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Von Stimmen und Bildern

Ein erzähltheoretisches Analysemodell für bestimmte Filme

  • Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. (Narratologia 26) Berlin/New York: Walter de Gruyter 2011. XV, 410 S. Hardcover. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-025354-2.
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Körperlose Narratologie

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Gérard Genettes Abhandlungen Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983), die auf Deutsch in Die Erzählung (1994) zusammengeführt wurden, sind ein Standardwerk der Erzähltextanalyse. Im Wesentlichen unverändert werden dessen Untersuchungskategorien Zeit, Modus und Stimme etwa unter anderem von Matías Martínez und Michael Scheffel in ihre einschlägige Einführung in die Erzähltheorie (1999) übernommen. Auch Markus Kuhns Buch über die Filmnarratologie, das sich als dezidiert anwendungsorientiert versteht, profitiert von der begrifflichen und analytischen Systematik von Genettes erzähltheoretischem Modell, das Kuhn mit punktuellen Modifizierungen und Erweiterungen auf den Spielfilm überträgt.

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Kuhn greift für seine Studie insbesondere deswegen auf Genettes Terminologie zurück, weil er sie für eine anerkannte »Gebrauchssprache der Narratologie« (S. 23) hält. Die Frage nach der transmedialen Anschlussfähigkeit von Genettes Textanalysemodell stellt Kuhn hinter die »Trennschärfe und Definitionsgenauigkeit« (S. 7) eines solchen werkorientierten Ansatzes zurück. Kognitivistische Ansätze, die gewöhnlich für die Grundzeichnung transmedialer Erzählkonzepte herangezogen werden, 1 behandelt der Autor nur am Rande. Dabei muss eine narrative Filmanalyse keine körperlose Angelegenheit sein: Längst bedient sie sich kognitionspsychologischer Methoden 2 und hat die Bedeutung körperlicher-geistiger Partizipation am Filmerzählen 3 ausgemacht – wo innerhalb der Erzählforschung sollte der Körper auch eine größere Rolle spielen als in der Untersuchung jener Erzählmedien mit starker multisensueller Reizwirkung.

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Aufbau

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Kuhns Filmnarratologie ist übersichtlich strukturiert, sorgfältig untergliedert und hilfreich mit einem Filmregister versehen. Die bei Genette vorliegende Kapitelfolge ist sinnvollerweise invertiert worden: Zuerst werden »Narrative Instanzen« des Films behandelt, dann »Fokalisierung und Perspektivierung« und schließlich Aspekte der »Zeit«, so dass der allgemeinste und schwierigste Aspekt filmischer Erzählanalyse – die Frage nach der erzählerischen Vermittlung – den spezifischeren Fragen nach Perspektiven und Zeitverhältnissen vorausgeht. Anschließend folgt das umfangreichste Kapitel »Komplexe Kommunikations- und Ebenenstrukturen«, in dem die vielfältigen Verhältnisse der von Kuhn so genannten verschiedenen Erzählinstanzen des Films sowie metaleptische Phänomene filmischen Erzählens untersucht werden.

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Dem Analyseteil ist ein ausführlicher Forschungsbericht vorangestellt, der auch »Methodische Grundlagen« klärt, sowie ein Kapitel über den Wechsel »Von der sprachbasierten zur transmedialen Narratologie«, das die Voraussetzungen nicht-sprachlichen Erzählens benennt. Kuhn rezipiert die Forschung sehr breit, referiert aber insbesondere die klassischen Schriften der Filmnarratologie (Bordwell, Chatman, Branigan) nur kurz. Er liefert erst einen historischen Abriss der Narratologie, erläutert dann – auch terminologisch treffend – das ›Forschungsumfeld‹ der Filmnarratologie, um schließlich medienunabhängig die strukturellen Grundvoraussetzungen des Erzählens zu beleuchten. Nach der anthropologischen, kulturellen oder neurologischen Basis des Erzählens fragt Kuhn aufgrund seines werkimmanenten Ansatzes nicht.

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Auch wenn Kuhns Forschungsreferat sehr kenntnisreich ausfällt, setzt er sich innerhalb seiner ausführlichen Ausdifferenzierung des filmanalytischen Begriffsapparates kaum kritisch und gewinnbringend mit Forschungspositionen auseinander. Wo sich später Lücken auftun, erweist sich rückblickend seine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur als nicht gründlich genug, etwa was das Phänomen des unzuverlässigen Erzählens betrifft. Zwar werden zahlreiche jüngere filmnarratologische Studien der Vollständigkeit halber aufgeführt, inhaltlich aber nur unzureichend ausgebreitet und punktuell in vereinfachender Art kritisiert (vgl. S. 42 f.).

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Im methodisch wichtigsten Abschnitt über »Die narrative Vermittlung im Film« referiert Kuhn sämtliche Versuche, die filmische Erzählinstanz begrifflich zu fassen, und erklärt, dass die Zuschreibung einer narrativen Instanz nicht notwendig auch ihre Anthropomorphisierung nach sich ziehe. Er verweist richtig darauf, dass selbst in der Erzählliteratur die Personalisierung des Erzählers zwar oft möglich, aber nicht immer notwendig ist (vgl. S. 77). Erzählen ist also nicht an personifizierbare Erzähler gebunden – dies ist keine Prämisse, sondern die erste und zentrale Einsicht einer Erzähltheorie in transmedialer Perspektive. Kuhns eigener Lösungsvorschlag für das Begriffsproblem, eine narrative Instanz im Film vorauszusetzen, ohne sie zu anthropomorphisieren, ist, diese funktional in zwei Ausdruckskanäle auszudifferenzieren und die Kategorie der Erzählinstanz somit einfach in den Plural zu setzen.

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Erzählinstanzen

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Kuhn vermeidet es, von einem Filmerzähler oder einer narrativen Instanz des filmischen Erzählens zu sprechen. In seinem Modell der narrativen Kommunikationsebenen und Instanzen im Film verortet er auf der extradiegetischen Ebene eine visuelle Erzählinstanz und eine sprachliche Erzählinstanz, denen noch vor der extratextuellen Ebene ein impliziter Autor beziehungsweise Regisseur vorgeschaltet ist: Dieser organisiert das Zusammenspiel der Instanzen im filmischen Erzählen. Mit der Einordnung impliziter Autorschaft in das Instanzenmodell reduziert Kuhn dessen Abstraktionsgrad wieder, da er die absichtsvolle Kombination der Instanzen – gegen eigene Bedenken – nun doch anthropomorphisiert, obwohl die Annahme paralleler Ausdruckskanäle zumindest hinsichtlich der Personenungebundenheit das sprachunabhängige Erzählen nicht nur des Films angemessen beschreibt.

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Kuhn begreift mit und gegen Wolf Schmid, der den impliziten (bei ihm: abstrakten) Autor als pragmatische, multifunktionale Kategorie entwirft, diesen nicht als »Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks« (analog: des Zuschauers) oder als »Spur des konkreten Autors im Werk« 4 , sondern als rein werkimmanentes Strukturphänomen. So gerät Kuhn nicht in das Fahrwasser kognitionspsychologisch argumentierender Filmtheorien. Dann hätte sich aber eine Auseinandersetzung mit Hickethiers Rede vom unpersönlichen »Erzählzusammenhang« 5 im audiovisuellen Erzählen angeboten. Auch Hickethier verweist zwar auf die Synthetisierungsleistung des Zuschauers, aber der abstrakte Begriff des Erzählzusammenhangs beschreibt die filmische Erzählstruktur treffender als die Metapher vom impliziten Autor, der schon durch seine Verortung im Instanzenmodell als extra-extradiegetische, aber intratextuelle Instanz erstens auf die Rekonstruktion der intentionalen Aussagestruktur des Films und damit zweitens auf die Kognitionsleistung des Zuschauers verweist.

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Um die erzählerische Vermittlung im Film zu analysieren, ist die Bezeichnung der vermittelnden Instanz jedoch zweitrangig. Entscheidend ist zunächst die Einsicht, dass der Spielfilm überhaupt erzählend vermittelt, also ein Erzählmedium darstellt. Von Prince und Schmid übernimmt Kuhn einen engen und einen weiten Narrationsbegriff, so dass er den Film vom Drama abgrenzen kann, das für ihn nur narrativ im weiteren Sinne ist, da in diesem zwar Zustandsveränderungen dargestellt werden, aber in der Regel ohne vermittelnde Instanz (vgl. S. 55 f.). Kuhns Auffassung von erzählerischer Vermittlung unterscheidet sich von Genettes oder Stanzels darin, dass er »auch eine nicht-sprachliche narrative Vermittlung für möglich« (S. 55) hält.

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Was sich mit Hickethier als Erzählzusammenhang im Film bezeichnen ließe, besteht für Kuhn also in einem organisierten Nebeneinander von visueller und sprachlicher Erzählinstanz. Das Konzept der doppelten Sendungsstruktur übernimmt Kuhn von Chatman, der den filmischen Erzähler in einen ›teller‹ und ›shower‹ auftrennt, also einen sprachlichen Erzähler und eine Art visuellen Vorführer. Tatsächlich schreibt Kuhn auch in seinem eigenen Schaubild zum Zusammenspiel der Vermittlungsinstanzen der visuellen Erzählinstanz die Aufgabe des Zeigens, der sprachlichen die des Erzählens zu (vgl. S. 86), so als erhalte der Film seine narrative Qualität erst durch sprachliche Elemente. Dieser Meinung ist Kuhn jedoch gar nicht, denn er beschreibt Sprachelemente im Film zutreffend als fakultativ (vgl. S. 73) und weist nach, dass im Film auch »ohne Sprache erzählt werden« (S. 95) kann.

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Dass Film visuell erzählt, steht für Kuhn außer Frage. Der visuellen Erzählinstanz kommt hierbei »nicht nur das Aufzeichnen einer Einstellung« zu, »also die Auswahl, Perspektivierung und Akzentuierung durch die Kamera, sondern auch die filmische Montage« (S. 87). Film erzählt für Kuhn andererseits nicht erst aufgrund der Montage, denn es gibt erzählende Filme ohne Schnitte, sondern etwa »auch durch die Auswahl bestimmter Gegenstände vor der Kamera, die Komposition, die Ausleuchtung und die Raumgestaltung« (S. 90). Kuhn hätte hier deutlicher herausstellen können, was er impliziert: dass die narrativen Merkmale, die der visuellen Gestaltung anhaften, die binäre Opposition von Zeigen und Erzählen im filmischen Darstellungsprozess unterlaufen, weil sich etwa schon in der Gestaltung einzelner Einstellungen die filmische Vermittlungsinstanz zu erkennen gibt.

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Musik und Ton erzählen nicht

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Es finden sich in den Erläuterungen zu Kuhns Instanzenmodell zwei Sätze, die in irritierender Weise die grundsätzliche methodische Schwäche der Arbeit offenbaren:

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Der entscheidende Unterschied zu Chatman, Schlickers und anderen ist […], dass ich in meinem Referenzmodell […] die Kategorie einer »filmischen Erzählinstanz« (Chatmans »cinematic narrator«) ausdifferenziere in eine »audiovisuelle narrative Instanz«, die ich visuelle Erzählinstanz nenne, und eine oder mehrere fakultative sprachliche Erzählinstanz(en). […] Man könnte die visuelle Erzählinstanz (Abkürzung: VEI) auch als audiovisuelle Erzählinstanz (AVEI) bezeichnen, was ich wegen des Fokus auf die visuellen Aspekte des außersprachlichen Erzählens im Film und der Einfachheit der Formulierung halber nicht machen werde […]. (S. 84 ff.)
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Der Verzicht auf eine systematische Aufteilung und Gewichtung der nichtsprachlichen filmischen Ausdruckskanäle lässt sich nicht pragmatisch begründen, da die narratologische Systematik hier einer vorwiegend am Visuellen ausgerichteten Analytik geopfert wird, die zwar fundierte Teiluntersuchungen filmischer Darstellungsverfahren ermöglicht, aber deren synthetischen narrativen Gesamtausdruck nicht in den Blick bekommt. So viel Systematik muss – nicht trotz, sondern wegen – der Anwendungsorientiertheit des Buches aber sein. Selbst wenn es sich nicht als umfassend filmnarratologisch, sondern bloß als Beitrag zu einer Filmnarratologie verstünde, müsste es die Grundzüge einer solchen offen und systematisch skizzieren, anstatt sich auf eine analytische Pragmatik zurückzuziehen, die Ausdrucksmerkmale des Films selektiert. So scheint es, als seien Filme für Kuhn nicht audiovisuelle, sondern visuell-sprachliche Erzählmedien. Solche ›media blindness‹ hält Kuhn selber anderen Studien und allgemein der textbasierten Narratologie vor (vgl. S. 27). Selbstverständlich erschöpfen sich auditive narrative Informationen im Spielfilm nicht in Sprache, denn das Sounddesign besteht in der Gestaltung von Ton, Sprache und Musik. Wenn etwa in Darren Aronofskys Pi schrille Töne die Kopfschmerzen der Hauptfigur illustrieren, wenn in Lars von Triers Dogville oder Manderlay Geräusche die rudimentäre Kulisse ausstaffieren und fehlende Requisiten illustrieren oder wenn allgemein Off-Geräusche Nicht-Sichtbares darstellen, tragen Töne narrative Informationen bei. Auch die Untersuchung der Fokalisierung von Tönen und Musik ist für eine Filmnarratologie nicht bloß interessant, sondern ein Muss: Geräusche können in verschiedener und komplexer Weise intern oder extern fokalisiert sein; musikalische Untermalung kann den Gemütszustand einer Figur ausdrücken, in auktorialer Weise den Fortgang der Handlung kommentieren etc. Vieles wäre hier zu analysieren gewesen und zahlreiche verschiedene Verhältnisse zwischen Ausdruckskanälen hätten systematisch erfasst werden können.

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Kuhns Instanzenmodell stellt somit eine grobe Vereinfachung der Funktionsweise des filmischen Erzählens dar. Sein heuristischer Wert ist beschränkt, weil die Medienspezifik filmischen Erzählens verkannt wird. Mehr noch: Durch die Reduktion der narrativen Qualität der auditiven Ausdrucksebene auf sprachliche Elemente wird suggeriert, der Film verdanke seinen Status als Erzählmedium wesentlich der Sprache, das heißt insbesondere den erzählenden Figuren. Die narrative Qualität des Films resultiert aber aus der doppelten Orientiertheit 6 seiner Darstellung – einem nach Dietrich Weber fundamentalen Aspekt des Erzählens, der ihm seinen nachzeitigen Charakter verleiht und allen filmischen Ausdruckskanälen eigen ist: der Montage von Bildern; der Bildkomposition und ›mise en scène‹, die scheinbar ein wahrnehmendes, neutrales Bewusstsein ins Bild setzen, tatsächlich aber immer schon selektieren, inszenieren und kommentieren; der Montage von Bild, Ton und Musik, die ebenso Nachzeitigkeit erzeugt wie die Bildmontage.

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Diese Faktoren lassen sich weiter ausdifferenzieren in die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten der visuellen und auditiven Ebene, etwa Licht, Farben, Schauspielführung, Kameraperspektive, Einstellungsgröße, Brennweite, Kadrierung, Achsenverhältnis, Schärfenverhältnis, Kamerabewegung, Schnittart, Schnittgeschwindigkeit, Geräusche, Stimmen, Musik etc. In ihrer Organisation zeigen sich nun gerade die genannten Eigenschaften des Erzählens. Diese Elemente bilden einen audiovisuellen Erzählzusammenhang heraus, an dem mehrere Autoren – federführend aber der Regisseur ­– ihren Anteil haben.

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Die Hervorhebung der sprachlichen Erzählinstanz transportiert einen literaturspezifischen Aspekt des Erzählens – sprachliches Erzählen – in die Filmanalyse, ohne ihn mit Blick auf die Eigenheiten filmischen Erzählens zu transformieren. Auch wenn sich Narrativität für Kuhn nicht notwendig sprachlich konstituiert, wird durch die strukturelle und inhaltliche Überbetonung der sprachlichen Erzählinstanz im Film ständig die Nähe seines Modells zu Genettes textorientiertem Analysemodell ausgestellt, während es ihm nicht gelingt, die filmspezifischen narrativen Ausdrucksmöglichkeiten wie Bildgestaltung, Montage von Bild und Ton, Musikeinsatz etc. als solche hervorzuheben und in sein Instanzenmodell zu integrieren. Das Kapitel über »Narrative Instanzen« fällt in Kuhns Buch am kürzesten aus, obschon hierüber filmnarratologisch am meisten zu sagen wäre.

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Stimme

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Für Kuhn ist die »Kategorie der sprachlichen Erzählinstanz […] vergleichbar mit Genettes Kategorie der Stimme« (S. 95). Sie wird im Film nicht nur auditiv realisiert – durch »Voice-over oder Voice-off« oder »im Dialog erzählende Figuren« –, sondern auch durch »zwischengeschnittene Zwischentitel/Schrifttafeln« oder »über das Filmbild geblendete Textinserts und -einblendungen« (ebd.). Der Vergleich ist irreführend, weil Kuhn ja selber meint, dass »sprachliches Erzählen […] im Film fakultativ« sei, »während visuelles […] Erzählen den narrativen Film notwendig erst als solchen hervorbringt« (ebd.). Demgegenüber ist die Erzählinstanz literarischer Texte, die eine Erzählung hervorbringt, immer sprachlich konstituiert. Das Äquivalent zu Genettes Kategorie der Stimme wird in Kuhns Instanzenmodell demzufolge nicht etwa durch Figurenstimmen, sondern summarisch durch das Nebeneinander von visueller und sprachlicher Erzählinstanz gebildet.

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Hierbei handelt es sich ansatzweise um eine solche Bedeutungsverschiebung, wie eine transmedial ausgerichtete Erzähltheorie sie hervorbringen muss: Die literaturspezifische und sprachbezogene Analysekategorie der ›Stimme‹ ist im filmischen Erzählen jene Instanz, die audiovisuell erzählt, also die verschiedenen Ausdruckskanäle absichtsvoll organisiert. Für Kuhn ist das Pendant zur Stimme jedoch die einzelne Instanz eines Ausdruckskanals; er begreift filmisches Erzählen als ›mehrstimmig‹. Die sinnvolle Integration der verschiedenen Ausdruckskanäle in einen unpersönlichen Erzählzusammenhang, die die filmische Aussage hervorbringt, ist bei Kuhn nicht nur subjekt-, sondern auch instanzenlos. Ein solches Modell ist ohne rezeptionsästhetische Einlassungen eigentlich nicht möglich: Es hat in der Konzeption des synthetisierten und sinnvollen Gesamtausdrucks filmischen Erzählens einen blinden Fleck.

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Das Instanzenmodell bringt einige Positionen hervor, die sicherlich keinen Anwendungswert besitzen: etwa der »extradiegetische narrative Adressat« – der »›Kommunikationspartner‹ der extradiegetischen Erzählinstanzen« (S. 110) –, dem Kuhn entsprechend auch bloß eine halbe Seite widmet. Außerdem scheint Kuhns Modell auf der Empfängerseite weniger Positionen zu benötigen als auf der Senderseite:

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Es ist schwierig, jenseits des extradiegetischen Adressaten einen Ort für die Rolle oder Funktion des impliziten Zuschauers zu finden, der den Gegenpart zum impliziten Autor bildet. Hier befindet man sich mitten in dem Systemzwang des Kommunikationsmodells, dass jede Sender- eine Empfängerinstanz als Gegenüber benötigt […]. (S. 111)
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Selbstverständlich fällt deswegen das Kommunikationsmodell nicht in sich zusammen – es wird lediglich um Positionen erweitert, die nicht praktikabel sind.

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In einem kurzen Abschnitt erläutert Kuhn »Das Verhältnis von visueller und sprachlicher Erzählinstanz«, das heißt die verschiedenen Erzählsituationen, und macht vier Varianten des Zusammenspiels aus: disparat, komplementär, polarisierend und überlappend. So gelangt Kuhn zu der heuristisch wertvollen Zuschreibung von heterogenen (erster Fall) und homogenen Erzählsituationen (letzte drei Fälle). Durch die Trennung der Erzählinstanzen kann er auch gut zeigen, dass eine Ich-Erzählsituation nie allein durch die Bilder, sondern bloß durch die Ergänzung durch eine homodiegetische sprachliche Erzählinstanz etabliert werden kann (vgl. S. 102). Allerdings handelt es sich wegen der in funktionaler Hinsicht willkürlichen Kombination von Bildern und Erzählerstimmen – die Instanzen können sich ergänzend, verzahnt, überlappend, verschieden oder widersprüchlich erzählen (vgl. ebd) – nur um eine fingierte Sprechsituation. Kuhn macht dies nicht explizit, mahnt aber doch vor einer unbedachten Verwendung des Konzeptes der Erzählsituation. Indes ist die Übersicht der Erzählsituationen unvollständig, da sie die Ausdrucksebenen des Tons und der Musik nicht berücksichtigt, mit denen sich weitaus komplexere – und filmspezifischere – Instanzenverhältnisse aufzeigen ließen.

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Modus

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Wegen der fehlenden Sprechsituation im audiovisuellen Erzählen lässt sich dem filmischen Erzählzusammenhang nur schwer eine bestimmte Perspektivierung zuschreiben. Außerdem sind zahlreiche Einstellungen, Szenen oder Sequenzen oftmals nicht eindeutig oder nicht vollständig der Perspektive einer Figur zuzuordnen. Als Drittes erschweren die verschiedenen Ausdruckskanäle die Perspektivenanalyse filmischen Erzählens. Wie lässt sich angesichts dieser Schwierigkeiten nun ein Strukturmodell zur Analyse von Perspektivierungsmöglichkeiten im Film erstellen?

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Kuhn greift Josts sinnvolle Differenzierung von Fokalisierung und Okularisierung beziehungsweise Aurikularisierung auf, um zwischen dem, was über das Wissen und den emotionalen Zustand einer Figur (der emotionale Aspekt wird von Kuhn vernachlässigt), und dem, was über die Wahrnehmung einer Figur vermittelt wird, zu unterscheiden. Hinsichtlich der Fokalisierung übernimmt Kuhn die dreifache Unterteilung von Genette, die er analog auf die Wahrnehmungskategorien der Okularisierung und Aurikularisierung überträgt: Eine Nullokularisierung oder eine Nullaurikularisierung liegen etwa vor, wenn das von der visuellen beziehungsweise sprachlichen Erzählinstanz Präsentierte nicht an die Wahrnehmung einer Figur gebunden ist – und dies ist ganz technisch zu verstehen: ein ›over-the-shoulder-shot‹ beispielsweise entspricht nicht dem Blickwinkel einer Figur und ist damit nullokularisiert.

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Manches im filmischen Ausdruck scheint sich Kuhns systematischer Erfassung zu entziehen: Um das charakteristisch Subjektive des ›over-the-shoulder-shots‹ strukturell zu erfassen, spricht Kuhn bei dieser Einstellung etwa von einer internen Fokalisierung bei Nullokularisierung (vgl. S. 145). Mit der Zuschreibung der internen Fokalisierung trägt er der Tatsache Rechnung, dass eine solche Einstellung die blickende Figur und ihr ungefähres Blickfeld zeigt, wodurch ihre Subjektivität ohne kontextuelle Hilfe markiert wird. Der Einstellung ist ihre subjektive Perspektive eingeschrieben, während der ›point-of-view-shot‹ hierfür eine Kontextualisierung durch die Montage verlangt, weil er die blickende Person ausspart. Eine solche Einstellung nennt Kuhn intern okularisiert, während ihr der perspektivische Status der internen Fokalisierung bloß über einen kontextualisierenden Gegenschuss zugewiesen werden könne.

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In der Charakterisierung dieser häufig verwendeten Kameraeinstellungen vermischt Kuhn die kognitiv-emotionalen mit den perzeptuellen Bestandteilen der Perspektivierungsvarianten: Das eindeutig als solches markierte Sichtfeld einer Figur kann nicht die Fokalisierung anzeigen, weil diese emotional-kognitiv geprägt ist, während jenes nur etwas über die Wahrnehmung der Figur aussagt und nicht darüber, was in ihr vorgeht. Vielmehr ließe sich auch im Falle des Blickes über die Schulter mit einigem Recht von einer internen Okularisierung sprechen. Diese aber identifiziert Kuhn allein mit dem ›point-of-view-shot‹, obwohl eine strukturelle Unterscheidung der optischen Informativität beider Einstellungen keinen analytischen Anwendungswert besitzt – und ihre technisch-visuelle Spezifikation ist mit der englischen Bezeichnung ja bereits eindeutig erfasst.

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Gravierender ist die Frage, wie Film und Perspektivierung sich generell zueinander verhalten. Selbstverständlich kann ein Film, der von einer homodiegetischen Stimme aus dem Off begleitet wird, vollständig intern fokalisiert sein. Aber gerade weil die Erzählerstimme ein genuin literarisches Element ist, das die Fokalisierung eindeutig markiert, erscheint es umso klarer, dass in technischer Hinsicht im Film grundsätzlich perspektivenunspezifisch erzählt wird. Dies lässt sich leicht an M. Night Shyamalans in literatur- und filmwissenschaftlichen Beiträgen viel diskutiertem The Sixth Sense veranschaulichen: Der Film überrascht am Ende mit der Information, dass die Hauptfigur bereits am Filmbeginn gestorben ist. Der Zuschauer erfährt dies mit der Hauptfigur (da es keine merklichen Hinweise auf ihren Tod gibt), der Film ist also intern fokalisiert. Das Kameraverhalten lässt aber keine Rückschlüsse auf eine solche interne Fokalisierung zu. Visuell ist der Film konventionell erzählt, so dass der Zuschauer gar keinen Grund hat, anzunehmen, die Erzählhaltung sei nicht auktorial. Dass intern fokalisiert wird, ergibt sich erst aus der inhaltlichen Kontextualisierung am Filmende.

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Kuhn kommt nicht systematisch darauf zu sprechen, dass auktoriales und subjektives Filmerzählen sich technisch nicht unterscheiden. Er impliziert dies höchstens damit, dass er die Frage nach der Fokalisierung und Okularisierung von Einstellungen häufig an die Kontextualisierung durch die Montage knüpft.

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Gründlich ist Kuhns Analyse von filmischen Methoden der Introspektion. Zwar ließe sich auch fragen, welchen Nutzen die Aufteilung in »Mentale Metadiegese«, »Mentale Projektion«, »Mentale Einblendung« und »Mentale Metalepse« (S. 191) für die Filminterpretation hat. Gleichwohl entspricht die Unterteilung eben den zahlreichen visuellen filmtechnischen Möglichkeiten der Gedankenwiedergabe. Auch hier suggeriert die Begriffsvielfalt allerdings eine Einheitlichkeit der Darstellung, die der komplexen filmischen Perspektivenstruktur faktisch selten entspricht. Unkommentiert bleibt außerdem das eigenartige tendenzielle Missverhältnis zwischen struktureller Komplexität und eindrücklicher Klarheit der perspektivischen Gestaltung im Film: Die Verständlichkeit von Traum- oder Fantasiesequenzen bemisst sich eben nicht daran, ob etwa der Träumende im Bild zu sehen ist (etwa im Fall der mentalen Projektion) oder nicht (wie in der mentalen Einblendung), sondern sie ist eher eine Frage der kontextuellen Einbettung. Für eine feine technische Analyse der visuellen Mittel filmischer Gedankenwiedergabe sind die Begriffe gleichwohl wertvoll.

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Zeit

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Die Untersuchung der filmischen Zeit orientiert sich eng an Genette und ist hier wie dort wesentlich unproblematisch, weil sie grundsätzliche Fragen des Erzählens berührt und ein nahezu erschöpfendes Analyseinstrumentarium hervorbringt: Die Genette’schen Kategorien der Ordnung, Dauer und Frequenz werden ohne Modifizierungen übernommen und an zahlreichen Filmbeispielen anschaulich erläutert. Ergänzt wird das Kapitel um einen ausführlichen Abschnitt zum »Zeitpunkt des Erzählens« im Film, das vor allem die variablen Erzählzeitpunkte der beiden verschiedenen Erzählinstanzen problematisiert. Weil die übergeordnete Erzählinstanz in Kuhns Modell zugunsten des impliziten Autors aufgelöst ist, wird allerdings nicht nach dem Zeitpunkt der absichtsvollen Kombination der Erzählinstanzen gefragt, so dass »mehrere plausible Narrationszeitpunkte angegeben werden können, die im Widerspruch zueinander stehen und nicht aufzulösen sind« (S. 266).

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Dass Genettes Analyse der Zeitverhältnisse einer Texterzählung gut auf den Film übertragen werden kann, liegt in der doppelten Orientiertheit des Erzählens begründet, die das Erzählen und das Erzählte in eine variable zeitliche Beziehung setzt. Die Kategorie der Zeit ist transmedial besonders anschlussfähig, weil sie weder sprach- noch figurenbasiert ist. Das Zeitkapitel ist daher das überzeugendste in Kuhns Arbeit. Gleichwohl hätte über den stringenten strukturellen Ansatz hinaus systematisch die Wirkung des Erzählens auf das Zeitempfinden des Zuschauers hinterfragt werden können: So bleiben effektvolle Verfahren der Dehnung oder Raffung im Film unerwähnt. Kuhn weist richtig darauf hin, dass diese Verfahren nicht technisch mit dem Einsatz der Zeitlupe und des Zeitraffers identifiziert werden können. Sie erschöpfen sich allerdings auch nicht in Ellipsen und iterativen Strukturen, die der Autor als Mittel zeitraffenden Erzählens beschreibt.

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Zeitdehnendes Erzählen gibt es für Kuhn, wenn überhaupt, nur im Experimentalfilm. Aber sind nicht auch jene endlos scheinenden Kamerafahrten in Gus van Sants Elephant oder die quälend langen Einstellungen in zahlreichen Filmen von Michael Haneke strukturell erfassbar? Auch hier wird die Erzählzeit ausgedehnt, obschon es sich technisch um szenisches oder zeitdeckendes Erzählen handelt. Erzählen und Erzähltes stehen in einem funktionalen Missverhältnis, das seine Bedeutung in dem Seheindruck der Langsamkeit entfaltet. Auch hohe Erzählgeschwindigkeiten, die mit anderen Mitteln als dem Zeitraffer erzielt werden, ließen sich systematisch erfassen. Etwa der temporeiche Beginn von Magnolia, der sich in einer schnellen Montage und einem hochinformativen Voice-over ausdrückt, die stakkatohaften Montagesequenzen in Reqiuem for a Dream oder die generelle erzählerische Hektik, die die actionlastigen Bourne-Filme verbreiten. Selbst mit strukturalistischen Beschreibungsmodellen ließe sich die subtile Wirkung solcher raffender Erzählverfahren beleuchten – diese zeigen gerade, welche in der Erzähltextanalyse herausgearbeiteten Kategorien hierfür einer transmedialen Erweiterung, Spezifizierung oder Überarbeitung bedürfen.

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Komplexes Filmerzählen

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Im letzten Kapitel untersucht Kuhn die vielfältigen Verhältnisse zwischen extra- und intradiegetischen sowie sprachlichen und visuellen Erzählinstanzen, Ebenenübergänge und -schachtelungen, metafiktionale Aspekte und Metalepsen. Charakteristisch für seine Vorgehensweise ist, dass er zahlreiche Filmbeispiele zur Illustration möglicher Instanzenverhältnisse heranzieht, aber nicht allgemein nach zentralen und typischen filmischen Ausdrucksmöglichkeiten fragt. Die strukturelle Parallelisierung von visueller und sprachlicher Erzählinstanz liefert die Einsicht,

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dass VEI und SEI zwar teilweise hochgradig vernetzt und komplementär sein und eine einzige homogene Erzählsituation und Ebenenstruktur bilden können, teilweise aber auch voneinander divergieren und unterschiedliche, parallel ›nebeneinanderher‹ laufende Erzählsysteme ausbilden, die in Spannung zueinander stehen können bis hin zum offensiven Widerspruch. Ein Film kann von einer extradiegetischen VEI dominiert werden, obwohl über sprachliche Erzählinstanzen eine klare Ebenenschachtelung installiert wird; ein technisch gesehen extradiegetisches Voice-over kann als intra- oder metadiegetische SEI fungieren; eine Metadiegese kann zur Pseudo-Metadiegese werden; ein filmischer innerer Monolog kann extra-metadiegetisch sein. (S. 283 f.)
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Auch hier bleibt die explizite Zusammenführung der Ergebnisse der Strukturanalyse zu Grundthesen über das Erzählen im Film dem Leser überlassen. Wenn im Rahmen des filmnarratologischen Entwurfs angenommen wird, dass verschiedene Ausdruckskanäle in willkürlicher Weise, das heißt ohne Präferenzen die Ebenen im filmischen Kommunikationsmodell besetzen, wird die Analyse der erzählerischen Mittel allgemein erschwert, weil sie zunehmend vom Verstehen der Filmhandlung abhängt. Für komplexe textbasierte narratologische Kommunikationsmodelle mag dies ebenso gelten, doch werden anwendungsorientierte Analysemodelle schließlich an ihrem praktischen Nutzen gemessen.

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Kuhns systematische Strukturanalyse der Erzählinstanzen scheint für viele einfache Einsichten der Filmanalyse zu kompliziert zu sein. Es stimmt, dass eine Erzählerstimme den Inhalt der Bilder konterkarieren kann, wie in Barry Lyndon, oder die Bilder eine Erzählerstimme als unzuverlässig entlarven können, wie in Forrest Gump. Aber die Hierarchie von Bild und Ton ist nicht beliebig. Wird die auditive Ebene um Geräusche und Musik erweitert, so ergeben sich klare inhaltliche und technische Tendenzen hierarchischer Einordnung: Schwerlich wird etwa der Inhalt der Bilder über die Aussage extradiegetischer Musik triumphieren; eher rückt Musik die Bilder in anderes Licht. In technischer Hinsicht scheint der Ton eine höhere Verbindlichkeit zu beanspruchen: Amateurhafte Bilder gelten als absichtsvolles und starkes Ausdrucksmittel, unprofessioneller Ton stört hingegen nachhaltig die Illusionsbildung, und die Bilder wirken vor allem natürlich durch ihre Geräuschkulisse. Solche grundsätzliche Einsichten vermittelt Kuhns Buch aber nicht.

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Medienbewusste Filmnarratologie

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Kuhns Filmnarratologie ist eine systematische und in dieser Hinsicht gelungene Übertragung des erzähltheoretischen Analysemodells von Gerard Génette auf den Film. Sie ist eine Filmnarratologie aus literarischer Perspektive, die den Film leider nicht als audiovisuell erzählendes Medium begreift und die narrative Funktion von Geräuschen und Musik unberücksichtigt lässt. Einerseits enttäuscht ihre eingeschränkte Praktikabilität, denn häufige und vor allem filmspezifische erzähltheoretische Probleme wie zum Beispiel der plötzliche diegetische Statuswechsel von Filmmusik, der paradoxerweise nicht illusionsstörend wirkt, werden gar nicht angesprochen. Andererseits wird auch der systematische Anspruch des Buches nur in Teilen eingelöst, weil es nicht ausreichend von medientheoretischem Bewusstsein durchdrungen ist.

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Kuhns systematische Strukturanalyse fällt stellenweise zu akribisch aus, wie in der Untersuchung der Kombination von Instanzen und Perspektiven, geht manchmal jedoch auch nicht weit genug: Beispielsweise haben Martínez und Scheffel mit den Phänomenen des ›mimetisch unentscheidbaren Erzählens‹ und den Kriterien der Stabilität und Möglichkeit von erzählten Welten hilfreiche erzähltheoretische Instrumente bereitgestellt, mit denen sich etwa die komplexe Erzählstruktur und Metafiktionalität von Lynchs Filmen erfassen lässt, auf die Kuhn mehrfach – aber eben nicht in erhellender Weise – zu sprechen kommt. Außerdem wird nicht begründet, wieso der »Dokumentarfilm im Film« (S. 342) oder »Intradiegetische Überwachungskamerasysteme« (S. 328–332) untersucht werden, die nicht spezifisch erzähltheoretisch sind, während dem Phänomen erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film kein eigenes Kapitel, sondern nur verstreute Betrachtungen (S. 93 f., 97 f., 157 f., 167, 286) zugestanden werden.

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Hilfreich ist Kuhns Buch, wenn unabhängig von der Komplexität des Sounddesigns sprachliche und visuelle Ausdruckselemente des Films begrifflich erfasst werden sollen. Hier ist Kuhns Terminologie sehr genau und meist auch inhaltlich treffend. Der größte Vorzug der Arbeit liegt trotz ihrer medientheoretischen Schwächen in der Anwendbarkeit innerhalb der medienkomparatistischen Analyse von Literatur und Film, insbesondere von Literaturverfilmungen. Zwar gibt es zur Problematik der Literaturverfilmung kein Kapitel, aber die Übertragung des Genette’schen Modells stellt ja gerade dadurch die Vergleichbarkeit literarischer und filmischer Erzählverfahren sicher, dass sie Sprachelemente im filmischen Erzählen strukturell aufwertet und die rein filmischen Ausdrucksmöglichkeiten nicht so wichtig nimmt. Die Analyse muss dann eben im Bewusstsein für die Medienspezifik des Erzählens erfolgen und im Einzelfall methodisch korrigiert oder erweitert werden.

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Abschließend zur Form: Der Lesbarkeit des Buches etwas abträglich sind die zahlreichen Kursivsetzungen. Fremdsprachige Begriffe werden ebenso kursiviert wie Betonungen oder dem Vernehmen des Autors nach zentrale Begriffe. Dafür springen diese beim Nachblättern schneller ins Auge, was angesichts des fehlenden Registers erzähltheoretischer Begriffe auch hilfreich ist. Wie alle Exemplare der Narratologia-Reihe ist das Buch übrigens sehr schön gestaltet und sehr teuer.

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Die Rezension von Stephan Brössel zu diesem Band finden Sie hier: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3454

 
 

Anmerkungen

Zum Beispiel Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie« In: Vera Nünning / Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: WVT 2002, S. 23–104 oder Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.   zurück
Vgl. die Standardwerke von David Bordwell: Narration in the Fiction Film. Madison/WI: University of Wisconsin Press 1985, Edward Branigan: NarrativeComprehension and Film. London u.a.: Routledge 1992 und Seymour Chatman: Coming to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film. Ithaca/NY u.a.: Cornell University Press 1990.   zurück
Filmwissenschaftlich hierzu etwa Ed S. Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film. Film as an Emotion Machine. Üb. v. Barbara Fasting. Mahwah/NJ: Erlbaum 1996, Greg M. Smith: Film Structure and the Emotion System. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2003 und Carl Plantinga: Moving Viewers. American Film and the Spectator’s Experience. Berkeley/CA u.a.: University of California Press 2009. Einen originellen phänomenologischen Zugang bietet Christiane Voss: »Narrativität, Emotion und kinematografische Illusion aus philosophischer Sicht« In: Anne Bartsch / Jens Eder / Kathrin Fahlenbrach (Hg.): Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Köln: Halem 2007, S. 312–329.   zurück
Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2. verb. Aufl. Berlin, New York/NY: De Gruyter 2008, S. 60 f.   zurück
Knut Hickethier: »Erzählen mit Bildern. Für eine Narratologie der Audiovision«. In: Corinna Müller / Irina Scheidgen (Hg.): Mediale Ordnungen. Erzählen, Archivieren, Beschreiben. Marburg: Schüren 2007, S. 91–106, hier S. 96.    zurück
Vgl. Dietrich Weber: Erzählliteratur. Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 43–48. Nach Weber gilt Erzählen Nicht-Aktuellem: Erzählen ist nicht bloß Darstellung von Vergangenem, sondern etwa auch Darstellung von als vergangen Vorgestelltem oder von als künftig möglich Vorgestelltem (vgl. ebd., S. 32). Von der Nachzeitigkeit des Erzählens möchte ich jedoch insofern immer sprechen, als selbst die Beschreibung des Zukünftigen dieses in ein Zugriffsverhältnis zur Erzählung setzt.    zurück