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Ineinanderschwimmende Textbausteine

Kirsten Schefflers mosaikhafte Studie zu Robert Walsers Bieler Prosa

  • Kirsten Scheffler: Mikropoetik. Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein „Bleistiftgebiet“ avant la lettre. Bielefeld: transcript 2010. 510 S. Kartoniert. EUR (D) 38,80.
    ISBN: 978-3-8376-1548-7.
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Robert Walser ist der große bekannte Unbekannte der Literaturgeschichte, der auch denen, die sich lange mit ihm und seinem Werk beschäftigt haben, immer rätselhaft bleiben wird. Nach wie vielen Jahren kennt man ihn? »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich«, schrieb er selbst dazu, er, das ewige »Literaturgerücht«, der weit verbreitete Geheimtipp.

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Neben der altbekannten, seinem Werk, seiner Person inhärenten Kleinheit, Randständigkeit, Verstecktheit ist er in der Germanistik inzwischen zu einem nicht nur mehr argwöhnisch beäugten Forschungsgegenstand geworden. Prominent platzierte literaturwissenschaftliche Aufsätze, klug konzipierte Sammelbände und sowohl gewichtige wie auch komplexe Dissertationen belegen dies hinreichend.

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Blick in die Mansarde im Blauen Kreuz

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Seit vergangenen Herbst liegt nun Kirsten Schefflers 500-seitige Studie zu Robert Walsers Bieler Prosa vor, das heißt zu Walsers Schaffensjahren von 1913 bis 1921, in denen er hauptsächlich in einem ärmlichen Zimmer des Bieler Hotels Blaues Kreuz lebte und schrieb, zahlreiche Prosastücke verfasste und in Anthologien veröffentlichte. Kleine Dichtungen, Der Spaziergang, Poetenleben und Seeland sind dem Walser-Liebhaber gut bekannte Titel dieser Periode. In Ergänzung zu Stephan Kammers Dissertation Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit (2003), die sich einer breiten Analyse von Walsers Berner Prosa (1921–1933) widmet, setzt es sich Kirsten Scheffler zum Ziel, Walsers unmittelbar vorhergehenden Schaffenskomplex zu analysieren. Wohlüberlegt bereitet sie eine große These vor: In den

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kurzen Prosatexten, die vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und im deutschsprachigen Feuilleton oder in den vom Autor zu dieser Zeit noch eigenhändig besorgten Textanthologien erschienen sind, zeigen sich, näher besehen, Verweise auf jenen Umgang mit der eigenen Schrift, der sich in den Mikrogrammen manifestieren wird. In der sogenannten Bieler Prosa […] lassen sich semantische Spuren finden, die sich im Blick auf die Zukunft von Robert Walsers Schreiben als deren Antizipation lesen lassen. Diese Spuren werden jedoch lesbar erst in jenem Kontinuum, als sich das gesamte Werk darstellt. (S. 12)
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Für diese These soll der Titel der Monographie stehen: Mikropoetik. Diese werde in Walsers Texten der Bieler Zeit sichtbar und nehme das Bleistiftsystem der Mikrogramme vorweg, antizipiere Walsers millimetergroße Bleistift-Entwurfshandschrift, von welcher ausgehend er seine Texte in eine ordentlichere Federhandschrift transformierte. Scheffler weist nach, dass Walser beispielsweise auf den Manuskriptrückseiten eines Konvoluts an Prosatexten bereits Vorstufen von Texten notierte, wobei diese »Fragmente […] bereits in das ›Bleistiftgebiet‹ voraus[weisen], wo Rückseiten und Ränder beschriftet sein werden« (S. 226). Schrittweise, jedoch auch in komplizierten Verschachtelungen, findigen Argumentationsgängen, immer verblüffenden, mal eher nahe liegenden, mal weiter hergeholten Induktionsschritten zeigt Scheffler, dass sich bereits in diesen frühen Texten die erst ab 1924 nachweisbaren Mikrogramme Walsers semantisch auffinden lassen.

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»Die Signifikanz, die den Mikrogrammen in ihrer ›Materialität‹ zukommt, scheint über das Anekdotische weit hinauszugehen«, schreibt Kirsten Scheffler. »Jenseits des entzifferten Textsinns haftet der Mitteilung hier noch etwas anderes an.« (S. 23) Es geht ihr nicht nur darum, ausgehend von der Materialität und Beschaffenheit der Mikrogramme Interpretationen zu erarbeiten, sondern dieses Jenseits des Textsinns in der Bieler Prosa durch Rückgriff auf heuristische Begriffsfolien aufzuzeigen:

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Um dieses aufzuspüren, sollen sich im Folgenden Lektüren zu Robert Walsers gesamtem Werk, insbesondere zur Bieler Prosa entfalten, und zwar im Rekurs auf die historischen Interpretamente der Hieroglyphe, des Emblems, der Arabeske, auf die Denkfiguren des Palimpsestes und des Vexierbildes – und im Hinblick auf das Kalligramm. (S. 23)
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Für den weiteren Verlauf ihrer Überlegungen ist es allerdings schwierig, in Prägnanz darzulegen, wie dies konkret inhaltlich geschieht. Die Autorin nutzt diese Termini wie Folien oder Stützrahmen, um durch intertextuelle Verweise, durch die Begriffsgeschichte und durch eine eklektische Lesart die Texte Walsers zu erschließen. Dieses Verfahren hat seine Vorteile, indem es unkonventionell zu neuen Ergebnissen führt. Es besitzt jedoch den inhärenten Nachteil, dass es häufig beliebig und allzu willkürlich wirkt.

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Poetisches Rekonstruktionsverfahren

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Kirsten Schefflers inhaltliches Vorgehen ist schwer auf den Punkt zu bringen, was ganz ihrem gewählten Verfahren geschuldet ist. Unter hochtrabend klingende, verrätselte Überschriften mischen sich diskursive sozialhistorische Beschreibungen der Schaffenszeit Robert Walsers mit Interpretationen von Prosastücken, weiterführenden Textvergleichen oder einen Gedankengang illustrierenden Textzitaten, beispielsweise von Jacques Derrida, Aleida Assmann oder Moritz Baßler (Die Entdeckung der Textur). In Kapitel VI – »Zwischenreiche der Artikulation« – liest Scheffler Walsers Geschichte Das Grab der Mutter unter Zuhilfenahme von Friedrich Kittlers These, dass das »Träumen, Phantasieren und Erwachen im Arm der Mutter« die »Urszene romantischer Texte« (S. 247) sei. Nach Scheffler ließen sich zwei akustische Modi der Artikulation ausmachen: die große Stille und Bewegungslosigkeit, die der Text andeutet, und »eine andere Stille, die keine mehr ist« (S. 247), das heißt im Walser-Text das Flüstern und Lispeln, das der Ich-Erzähler plötzlich am Grab der Mutter vernimmt. Die folgende Passage aus Kirsten Schefflers Arbeit sei, um die verwobene, zugleich schwer verständliche Argumentation exemplarisch aufzuzeigen, zur Gänze zitiert:

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Aus dem Geflüster entsteht das ›lebendige Bild‹ der Toten. Die Mikrophonetik des Hauchs, des Geflüsters usf., das heißt all jener Artikulationen, die nicht laut und ›voll‹ artikulierte Sprache sind, schlägt in der Schrift im Allgemeinen sprichwörtlich nicht zu Buche, es sei denn in Heinrich von Kleists Paragrammatismus, in dieser ›gestammelten Sprache‹, die Robert Walser kongenial beschrieben hat, oder aber in Robert Walsers Mikrogrammen, welche die metaphorische Rede vom Schweigen, Verstummen, einer leisen Rede, einem Geflüster, Gewisper, wie es in vielen Texten der Bieler Prosa semantisch wird, nahezulegen scheinen. Im Alt- und Mittelhochdeutschen ist es das Wort ›Rune‹, das als Schriftzeichen etymologisch auf das Raunen, auf das heimliche Geflüster, auf das Geheimnis hinweist. (S. 248)
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Jene »Zwischenreiche der Artikulation« bilden für Scheffler einen offensichtlich thematisch sehr weit gefassten Rahmen, den sie auf komplizierte Weise anfüllt. Das dazu gehörige Unterkapitel VI.4 trägt den Titel »Die doppelte Zeichnung der Blätter« und verfährt mit gleicher Technik und in derselben amalgamierenden Bauform: Vom Prosaband Poetenleben mit dem Text Die Indianerin gelangt die Autorin zu Platons Höhlengleichnis, geht über zu Walsers Text Abendgang, um wiederum Die Indianerin zu beleuchten und schließlich die »bei Paul Cassirer 1909/10 wieder aufgelegten Lederstrumpf-Erzählungen von James Fenimore Cooper, die durch Max Slevogt illustriert und durch Karl Walser mit einem Einband versehen worden sind« (S. 266), zu erreichen. Die aufgeführten Passagen mit ihrer heterogenen Themenvielfalt, ihrer patchworkartigen Verwebung von Argumentationsbausteinen mögen für den Kenner des Walserschen Universums ein reizvolles Spiel sein; auf den nicht näher in die Materie eingearbeiteten Leser kann das alles jedoch schnell abschreckend und enervierend wirken.

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Ihre analytisch präzisen, oft jedoch auch kryptisch wirkenden Beweislinien versieht die Autorin im elften Großkapitel mit der Überschrift »Brouillon« und entfaltet in kleinschrittigen und kompliziert gewobenen Nachweisen ein ganzes Panorama von Walsers Schreiben der Bieler Zeit. Geschickt spielt sie auf die Bezeichnung »Brouillon« an, die Walser selbst für die Bastelei seiner Bleistiftmethode im berühmten Brief an Max Rychner gewählt hat, klärt diesen Begriff, entfernt sich aber auch von ihm und deckt mithilfe von ausgewählten Argumentationsbausteinen aus Walsers Werk verborgene Zusammenhänge auf. Insgesamt geht es ihr um die textuellen Motive, die sich über die Jahre hinweg in immer neuer Anordnung bei Walser mit textinterner Zusammengehörigkeit wieder finden lassen. »Zugleich unterhalten die Texte, nicht nur in den Mikrogrammen, Beziehungen zu anderen Texten«, schreibt Kirsten Scheffler, »so dass das Konvolut für die kritische Textedition und den Textkommentar zu einem in der Synopsis schier endlos darstellbaren Konvolut wird, man an die Grenzen der Darstellbarkeit stößt«. (S. 90) In ihrer nicht unbedingt immer leicht nachvollziehbaren, aber durchaus weitsichtigen und lohnenden Studie nähert sich Scheffler dieser Mikropoetik. Ihre poetischen und verrätselten Kapitelüberschriften wie »Buchstabenverbot«, »Der Klang der Inversionslinie«: Schneeglöckchen (1919), »Vom Tod gefristetes Erzählen: Prinzip der Insertion« repräsentieren ihr Verfahren, bei dem der Leser immer wieder mit konkreten Textanalysen innehält und der Autorin für ihre in die Tiefe gehende Rekonstruktionsarbeit dankt. Folge dieses Verfahrens ist es allerdings, dass der Leser beständig Gefahr läuft, die Fragestellung der Arbeit in einer assoziativ gereihten Detailfülle aus den Augen zu verlieren, und sich die Frage stellen muss, was nun eigentlich alles und aus welchem Grund unter einer bestimmten Überschrift subsumiert wird.

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Walser als politischer Denker

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Sehr gelungen ist die Deutung der Prosaarbeit Hans aus dem Band Seeland, durch die unter anderem nachgewiesen werden kann, wie eine »signifikante[ ] Veränderung zwischen Erst- und Zweitfassung auf ein Datum« weist, »auf den Beginn der Mikrographie«. Hans figuriere »als Paradigma der vom Kriegsausbruch zerstörten Zusammenhänge den Abbruch des Traums, das Zerreißen des Nimbus, der auch der Nimbus der Schrift ist« (S. 199). Damit weist Scheffler unter Verweis auf einen Beschwerdebrief, den Walser an den Zeitschriftenredakteur Efraim Frisch betreffend den nationalistischen deutschen Schriftsteller Otto Flake schreibt, auf die häufig verdrängte Tatsache hin, »wie groß Robert Walsers Gespür für jede Form des noch so versteckten Revanchismus und Chauvinismus war, den er selbst dort aufzudecken vermochte, wo Autoren der Ruf des Pazifismus vorauseilte« (S. 376). In diesem Sinne war Walser durchaus ein politischer Autor, der die diskursiven Strömungen seiner Zeit erfasste und sich scharf gegen nationalistische Tendenzen wandte.

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Fazit: Freund des Ungewissen

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Die Monographie selbst bietet eine anspruchsvolle, aufschlussreiche, stellenweise aber auch schleppende Lektüre. Plötzliche, äußerst assoziativ erscheinende und abrupt gesetzte Übergänge finden sich häufig und der Leser muss auf der Hut sein, sich nicht im gelehrten Gestöber textgenauer Querverweise zu verlieren. Novalis ist ein ebenso häufig zitierter Gewährsmann wie Friedrich Schlegel mit seinen poetologischen Überlegungen. Doch ebenso souverän bewegt sich die Autorin durch das Œuvre von Max Brod, Walter Benjamin, Else Lasker-Schüler oder Franz Blei. In ihren als »Relais« betitelten Exkursen schaltet Scheffler Ausführungen zu Sigmund Freuds Betrachtung Das Unheimliche oder Hofmannsthals Chandos-Brief zwischen ihre panoramatischen Entfaltungen.

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Eine insgesamt intensive, entlegene Literatur rezipierende, etwas sperrige, aber nicht minder lohnende Studie zu Walsers Werk. Sie endet mit dem Zitat eines Satzes, den Walser in seiner Naturstudie formuliert: »Ich bin erklärter Freund des Ungewissen.« (SW 7,60) Manchmal bleibt auch die Mikropoetik vage, abstrakt und schwer fassbar, tritt dann jedoch mit ihren Ergebnissen umso lehrreicher ans Tageslicht. Ebenfalls in der Naturstudie findet sich ein Satz, der die Spezifik und reizvolle Sonderbarkeit dieser Monographie auf den Punkt bringt: »Eigentümlich ist, wie mir Frühes und Spätes, Jetziges und Längstvergangenes, Deutlich-Gegenwärtiges und Halbschonvergessenes in- und übereinanderschwimmen« (SW 7, 60).