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Die Narratologie des Films als Beitrag zu einer transmedialen Erzähltheorie

  • Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. (Narratologia / Contributions to Narrative Theory 26) Berlin/New York: Walter de Gruyter 2011. XV, 410 S. Hardcover. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-025354-2.
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Die bibliografische Trefferliste zum Begriff ›Filmnarratologie‹ im Internet ist momentan mehr als übersichtlich. Neben wenigen Sammelbänden, die das Erzählen im Film ins Zentrum der Untersuchung stellen und anderen, die die Filmnarratologie nur am Rande erwähnen, ist seit den bahnbrechenden Ansätzen von David Bordwell, Edward Branigan und Seymour Chatman höchstens eine Hand voll Monografien erschienen, die ›Film‹ und ›Narratologie‹ im Titel tragen. Zu nennen sind etwa André Gaudreaults zuerst 1988 veröffentlichte, seit 2009 auch in englischer Übersetzung vorliegende Studie From Plato to Lumière. Narration and Monstration in Literature and Cinema, dann Petra Grimms deutschsprachige Filmnarratologie von 1996 (mit dem Schwerpunkt Werbefilm), Jakob Lothes Narrative in Fiction and Film (2000) und schließlich Peter Verstratens ebenfalls 2009 aus dem Niederländischen übertragene Arbeit Film Narratology. 1

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Nun ist mit Markus Kuhns Veröffentlichung seiner Dissertation − man möchte sagen: endlich − ein umfassendes Werk zur Filmnarratologie bei de Gruyter erschienen, das einerseits in früheren Ansätzen verankert ist und das andererseits wegweisende Neuerungen der filmnarratologischen Modellierung in Aussicht stellt. Das Anliegen des Buches ist ein zweifaches: einen aktuellen Beitrag zu narratologischen Forschungsbereichen wie zur Fokalisierung, zur Frage nach einer Erzählinstanz und anderem zu liefern sowie die Besonderheiten und Vorteile einer transmedialen Narratologie (sowie ihrer Anwendung auf den Film) vorzuführen. Kuhn lässt nur wenige Wünsche offen, seine Monografie dürfte − nicht nur in Deutschland − zu einem Standardwerk avancieren.

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Die Studie gliedert sich grob in zwei Teile. Im ersten Teil arbeitet Kuhn anhand der bisherigen Forschung die wesentlichen Grundlagen für seine Auseinandersetzung heraus. Im zweiten entwickelt er ein eigenes Analyseinstrumentarium, welches sich aufgliedert in 1.) ein Kommunikationsmodell (das die narrativen Instanzen beinhaltet), 2.) Fokalisierungsaspekte, 3.) den Umgang mit Zeit und 4.) Komplexe Kommunikations- und Ebenenstrukturen. Im Großen und Ganzen richtet sich der Bau des Modells nach Gérard Genettes etablierten Terminologien, Kuhn tritt aber durchaus kritisch an diese heran und führt sie konsequent weiter.

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In den narratologischen Kernbereichen thematisiert die Arbeit jeweils die Schwachstellen der bisherigen Forschung. Um zu verdeutlichen, um welche Problemfelder es sich handelt, sei an dieser Stelle auf die wesentlichen Punkte eingegangen, die den Nexus der aktuellen Diskussion innerhalb der Erzählforschung ausmachen.

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Visuelle und sprachliche Erzählinstanzen

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Das erste von Kuhn betretene und zugleich prominenteste Problemfeld der transmedialen Narratologie bildet die Frage nach der Erzählinstanz. Ist im Fall einer Erzähltheorie, die gleichermaßen medienorientiert und medienübergreifend konzipiert werden soll, das Kriterium der Mittelbarkeit ausschlaggebend, wie es Franz K. Stanzel und andere formuliert hatten? Klug handelt Kuhn, indem er diese grundsätzliche Frage umgeht und gleich zur Annahme einer Erzählinstanz im Film überleitet. Denn tatsächlich wird es so sein, dass das Projekt einer allumfassenden transmedialen Narratologie ohnehin obsolet ist, da sie nicht gleichermaßen ›allen‹ medial-narrativen Charakteristika gerecht werden und andererseits einen medienunabhängigen Erzählbegriff zu etablieren imstande sein wird.

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Kuhn plädiert seinerseits für eine zweiteilige audiovisuelle Erzählinstanz (AVEI) im narrativen Spielfilm: eine (obligatorische) visuelle Erzählinstanz (VEI) und eine oder mehrere (fakultative) auditive, sprachliche Erzählinstanzen (SEI). Der Schritt, eine AVEI im Film vorauszusetzen und sie in den Analyseapparat einzubinden, ist auf eine heuristische Entscheidung zurückzuführen: Kuhns textbasierter Beschreibung der filmischen Inhaltsorganisation muss eine Instanz zugrunde liegen, die die »Auswahl, Perspektivierung und Akzentuierung« des Gezeigten vornimmt (S. 87). Diese Operationen werden im Wesentlichen auf zwei Instanzen verteilt: die Kamera und die Montage; und zwar aus dem Grund, weil filmische Inhalte zum einen in Einstellungen und zum anderen durch die Kombination mehrerer Einstellungen organisiert werden. Nimmt man eine solche organisierende und vermittelnde Instanz an, gelangt man zwangsläufig zu anderen Ergebnissen als etwa eine kognitionstheoretisch gestützte Erzähltheorie (vgl. Werner Wolf), nämlich zu Ergebnissen, die Aussagen über den Film als narratives Medium zu machen erlauben. Bei aller notwendigen Diskussion um den Erzählerbegriff sollte dies beachtet werden: Untersucht man einen Film als narratives Medium, so entpuppt sich die selektierende, perspektivierende und linearisierende Instanz als eine hilfreiche Untersuchungskategorie, und dies wird noch in Bezug auf die Fokalisierung, den Zeitpunkt des Erzählens und den Umgang mit mehreren narrativen Ebenen zu zeigen sein.

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Allerdings ist das Wesen einer filmischen Erzählinstanz auch mit Kuhns Arbeit nicht schlüssig geklärt. Er versteht die AVEI als ein »synthetisches Konstrukt« (S. 92). Dabei stehen VEI und SEI in keinem Dominanz-, sondern vielmehr in einem relationalen, sich gegenseitig bedingenden Verhältnis. Sprachliche Erzählinstanzen sollten ihrer Erscheinung nach bekannt sein: Es handelt sich entweder um Figurenerzähler oder aber − in der Terminologie Genettes − um extradiegetische-heterodiegetische Erzählerstimmen. Die visuelle Erzählinstanz ist augenscheinlich schwieriger zu erfassen. Nachvollziehbar ist das Zusammenspiel aus Montage und Kamera. Weniger überzeugt hingegen Kuhns Behauptung, Elemente der Mise-en-scène zur VEI zu zählen, besonders dann, wenn er an einer Stelle zugibt, dass viele dieser Elemente »primär keine narrative, sondern eine symbolische, charakterisierende, dramaturgische, metaphorische, atmosphärische oder metonymische Funktion haben« (S. 91).

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Kuhn gibt ein Beispiel, um die Zugehörigkeit der Mise-en-scène zur Erzählinstanz zu erläutern. Anhand desselben Beispiels kann aber diese Hypothese genauso gut widerlegt werden:

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Eine Einstellung (A) zeigt einen Gewehrschrank in einem Jagdschloss, in dem sich drei Gewehre befinden. Die durch dieselben Einstellungsparameter definierte Einstellung (B) zeigt später (entweder unmittelbar danach oder unterbrochen durch andere Sequenzen) denselben Schrank mit zwei Gewehren. Offensichtlich ist: ein Gewehr fehlt. Es handelt sich also um eine Zustandsveränderung, die durch ein Zusammenspiel aus Montage und Mise-en-scène angezeigt wird, die im werkinternen Kontext ereignishaft sein kann… (S. 90)
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Ist es beim geschilderten Fall nicht vielmehr so, dass sich ein Ereignis (im weiten Sinn) ereignet hat, ohne vom Erzähler selektiert worden zu sein? Das Geschehen in der Welt findet ohne die Präsenz des Erzählers statt und zwar unabhängig davon, ob es für die erzählte Geschichte ausgewählt wird oder nicht. Beim zitierten Beispiel handelt es sich offensichtlich um den − wie Wolf Schmid es nennt − dritten Modus der Negation eines Geschehens: »Er [der Modus] betrifft nicht-gewählte Momente, die paradoxerweise in absentia zur Geschichte gehören, insofern sie eine Lücke in ihrer Sinnlinie schließen«. 2 Folglich weist das Beispiel mit den Gewehren vor allem auf den Selektionsvorgang der Erzählinstanz hin, und nicht darauf, dass das genannte (welches?) Element der Mise-en-scène zur visuellen Erzählinstanz hinzuzuzählen wäre. Abgesehen von diesem Punkt erweist sich dieses Modell im weiteren Verlauf der Studie als ein äußerst hilfreiches Analyseinstrument.

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Fokalisierung, Okularisierung und Aurikularisierung

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Beim Phänomen der Perspektivierung beruft sich Kuhn auf Genette, kritisiert jedoch dessen fehlende Differenzierung zwischen den Aspekten ›Wissen‹ und ›Wahrnehmung‹. Kuhn begreift die »Fokalisierung [seinerseits] als Möglichkeit der Informationsselektion und -relationierung«, und er bezieht sich damit auf die »Relation des Wissens zwischen Erzählinstanz und Figur« sowie die (visuelle oder verbale) Darstellung dieser Wissensrelation im Erzählprozess (S. 122). Für die Relation der Wahrnehmung zwischen den Erzählinstanzen und den Figuren wählt er die von François Jost etablierten Begriffe Okularisierung (für die Darstellung der visuellen Wahrnehmungsrelation) und Aurikularisierung (für die Darstellung der auditiven Wahrnehmungsrelation).

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Auf der Grundlage dieses Basisgerüstes erstellt Kuhn ein feingliedriges Begriffs- und Analyseinventar, mit dessen Hilfe er mehrere Formen des Erzählens im Film ableitet. Diese Erzählformen kommen wiederum durch verschiedene Kombinationen von Wissens- und Wahrnehmungsverhältnissen zustande, so die ›interne Fokalisierung bei interner Okularisierung‹, die ›interne Fokalisierung bei Nullokularisierung‹ sowie die ›Formen der externen Fokalisierung‹. Sie leiten ihrerseits über zu zwei weiteren Problemfeldern, die in mancherlei Hinsicht zusammenhängen: die Subjektivität im Film und das Erzählen in Handkamerafilmen.

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Die Untersuchung der filmischen Generierung von Subjektivität ist ein kompliziertes Vorhaben. Der Film bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, die Innerlichkeit einer Figur − seien es Gedanken, Gefühle, Träume, Wunschvorstellungen und so weiter − darzustellen. Kuhn deutet dies im Kapitel zur Fokalisierung an, indem er den Begriff des mindscreen einführt und ausdifferenziert:

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Formen der Darstellung subjektiver Bewusstseins- und Wahrnehmungszustände, die ohne Ebenenwechsel auskommen, bezeichne ich als mentale Projektionen und unterscheide diese von Formen des Mindscreen mit Ebenenwechsel, die ich mentale Metadiegesen nenne. (S. 151)
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Allein sind dies − wie Kuhn betont − nicht die einzigen Möglichkeiten zur Darstellung von subjektiven Inhalten:

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Emotionale und geistige Befindlichkeiten von Figuren werden nicht nur durch mentale Metadiegesen, mentale Projektionen, mentale Einblendungen und mentale Metalepsen repräsentiert, obwohl sich viele subjektivierende Stilfiguren auf eines oder eine Kombination dieser Grundmuster zurückführen lassen. Auch die Mise-en-scène kann zur Subjektivierung oder Introspektion funktionalisiert werden. (S. 158)
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Auf die Subjektivität im Film kommt Kuhn ein wenig später zurück, als er sich mit Genettes Distanz-Begriff auseinandersetzt. Hier findet der Leser einen umfassenden Katalog mehrerer Formen der sprachlichen und visuellen Gedankenrepräsentation (S. 191). In Form eines tabellarischen Überblicks ermöglicht er eine direkte analytische Übertragung auf entsprechende Filme und unterstreicht die benutzerfreundliche Anwendbarkeit des Analysemodells.

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Eine Funktion von Handkamerafilmen und -effekten besteht ebenfalls in der Repräsentation von Subjektivität, sei es die einer Figur oder aber die der VEI. Mit Ich-Kamera-Filmen bezeichnet Kuhn Filme, die insgesamt oder über weite Strecken Einstellungen aufweisen, die mittels subjektiver Kamera und POV shots realisiert sind. Anhand der Auflistung verschiedener Stilmittel zur Markierung der subjektiven Kamera (als dominanteres Merkmal von Ich-Kamera-Filmen) wird abermals deutlich, wie komplex das Medium arbeitet. Kuhn liefert jedoch auch hier eine klare Übersicht (S. 179 ff.), gleichwohl die »offene Liste an Filmen, die als Ich-Kamera-Filme eingeordnet werden können« (S. 182 ff.) zwar informativ, an dieser Stelle jedoch ein wenig nutzlos erscheint. Handkamera-Effekte treten freilich nicht ausschließlich in Ich-Kamera-Filmen zutage. Kuhns Beschäftigung mit dem Mittel der Handkamera im Rahmen der dänischen ›Dogma 95‹-Gruppe führt die historische Dependenz eines solchen Mittels vor Augen (S. 170 ff.), während fiktionale Dokumentationen wie The Blair Witch Project illustrieren, inwiefern die Handkamera (neben anderen Mitteln) zur Authentifizierung eines faktualisiert-fiktionalen Films dienen kann (S. 173 ff.).

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Zeitmodulationen

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Bei der Behandlung der Zeitmodulationen im Film bezieht sich Kuhn auf die allseits bekannten Begriffe Ordnung, Dauer, Frequenz und Zeitpunkt des Erzählens und erstellt einen breit gefächerten und weit verzweigten Katalog mehrerer Formen filmischen Erzählens. Diesen Katalog unterfüttert er mit einer Vielzahl an Beispielen, wobei er wiederholt einzelne Filme herausgreift und näher erläutert. Dabei stechen stellenweise mehr oder minder ausführliche Einzelanalysen hervor, die einmal mehr, ein anderes Mal weniger notwendig erscheinen beziehungsweise in ihrer Ausführlichkeit zur Erarbeitung des erzähltheoretischen Analysemodells unterschiedlich gut beitragen. Kuhns Auseinandersetzung mit Memento wird erhellend für den Kontext des ›Rückwärtserzählens‹ herangezogen, etwa, indem überzeugend die Korrelation zwischen der diskursiven Zeitstruktur und dem thematischen Zusammenhang eines an Amnesie leidenden Protagonisten sowie dessen Einfluss auf die Konstruktion (und das Verständnis?) von Realität dargelegt wird. Dagegen wirken unnötige (Kurz-)Analysen im Teil zum Zeitpunkt des Erzählens stellenweise ermüdend, beispielsweise im Unterkapitel zur »eingeschobenen Tagebuch-Narration auf ›äußerer Ebene‹«. Allerdings machen alle Verweise auf Filme deutlich, wie nutzbringend die Unterscheidung zwischen einer visuellen und einer sprachlichen Erzählinstanz ist, vor allem in dem ansonsten eher überladen wirkenden Teil zum ›Zeitpunkt des Erzählens‹.

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Im Kapitel zur ›Zeit‹ rekapituliert Kuhn zu Anfang der einzelnen Unterbereiche stets ausführlich Genettes Begriffsdefinitionen. Abgesehen von den begrifflichen Weiterführungen und Applikationen auf den Film − der Vorschlag etwa, Zeitdiagramme zu verwenden, ist für die Praxis ein hervorragender − scheinen die Ausführungen zu Genette in der vorliegenden Länge aber obsolet, weil sie in der Regel bekannt sind.

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Umgang mit Ebenenstrukturen

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Im umfangreichsten Kapitel widmet sich Kuhn dem Umgang mit Ebenenstrukturen, das heißt dem Vorkommen und der narrativen Funktionalität mehrerer diegetischer Ebenen und Fiktionsebenen im Film. Unter ›diegetischen Ebenen‹ versteht er durch sprachliches oder visuelles Erzählen hervorgebrachte Erzählungen (innerhalb der Filmerzählung). Die primäre Fiktionsebene stellt der Film selbst dar. Innerhalb dessen können weitere Ebenen etabliert werden, beispielsweise als »von diegetischen Figuren imaginierte Welten, als auch […] durch fiktionale Produkte in der Diegese (Romane, Theaterstücke, Gesellschafts-/Computerspiele)« (S. 287) eingebrachte fiktive Welten. Unterlegt wird diese Neuerung des narratologischen Begriffsapparates mit den gängigen Terminologien der extradiegetischen und der intradiegetischen Erzählinstanzen − was zwar verständlich ist, in der Länge aber verwundert, denn man hätte diese Abschnitte bereits im Kapitel zu den Instanzen im Film erwartet.

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Und doch gibt es einige Gesichtspunkte, die das Kapitel zu den filmischen Ebenenstrukturen als das spannendste auszeichnen und zugleich abermals die Kraft des Analysemodells demonstrieren. Die reichhaltige Behandlung von ›mentalen Metadiegesen‹ (die in Form von Erinnerung, Traum, Vorstellungs-, Phantasie- und Gedankenwelten und figurenungebundenen visuelle Metadiegesen auftreten können), des ›visuellen Ebenenkurzschlusses‹ und der ›figuralen Ebenenübergänge‹ sowie von ›Film-im-Film-Strukturen‹ zeigt, wie wichtig eine Ebenenunterscheidung auch im Film ist und welche narrativen Verfahren er sich zunutze macht. Besonders tritt der visuelle Ebenenkurzschluss in Erscheinung, der ein signifikantes Filmmittel darstellt und den spezifischen Umgang des Films mit Ebenenübergängen deutlich macht.

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Dieser visuelle Ebenenkurzschluss besteht Kuhn zufolge darin,

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dass eine visuelle Erzählinstanz […], die kein Element der diegetischen Welt ist, […] Geschichten durch kinematographisches Zeigen erzählt, die durch spezifische sprachliche und nicht-sprachliche Markierungen intradiegetischen Erzählinstanzen, Figuren, Medien oder Kommunikationssystemen zugeordnet werden, von diesen aber nicht oder nur in Auszügen sprachlich erzählt oder audiovisuell kommuniziert werden. (S. 310)
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Aus dieser Definition folgen zwei Varianten des Ebenenkurzschlusses.

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In vielen Filmen wird eine Binnenstruktur angelegt, indem eine der Figuren eine Geschichte erzählt. Diese Geschichte wird im Großteil der Fälle nicht nur sprachlich, sondern audiovisuell wiedergegeben. Die Figur allein vermag es indes nicht, ›filmisch‹ zu erzählen. Die Geschichte wird mithin von einer AVEI erzählt. Diese Variante kennzeichnet im Gegensatz zur zweiten ihre markierte, also offensichtliche Ebenenstruktur (einer Rahmen- und Binnenerzählung); der Kurzschluss zwischen den beiden Ebenen erfolgt Kuhn zufolge lediglich latent. Auf der anderen Seite kann die VEI die Ebenenschachtelung unterlaufen, und sie liefert Informationen, die nicht der Erzähllogik entsprechen. In diesem Fall spricht Kuhn von einem wirksamen Ebenenkurzschluss.

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Ein Beispiel stellt der ausführlich analysierte Film La Mala Educatión dar: Dass die VEI beispielsweise einen Filmdreh (zuerst) nicht als solchen ausweist, sondern als diegetische Realität repräsentiert, kann als tragendes Verfahren des Films verstanden werden. Die vorhandenen latenten und wirksamen Ebenenkurzschlüsse spiegeln formal das Hauptthema des Erzählens wider. Sie entfalten zudem die Komplexität einer wie auch immer gearteten Vergangenheitsbewältigung auf medial-narrativer Ebene. In dieser wie auch in den anderen Kurzanalysen (The French Lieutenant’s woman, Inland Empire, The Truman Show und Keine Lieder über Liebe) kommt neben der Praktikabilität und Operationalität des Modells ebenso dessen heuristischer Wert zutage, indem Kuhn es nicht vernachlässigt, auf die Funktionen narrativer Techniken wie eben des visuellen Ebenenkurzschlusses hinzuweisen. Einerseits sind die Analysen zwar stellenweise zu ausführlich geraten, andererseits − so sei zugestanden − ›beleben‹ sie das trockene Theoriegerüst und machen deutlich, zu welchem Zweck der theoretische Aufwand betrieben wird. An einem Phänomen wie dem visuellen Ebenenkurzschluss erfährt man auch den Neuheitswert der Studie: Sie zeigt nämlich den filmspezifischen Umgang mit mehreren narrativen Ebenen in der Filmerzählung.

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Fazit

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Filmnarratologie präsentiert sich klar strukturiert und argumentativ überzeugend aufgebaut. Vor allem imponiert der Schreibgestus dadurch, dass Kuhn stets Begriffe definitorisch einführt und von der jeweiligen Definition aus fortfährt. Man hat selten den Eindruck, dass der Autor ›zu viel‹ sagt; abgesehen von manchen Kurzanalysen. Dass diese Analysen jedoch durchaus bewusst gesetzt sind, ist ebenfalls überzeugend, genauso wie die Durchführung der Analysen selbst. Zu jedem Zeitpunkt ist dem Leser klar, was Kuhns Modell will: Eine modifizierende Weiterführung von Genettes Überlegungen im Sinn einer Narratologie des Films. Ein großer Nachteil liegt jedoch darin, dass mit dem ›Raum‹ und der ›Figur‹ zwei wesentliche Bereiche der narratologischen Kategorienbildung überhaupt keinen Eingang in die Untersuchung finden. Dabei beweisen etwa die unlängst erschienenen Dissertationen von Katrin Dennerlein (Narratologie des Raumes) und Jens Eder (Die Figur im Film) aus narratologischer und aus filmwissenschaftlicher Sicht, wie wichtig diese beiden Kategorien sind. Beide plädieren für eine stärkere Einbindung dieser Kategorien in die narratologische Forschung, vor allem aber in groß angelegte Modelle wie das von Markus Kuhn. Der Forschungsüberblick in Filmnarratologie weist einige Längen und einige unklare Exkurse auf. Kleinere Kritikpunkte seien erwähnt: Die Behandlung von Stanzels Erzählsituation erscheint aus der Luft gegriffen (Kap. 3.2.4), zumal Kuhn das Begriffsfeld der Erzählsituation im weiteren Verlauf gar nicht benötigt. Auch bleibt die Frage nach dem obskuren impliziten Autor bei Kuhn unbeantwortet. Stattdessen bedient er sich ›Notlösungen‹, die allerdings ebenfalls für die weitere Untersuchung keine Rolle spielen. Weiterhin ist bei dem Kommunikationsmodell unklar, wer der Adressat der visuellen Erzählinstanz ist − ein ideeller Adressat, ein (meist) unmarkierter filminterner Adressat? Die Integration eines Kommunikationsmodells ist wohl der Entscheidung für die Annahme einer Erzählinstanz im Film geschuldet. Es bleibt letztlich offen, ob die Mängel eines solchen Kommunikationsmodells auf den idealgenetischen Charakter fiktionalen Erzählens zurückzuführen (und von daher auch in der klassischen Narratologie vorliegen) oder tatsächlich ein filmtypisches (also medienspezifisches) Phänomen sind.

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Kuhns Arbeit liefert ein umfassendes erzähltheoretisches Modell zur Analyse von Spielfilmen, das freilich nicht auf diese Form audiovisuellen Erzählens beschränken ist (S. 367). Die eingebrachten Kritikpunkte sollen deshalb nicht davon ablenken, dass mit Filmnarratologie eine Monografie erschienen ist, die lange ausstand, die aber − wie Kuhn selbst einräumt − nur ein Beitrag zu einer transmedialen Narratologie sein kann.

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Die Rezension von Jean-Pierre Palmier zu diesem Band finden Sie hier: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3455

 
 

Anmerkungen

Weitere Titel können dem Eintrag »Narration in Film« des ›Living Handbook of Narratology‹ entnommen werden, das das Interdisciplinary Center of Narratology der Universität Hamburg auf dem aktuellen Stand hält (http://hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php/Narration_in_Film. Zuletzt eingesehen am 8.7.2011).   zurück
Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 2. Aufl., Berlin/New York: De Gruyter 2008, S. 270   zurück