Toten enthält) und in einem gewissen Sinne also intensional widersprüchlich sind (S. 90). Die Dispositionsbegriffe fallen unter diese Art von Begriffen, während nur die dihairetischen oder dichotomischen Begriffe in dem Sinne verträglich sind, dass sie sich vollständig disjunkt in zwei Arten einteilen lassen, wie ›Fischer‹ in ›Angelfischer‹ und ›Netzfischer‹ (S. 87), wobei die beiden Arten eine genau begrenzte Extension festlegen, für jeden Fischer also zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob es sich um einen Netz- oder einen Angelfischer handelt. Für die sogenannten widersprüchlichen Begriffe wird oft bestritten, dass sie überhaupt eine Extension besitzen. Geldsetzer behauptet nun, dass sich zwar die Intension eines Begriffs wie ›Sterblichkeit‹ nicht widerspruchsfrei angeben lässt, aber dass daraus nicht geschlossen werden darf, dass es diese Intension und eine zu ihr gehörige Extension nicht gebe. Nach Geldsetzer hat jeder Begriff eine Intension, die eine Extension festlegt. Für die widersprüchlichen Begriffe ist das die vereinigte Extension der beiden untergeordneten Artbegriffe. In der Alltagssprache haben wir mit solchen Begriffen keine Mühe, indem wir zwanglos etwa über Tote reden, als ob sie am Leben wären. In der Wissenschaftssprache muss eine »Interpretation« einer Theorie entscheiden, ob die vorkommenden unverträglichen Begriffe schädlich sind (S. 90).

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Vergleichen wir nun Geldsetzers mit Gabriels Auffassung, so ist leicht zu erkennen, dass wir, wenn wir den Sinn eines Wortes wie ›sterblich‹ in ›Sokrates ist sterblich‹ erfassen, uns nach Geldsetzer die Bedeutung des Begriffs ›Sterblichkeit‹, das ist eine Intension, beziehungsweise einen Komplex von begrifflichen Merkmalen und nicht einen Unterschied zu etwa ›Unsterblichkeit‹ vorstellen. In der Linie von Gabriels Auffassungen kann man aus kategorialen Gründen nicht sagen, dass Begriffe eine Bedeutung haben. Begriffe sind vielmehr ihrerseits Bedeutungen von Begriffswörtern, die keinen abgeschlossenen Sinn haben, eine Bedeutung nicht allein, sondern nur im Kontext ganzer Sätze, Texte oder Sprachspiele festlegen. Für Geldsetzer hingegen ist es gerade die »Zusammensetzung aus Extensionen (Umfängen) und Intensionen (Merkmale oder Bedeutungen)«, die »Begriffe von Bedeutungen der Wörter grundsätzlich unterscheidet« (S. 83). Für die Konzeption einer Begriffsgeschichte hängt eine Menge von diesem Unterschied ab: Für Gabriel (wie übrigens schon für Teichmüller) ist ›Begriffsgeschichte‹ letztlich ein elliptischer Ausdruck für eine Geschichte von Begriffsauffassungen. Geldsetzer beansprucht zeigen zu können, dass »man auf diese Weise durchaus eine ›logische‹ Geschichte der Begriffe, sei es einzelner Philosophien, sei es in einer ganzen Schule, sei es in ganzen Epochen erhält« (S. 94). Die Fragen, was Begriffe als Bedeutungen von Begriffsworten (Prädikaten) eigentlich sind, wie der begriffliche Inhalt festgestellt und welcher Gegenstand dadurch, wenn überhaupt, bestimmt wird, wird in diesem Band also keineswegs einhellig beantwortet. Mindestens die Ausführungen Gabriels und Geldsetzers hierzu sind miteinander unverträglich. Ungewollt macht der Band es Kritikern einer Begriffsgeschichte damit leicht. Ein sprachanalytischer Nominalist könnte auf die Beispielanalysen zum Wandel des Verständnisses von ›Substanz‹ (Thomas Leinkauf und Gianluigi Segalerba) verweisen und behaupten, dass das, was durch ein Prädikat bezeichnet wird, eben der ›Begriff‹, ohnehin nur über andere Prädikate zugänglich sei und dass die ›Begriffsgeschichte‹ nun gerade zeige, dass die Beziehung zwischen einem Prädikat und dem Begriff, den es angeblich ausdrücke, notorisch instabil sei.

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Indem sie eine historische Entwicklung von Begriffen, nicht nur Begriffsauffassungen zulässt, nähert sich die Konzeption Geldsetzers am meisten der Position Hegels an und wird damit zum natürlichen Kontrapunkt des unbeweglichen Platonismus Teichmüllers. Begriffe erhalten für Teichmüller ausschließlich im Verhältnis zu anderen Begriffen in einem topisch verfassten »Coordinatensystem« einen (scharf begrenzten) Sinn; geschichtliche Konstruktionen des Geistes als eines Prozesses der Begriffsbildung, wie Hegels Dialektik, sind für den platonischen Eternalisten Teichmüller nur Wege zur Entdeckung des feststehenden Systems (S. 39). Obwohl die postmoderne Ausdrucksweise mit Bezug zu Teichmüller verfehlt wirkt, ist es durchaus sinnreich, wenn Rother von einer »Praxis der dekonstruktiven Rekonstruktion«, etwa der aristotelischen Philosophie, spricht (S. 36). Diskursive Erkenntnis durch Begriffe ist für Teichmüller am Ende einer intuitiven Durchdringung der Totalität des Wissens unterzuordnen: Im Denken wird »eine Beziehung selbst […] mit einer anderen Beziehung und mit dem Bezogenen verglichen und das Ganze einheitlich zusammengeschaut in Begriffen, was wir auch die intellectuale Intuition nennen« (W. Teichmüller: Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik, Breslau 1882, S. 19 f.).

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Fazit

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Die Begriffsgeschichte, so bewundernswert sie sogar dem kritischen Leser durch ihren hohen Anspruch und ihre unbezweifelbaren wissenschaftlichen Leistungen ist, gleicht, zumindest ist das der Eindruck, den dieser Band vermittelt, einer ausgewachsenen philosophischen Disziplin letztlich doch nicht mehr als ein wild durcheinander gewürfelter Haufen aufständischer Cherusker einer wohl geordneten römischen Legion. Aber die Geschichte hält immer mal eine Überraschung bereit, wie man weiß.