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The World (of Serial Killing) according
to Thomas Harris

  • Philip L. Simpson: Making Murder. The Fiction of Thomas Harris. Sanba Barbara, Calif.: Greenwood Publishing Group Praeger 2010. XI, 358 S. 1 s/w, 2 farb. Abb. Hardcover. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-0313356247.
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Schon allein zeitlich gesehen liegt Philipp Simpson mit seinem Buch über das Werk von Thomas Harris genau richtig, denn 2011 ist ein gleich doppeltes Jubiläumsjahr: 1981 erschien Harris’ Roman Red Dragon, in dem ein gewisser Hannibal Lecter seinen ersten Auftritt (noch als Co-Star) hatte. 1991 feierte die Filmversion des 1987 erschienenen Erfolgsbuchs The Silence of the Lambs Premiere und räumte die Oscars in den fünf wichtigsten Kategorien ab. Hannibal Lecter wurde, nicht zuletzt wegen seiner Verkörperung durch Anthony Hopkins, zur popkulturellen Ikone. Mittlerweile gibt es mit Hannibal (1999) und Hannibal Rising (2006) insgesamt vier Romane mit dem charismatischen Serienmörder – alle verfilmt, Red Dragon gleich zweimal. Die Hannibal-Industrie läuft rund: Die Bücher wurden millionenfach verkauft, die Filme spielten weltweit fast eine Milliarde Dollar ein.

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Dieser Erfolg ist wohlverdient, hat Harris doch das Sub-Genre des Serienmord-Thrillers nicht nur etabliert, sondern gleich auch in seine spezifische Form gebracht: Ein außergewöhnlich raffinierter, unheimlicher Serienmörder im Kampf gegen eine verwandte Seele: einen beinahe übersinnlich begabten Profiler bzw. eine Profilerin, »who«, wie es Simpson pointiert formuliert, »through an act of projective imagination, enters the fantasy life of a serial killer in order to make sensible otherwise incomprehensible clues left behind at crime scenes« (S. 86). Die Harris-Romane stellen wohl auch einen Höhepunkt dieses Genres dar, denn trotz aller Nachahmer bleiben seine Bücher die bislang beste Umsetzung dieser Formel.

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Zudem hat Harris starke Figuren geschaffen: mit Francis Dolarhyde und Jame Gumb erinnerungswürdige Serienmörder, mit Will Graham und vor allem Clarice Starling interessante, weil ambivalente Ermittler, mit Mason Verger, Paul Krendler und Vladis Grutas fein überspitzte Fieslinge. Über allem aber thront natürlich Hannibal Lecter – »superstar serial killer« (S. 143). Mit dieser Figur hat es Harris geschafft, den Serienmörder als einen »popular culture demon« (S. 30) zu verankern. Lecter ist eine hoch ambivalente Figur: kultivierter Kannibale, Serienmörder mit Stil, bös-brillanter Psychiater, intelligent und gerissen, brutal und feinfühlig, gefährlich und tödlich, unnahbar und autonom. Er kümmert sich nicht um die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen, sondern bricht Tabus mit Leichtigkeit, schüttelt die sozialen Konventionen ab. Nicht, weil er sie nicht erfüllen kann, sondern weil er es nicht will. Das fasziniert. Lecter ist Schurke und Held zugleich: der Serienmörder als Identifikationsfigur.

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Ein weiterer Baustein für den Erfolg ist Harris’ für die Thriller-Landschaft innovativer Stil. Dazu gehören auch die vielen, gründlich recherchierten Anspielungen auf außerfiktionale Sachverhalte wie z. B. auf die Arbeit der ›Profiler‹ in der Behavioral Science Unit (BSU) des FBI. Diese Anspielungen machen die Romane nicht nur authentisch; die beiden Meilensteile des Genres, Red Dragon und vor allem Silence, erschienen zudem zu einer Zeit, als der Serienmörder in den USA vom FBI als nationale Bedrohung aufgebaut wurde und eine regelrechte serial killer panic aufkam, an der wiederum Harris, der den Trend gleichsam antizipierte, mit seinen Büchern nicht ganz unbeteiligt war.

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Es gibt aber noch einen weiteren, einen vierten Erfolgsfaktor: Das von Simpson so bezeichnete »Harrisverse«, ein geschlossenes moralisches System, in dem Harris die identifikationskompatiblen Figuren seiner Romane zwischen »murder« und »mercy« platziert. »It is not nature that makes murder, but men. The one hope is that men also make mercy« (S. 2). Die Prämisse, dass das Gute und das Böse zugleich in uns sind und die Hoffnung in der menschlichen Fähigkeit zu Mitleid und Gnade liege, scheint in ihrer Schlichtheit für das Publikum durchaus ansprechend zu sein. Zum »Harrisverse« gehört aber auch die Vorstellung, dass Serienmörder gemacht werden. 1 Gemacht von dominanten Frauenfiguren wie bei Francis Dolarhyde, von unklaren sexuellen Orientierungen wie bei Jame Gumb, von frühkindlichen Traumata wie bei Hannibal Lecter. Hier zeigt sich, dass Harris in der Tat »a master of moral ambiguity« (S. 2) ist: Er konturiert seine Serienmörder nicht einfach als vollständig böse, seine Ermittler nicht als vollständig gut, sondern hält sein Publikum in einer spannungsreichen, moralischen Ambivalenz, bis er es schließlich sogar zur Identifikation mit Serienmördern verführt, wenn diese als Opfer ihrer Umwelt erscheinen und trotz ihrer verabscheuungswürdigen Taten unser Mitgefühl bekommen. Das mag darin liegen, dass Harris dafür eintritt, selbst kannibalistische Serienmörder nicht außerhalb des Menschlichen zu stellen, sondern direkt in dessen Zentrum: »The paradox of human nature […] is its bestial quality hand-in-hand with its higher beauty. Hannibal is the ultimate embodiment of that paradox« (S. 281).

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Ziel und Aufbau des Buches

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The World (of Serial Killing) according to Thomas Harris – dieser Welt gilt Simpsons Interesse. Sein Ziel ist es, eine Einführung in Harris’ Werk und Vorstellungswelt zu geben, a »guided tour through the Harrisverse« (S. 44). Dabei beschränkt er sich auf die Romane, da es für diese bislang, anders als bei den Filmen, an einer systematischen wissenschaftlichen Analyse fehle.

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Eingeleitet wird das Buch mit dem Kapitel »The Elements of Murder and Mercy: Thomas Harris and his Fiction«, in dem Simpson nach einem kurzen Überblick über das Leben des Autors den Stand der Forschung zu dessen Werk umreißt, genauer: die Versuche, Harris’ Romane in literarische Traditionen, Strömungen und Genres wie zum Beispiel (Southern) Gothic oder Neo-Noir einzuordnen. Zudem erläutert er kurz die psychoanalytische und die feministische bzw. gender-orientierte Perspektive auf die Romane.

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Simpson widmet sodann jedem der bisher fünf Harris-Bücher ein eigenes Kapitel, beginnend mit dem 1975 erschienenen Erstling Black Sunday. Die Kapitel sind dabei alle nach dem gleichen Muster aufgebaut: Analysiert werden jeweils die Rezeption der Werke, die plot- und die Charakterentwicklung, der Stil, die außerfiktionalen Bezüge, Symbole und Themen. Endnoten und ein Index runden das Buch ab.

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Da es sich bei dem zu besprechenden Buch um eine Einführung in das Werk eines Autors handelt, erscheint es wenig sinnvoll, den Inhalt zusammenzufassen. Simpson beschreibt und interpretiert zudem die Einzelwerke, so dass es (im eigentlichen Sinn) keine Fragestellung und (da es an einem resümierenden Schluss fehlt) auch keine Ergebnisse gibt, die der Rezensent für gelungen oder nicht gelungen halten könnte. Der Wert des Buches liegt jedoch gerade darin, dass Simpson nach einem konsistenten literaturwissenschaftlichen Beschreibungs- und Interpretationsraster jedes Buch einzeln interpretiert und höchstens noch die Entwicklung zum Beispiel der Themen bzw. des Stils zwischen den Büchern beleuchtet.

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Deshalb soll sich die Aufmerksamkeit hier auf zwei ausgewählte Aspekte beschränken: auf Simpsons Analyse des »Harrisverse« und der Themen, die Harris in seinen Romanen abarbeitet.

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»The binary nature of humanity«: das »Harrisverse«

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Wie Simpson uns zeigt, besteht das »Harrisverse« eigentlich nur aus einem ›Doppelsternsystem‹, aus zwei sich umeinander drehenden Sonnen, »murder and mercy« eben. Harris’ Protagonisten gleichen dabei Planeten, die um einen, nicht selten aber, wie auf einer Unendlichkeitsschleife, um beide dieser Fixsterne zugleich kreisen.

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»Murder and mercy«, »the ambiguity in the hearts of humanity« (S. 3), sei, so Simpson, der Schlüssel zur moralischen Kosmologie von Thomas Harris: »The urge to murder translates all too easily into action when human beings are insulted. Mercy is harder to come by« (S. 2). Harris’ Figuren agierten dabei stellvertretend das menschliche Dilemma aus, nämlich angesichts der Verfehlungen anderer zwischen murder oder mercy wählen zu müssen. Harris aber, der Meister der moralischen Mehrdeutigkeit, lasse weder seine Figuren noch sein Publikum

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helplessly pinned between the horns of this dilemma. Harris suggests the barest glimmer of hope to resolve or at least come to terms with this existential crisis […]. Knowing we are capable of murdering those who have injured or offended us is the first step in refraining from acting upon it. Civilization is constructed upon this decision not to act in violence. (S. 2 f.)
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In diesem Sinne gestaltet Harris seine plots und seine Figuren – die Serienmörder wie die Ermittler, weshalb für beide Parteien jeweils ambivalente Identifikationsangebote bereitstehen: Es sei etwa, so Simpson, »Harris’s skill in portraying the tortured landscape of Dolarhyde’s consciousness«, der den Leser, die Leserin, in die Identifikation mit dem Serienmörder manipuliere; die eigentlichen good guys wie etwa Ermittler Will Graham taugen dafür nur sehr gebrochen:

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Graham, alienated from his family and peers by the awful burden of his own ability to sympathize with murderous points of view, succumbs to his own ›old, awful urge‹ and sets up an annoying reporter for murder« (S. 3).
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Und dann schreibt Simpson einen dieser vielen starken Sätze, die sein Buch zu einem echten Leseerlebnis werden lassen: »No one, not even the reader, is safe around Harris’s serial killers, either physically or psychologically« (ebd.).

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Dass im »Harrisverse« die Protagonisten mindestens prekäre, wenn nicht gefährliche Beziehungen zu Serienmördern eingehen, lässt sich an keiner Figur so gut ablesen wie an Clarice Starling. Während sich Graham für sein Seelenheil ein bisschen zu gut in das Böse der Serienmörder hineinversetzen kann (Lecter sagt ihm auf den Kopf zu: »The reason you caught me is that we’re just alike« 2 ), ist das Verhältnis zwischen Starling und Lecter differenzierter: »Some of our stars are the same«, wie Lecter ihr nach seiner Flucht am Ende von Silence schreibt. 3

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Zu diesen Sternen gehört der Umstand, dass sowohl Lecter als auch Starling an Verlusterfahrungen in ihren Kindheiten leiden und damit (ja, im »Harrisverse« ist das so monokausal) zu dem wurden, was sie sind. Starlings Vaterverlust findet in Lecters Verlust der Schwester eine Passung. »Some«, in der Tat, nur manche »of our stars are the same«: Starling orientiert sich in der Dunkelheit an denselben Sternen wie Lecter, indem beide ihren jeweiligen Verlust zur Motivation ihrer Handlungen machten. So nähert sie sich ihm an, bis sie seine Geliebte wird – und Lecter vom mythischen Helfer und Mentor zur dunklen Vaterfigur und zum demon lover. Darin gerade aber sah das Lesepublikum »Starling’s fall from grace« 4 : Die starke Frau (auch wegen der Darstellung durch Jodie Foster als Rollenbeispiel gefeiert) gibt sich dem manipulierenden Erzfeind hin. Starker Tobak, aber im hoch ambivalenten »Harrisverse« auf seine Weise einfach nur konsequent.

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Auch Lecters Charakterentwicklung bekam ihren Teil der Kritik ab: Noch in Red Dragon, vollends dann in Silence verkörperte Lecter das pure Böse, das scheinbar aus dem Nichts kam: »Nothing happened to me, Officer Starling, I happened. You can’t reduce me to a set of influences«. 5 Die mörderische Absolutheit, die moralische Überlegenheit, der kannibalistische Hunger machten Lecter zu einem, wie die Anthropologin Maggie Kilgour treffend formuliert hat, »cannibal ego […,] the most exaggerated version of the modern Hobbesian individual, governed only by will and appetite, detached from the world and other humans, whom he sees only as objects for his own consumption«. 6 Nun aber, in Hannibal und natürlich in Hannibal Rising, erfährt das Publikum: Im Winter 1944, als Kind, musste Lecter in seiner Heimat Litauen mit ansehen, wie marodierende, hungernde Nazi-Kollaborateure seine kleine Schwester Mischa töteten und aßen. Lecter rächte sich; er tötete (und verspeiste) seinerseits im Laufe der Jahre alle Beteiligten (zumindest Teile von ihnen).

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Hier gab es ihn nun also doch, den guten-bösen Grund, die basale Erklärung für Lecters Taten. Damit aber entzauberte Harris seinen kannibalistischen Helden, und dies durchaus im Max Weberschen Sinne: Er rationalisierte Lecter, deutete ihn, führte ihn auf eben jenes »set of influences« zurück, das dieser selbst doch so weit von sich gewiesen hatte. Aus der Sphäre der autonomen Eindeutigkeit herausgerissen und in den Strudel der menschlichen Ambivalenzen im »Harrisverse« hineingeworfen, ist Lecter

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abruptly rendered as human as we are. It seems we do share something in common with Lecter – our vulnerability to self-betrayal. This complicated novel asks a lot of us, not the least of which is identifying with a cannibal (S. 238).
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Lecter hat also doch Anteil an der »binary or divided nature of humanity, forever aspiring to decency but mired in clotted pools of blood resulting from its willfully unleashed brutality« (S. 135). Man möge dem Rezensenten die vielen Zitate als Freude am guten Satz nachsehen. Deshalb noch einer: »Though still a monster, he is a rehabilitated one« (219).

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Prekäre Transformationen: Harris’ Themen

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Simpson leuchtet das »Harrisverse« aber nicht nur durch die Beschreibung der Charaktere aus, sondern auch durch die Analyse der sich von Buch zu Buch entwickelnden Themen.

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Bereits in Black Sunday, dem Thriller über ein geplantes terroristisches Attentat, das ein desillusionierter Vietnamveteran mit palästinensischer Hilfe beim Super Bowl verüben will, aber vom Mossad und vom FBI gestoppt werden kann, schreibt Harris über einige der Themen, die später die Hannibal-Romane ausmachen sollten. Vor allem Transformation ist ein solches durchgängiges Thema, die Frage, welche Verletzungen und Ungerechtigkeiten Menschen zu Mördern machen (S. 77).

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In Red Dragon formt sich das »Harrisverse« in seine heutige Gestalt aus. Alle behandelten Themen unterstützten die zentrale Behauptung des Buches, die Simpson richtig darin sieht, dass der Mensch potentiell ein Mörder sei (S. 131). Auf der Handlungsebene ist Red Dragon vornehmlich ein Buch über die Bedrohung der Familie. Serienmörder Francis Dolarhyde entstammt selbst einer dysfunktionalen Familie; als »Tooth Fairy« tötet er Mittelklassefamilien und bedroht schließlich auch die des Profilers Will Graham – zunächst indirekt, da sich Graham durch seine Gabe, sich in den Mörder einzufühlen, von Frau und Sohn entfremdet, dann sehr unmittelbar, wenn Dolarhyde versucht, Graham und die Seinen umzubringen.

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Die Bedrohtheit der Familie führe hin zum schmalen Grad zwischen »murder and mercy«, denn »just as the safety of the home is called into question, so too is the sanctity of one’s own psyche. The individual mind may fracture or split because of threats within and without« (S. 135). Und schließlich findet sich auch in diesem Buch das Harris-Thema Transformation, »the human desire to transcend the material and achieve immortality through grand actions«, und das heißt »in Harris’s Gothic world, [that] the romantic idea of achieving individual godhood transmogrifies into a debased mystic impulse to seek renewal in the sacrifice of others« (S. 138).

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In The Silence of the Lambs ist Transformation (auf Kosten der Leben anderer) nun das beherrschende Thema, symbolisiert durch die Larve der death’s head moth, die der Serienkiller »Buffalo Bill« als Zeichen für seinen eigenen Wunsch nach Transformation im Rachen seiner Opfer platziert. Transformation aber ist extrem und prekär zugleich im »Harrisverse«: Im Falle Jame Gumbs/»Buffalo Bills« ist sie extrem, weil der sexuell orientierungslose Gumb Frauen tötet, da er glaubt, sich durch ein Kleid aus Frauenhaut in eine Schönheit wie seine Mutter, eine frühere Provinz-beauty queen, verwandeln zu können. Und sie ist prekär, da Gumb, wie der Psychiater Lecter meint, nicht um seine wirkliche (sexuelle) Identität wisse: »Billy’s not a transsexual, Clarice, but he thinks he is, he tries to be«. 7 Ohne Wissen um die eigene Herkunft aber, um die eigene Identität, muss Gumb in seinem Streben nach Transformation letztlich kläglich scheitern.

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Starlings Transformation hingegen ist, gerade weil sie um ihre Vergangenheit und damit um ihre Identität weiß, persönlich und professionell erfolgreicher. Sie rettet mit Lecters Hilfe Gumbs letztes Opfer – und sich selbst, denn die Lämmer, die sie in ihrer Jugend nicht vor der Schlachtbank retten konnte und die sie in ihren dunklen Träumen schreien hört, schweigen nun. Vorerst. Mit der Aufnahme ins FBI geht dann noch ein zweiter Transformationswunsch, der eigentlich ein Aufstiegswunsch ist, in Erfüllung: Sie übertrifft ihren toten Vater, einen Nachtwächter, und überwindet die Klassenschranke vom white trash zur FBI-Agentin. Dass sie für beide Transformationen erhebliche Hindernisse zu überwinden und sich gegen dominante Männer durchzusetzen hat, ist das zweite große Thema von Silence: die Schwierigkeiten, mit denen eine Frau in einer patriarchalen Welt (und nicht nur in der des FBI) konfrontiert ist.

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Aber: »[the] promise for a bright future for Starling ends […] in the profound disillusionment of bitter experience« (S. 252). Die bittere Erfahrung mit Korruption, mit dem faulen Verhältnis zwischen Politik, Strafverfolgung und Kapitalismus, ist das beherrschende Thema von Hannibal. Verkörpert wird diese »economy of cruelty« (S. 253) durch Paul Krendler, einen zutiefst korrupten und skrupellos auf das eigene Fortkommen bedachten Beamten des Justizministeriums, der Starlings Karriere im FBI verhindert, weil sie ihn als Mann zurückgewiesen hat.

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Hannibal ist ein in vielerlei Hinsicht extremes Buch: hinsichtlich der beschriebenen Gewalt, dem Ausmaß an neidvoller und sexistischer Bedrohung, der Starling sich innerhalb des FBI ausgesetzt sieht, hinsichtlich der kitschig-subversiven Schlussszene mit dem Liebespaar Lecter-Starling im südamerikanischen Sonnenuntergang, dem Überfluss der Bezüge auf Kunst und Geschichte. Und auch, wie Simpson richtig festhält, hinsichtlich der Themen, die nicht neu seien im »Harrisverse«, aber doch »more extreme in their implications – more nihilistic, more cynical« (S. 252). Im Vordergrund steht die Transformation Starlings, die zu einem extremen Ende findet, wenn sie gemeinsam mit ihrem zukünftigen Liebhaber Lecter das Gehirn ihrer Nemesis, Krendler, verspeist. Aber auch Lecter erlebt in der psychologisch komplexen Schlussszene seine Transformation, wenn Starling ihm ihre Brust darbietet und ihn so mit seiner Vergangenheit versöhnt, mit dem quälenden Gedanken, dass er seinerzeit seiner Schwester Mischa, die bald ein solch schreckliches Schicksal erleiden sollte, die Brust der Mutter geneidet hatte: »You don’t have to give up this one«. 8

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Was so viele Fans entsetzt hat, ist – es wurde schon gesagt – im »Harrisverse« nur folgerichtig. Für diese Folgerichtigkeit brauchte es allerdings noch die Vorgeschichte, und die breitet Harris in Hannibal Rising aus. Vor dem Hintergrund des großen Transformators, dem Zweiten Weltkrieg, vollzieht sich das Drama, das aus Hannibal »The Cannibal« machte. Es klingt angesichts der im Buch beschriebenen Gräueltaten etwas euphemistisch, wenn Simpson »the danger of growing up« als das zentrale Thema dieser »coming-of-age«-Story ausmacht (S. 309). Dennoch trifft genau dies den Kern, behandelt Harris doch seine Hauptfigur auf eben jene Weise wie die anderen Serienmörder in seinen Büchern, indem er auch auf den »ur serial killer« (S. 37) Lecter ein recht simples Freudsches Schema, vom Trauma der Kindheit zum (cannibal) killer, appliziert (S. 310).

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Etwas elaborierter ist da schon Harris’ (psychoanalytischer) Umgang mit dem Thema der psychischen Erlösung, die für Lecter zunächst unmöglich ist, da er trotz vieler Möglichkeiten, vom Töten abzusehen, »continually fails key moral choices« (S. 311), zu denen der Mensch im »Harrisverse« doch fähig ist. Weil aber das Töten in Lecter über die einfache Rache hinaus die Funktion einer Ersatz-Erlösung hat, tötet er weiter. »What is left in you to love?«, fragt seine Mentorin, Lady Murasaki, nachdem Hannibal auch den letzten der Mörder seiner Schwester getötet hat. 9 Lecters erste Transformation ist nunmehr abgeschlossen; sie hat ihn nicht geheilt, sie lindert jedoch – und hier verwirrt Harris wenig subtil den Sinn seines Publikums für gut und böse – Lecters Schmerz: »[M]urder is the therapy by which he ends his nightmares, and he suffers no remorse for it« (S. 312).

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Eben weil er keine Reue, keine Gewissensbisse entwickelt, wird Lecter zum kannibalistischen Serienmörder. Gerade weil er sich gegen die Gnade – mercy – entscheidet, beschreitet er den Weg des Tötens – murder. Im Gravitationssystem des »Harrisverse« versagt Lecter demnach an entscheidender Stelle, nämlich dort, »where it is all too easy to give in to our violent potential and become increasingly desensitized to the pain we inflict on others« (S. 312). Aus dieser Kreisbahn um den Fixstern murder kann ihn erst Starling am Ende seiner zweiten Transformation erlösen. So gesehen ist das Ende von Hannibal in der Tat das Ende; weiter kann sich das »Harrisverse« nicht ausdehnen – es wäre überraschend, erschiene noch ein weiterer Hannibal-Roman.

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Fazit

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Simpsons Buch ist absolut lesenswert. Es besticht durch eine klare Struktur, gehaltvolle Interpretationen sowie vor allem durch eine überaus starke Sprache. Nicht nur die vielen Zitate, sondern auch die Länge der Besprechung von nur zwei Aspekten dieser Arbeit verdeutlichen, dass Philipp Simpson mit Making Murder ein außergewöhnliches Buch gelungen ist. Noch mehr und genauso Lobendes hätte gesagt werden können über Simpsons Interpretation der vielfältigen Symbolik in den Hannibal-Romanen oder seiner Aufschlüsselung der außerfiktionalen Bezüge. Will man mit Macht etwas finden, das man kritisieren könnte, so wäre dies vielleicht die fehlende Zusammenfassung, denn eine systematische Übersicht darüber, was das »Harrisverse« ausmacht, wäre hilfreich gewesen. Auch die Forschung hätte vielleicht noch intensiver eingearbeitet werden können.

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Aber: Es ist die annoncierte »guided tour through the Harrisverse« geworden. Sicherlich ist Simpson dabei nicht in Galaxien vorgedrungen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, aber er hat für uns das komplexe »Harrisverse« ausgemessen und dabei nicht nur dessen Sterne und Planeten entdeckt und deren Umlaufbahnen beschrieben, sondern auch die Dunkle Materie aufgespürt, die diesen Kosmos in seinem Innersten zusammenhält.

 
 

Anmerkungen

Der Buchtitel »Making Murder« ist in dieser Mehrdeutigkeit hervorragend und passend zu den ambivalenten Implikationen seines Gegenstands gewählt, auch wenn es etwas plakativ wird: men make murder, men make serial killers …   zurück
Thomas Harris: Red Dragon. New York 2005, S. 86.   zurück
Thomas Harris: The Silence of the Lambs. New York 1988, S. 367.   zurück

Benjamin Szumskyj: Morbidity of the Soul. An Appreciation of »Hannibal«. In: B. S. (ed.): Dissecting Hannibal Lecter. Essays on the Novels of Thomas Harris. Jefferson N.C.: McFarland 2008, S. 200–211.

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Harris, Silence (Anm. 3), S. 21 (kursiv im Original).

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Maggie Kilgour: The Function of Cannibalism at the Present Time. In: Francis Barker, Peter Hulme und Margaret Iversen (eds.): Cannibalism and the Colonial World. Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 238–259.

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Harris, Silence (Anm. 3), S. 165.

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Harris, Thomas: Hannibal. New York 2005, S. 536.

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Harris, Thomas: Hannibal Rising. London 2006, S. 360.

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