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Was Ackermann und Dutschke gemeinsam haben

  • Thomas Steinfeld: Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann. München: Carl Hanser 2010. 272 S. Hardcover. EUR (D) 17,90.
    ISBN: 978-3-446-23416-1.
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Die Puristen in der Sprachlandschaft: geistlos

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Was hat man sich unter einem Sprachverführer vorzustellen? Sollen Leser zum Gebrauch der deutschen Sprache verführt werden? Zu einem ganz bestimmten Gebrauch vielleicht? Oder nur mit den Mitteln der Sprache zu etwas völlig anderem?

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Der Germanist Thomas Steinfeld, Zeitungslesern bekannt durch seine Tätigkeit als Feuilletonleiter der Süddeutschen Zeitung, möchte sich mit diesem Titel von den zahllosen Sprachführern absetzen, die Vokabeln, Grammatik oder Redemittel trocken referieren, und er hat tatsächlich eine geheime Zutat entdeckt, die seinen Sprachverführer so wohltuend von jenen abhebt: Enthusiasmus.

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Der Autor, das wird von den ersten Seiten an deutlich, beschäftigt sich nicht nur beruflich mit der deutschen Sprache, sondern pflegt ein leidenschaftliches Verhältnis zu ihr. Und wenn er uns auf über fünf Seiten einen einzigen Satz von Kafka erklärt, dann liest sich das nicht wie ein dröges Grammatik-Propädeutikum, sondern wie eine glühende Liebeserklärung.

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Im Gegensatz zu anderen selbsternannten Sprachliebhabern nimmt er dabei weder die Stellung des Oberlehrers noch die des Puristen ein. Im Gegenteil, Letztere – die in unseren Zeiten hauptsächlich mit ihrem Kampf gegen Anglizismen von sich reden machen – bedenkt er mit dem Goethe-Zitat:

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Allein das muß ich Ihnen gegenwärtig anvertrauen, daß ich im Leben und im Umgang [...] mehr als einmal die Erfahrung gemacht habe, daß es eigentlich geistlose Menschen sind, welche auf die Sprachreinigung mit zu großem Eifer dringen [...]. (S. 205)
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Und er verweist darauf, dass es ähnliche Tendenzen schon einmal gab: im Kampf gegen die »Entwelschung«, dessen Krieger mit dem Schlachtruf »Welschen ist fälschen« (S. 201) gegen Fremd- und Lehnwörter aus dem Französischen zu Felde zogen.

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Keine Angst vor SMS

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Dass Steinfeld den oft beschworenen Niedergang der deutschen Sprache abstreitet und in fröhlichem Optimismus von ihren Möglichkeiten schwärmt, anstatt mahnend den Zeigefinger zu ihrem korrekten Gebrauch zu erheben, bedeutet jedoch nicht, dass er blind wäre gegenüber Missbrauch und Schlamperei. Genauso eifrig, wie er die deutsche Sprache als bedeutende Kultursprache bewirbt, wettert er auch gegen ihre Verdreher und Verfälscher. Doch geht es ihm nicht darum, ob nun nach weil ein Nebensatz folgen muss oder zumindest mündlich auch ein Hauptsatz folgen darf; nicht um die Anzahl von Anglizismen und Neologismen oder um neue Sprachkonventionen in E-Mails, Blogs und SMS, die schon bei so vielen Sprachforschern und Publizisten pessimistisches Kopfschütteln ausgelöst haben. Stattdessen nimmt er sich hohle Phrasen und eher verschleierndes als aufklärendes Bürokratendeutsch vor, zerpflückt ausgewählte Beispiele Wort für Wort und zeigt sachlich auf, wie weit die Kunst der Desinformation bereits gediehen ist.

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Dabei unterscheidet er nicht, ob solcherlei Sprachungetüme von Josef Ackermann oder Rudi Dutschke stammen: Sprache, die eher ver- als enthüllt, ist »eine Sprache, die nur scheinbar lebt und eigentlich schon immer tot war« (S. 16).

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Auch Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ist nicht vor höchst kompetent ausgeführten Seitenhieben gefeit, wenn sie in den Chor der Sprachpessimisten einstimmt: »Mit den Mitteln der Sprache versucht der Sprachzweifler seine Zuhörer oder Leser davon zu überzeugen, dass mit den Mitteln der Sprache nichts zu erreichen sei« (S. 111 f.), bemerkt er pointiert und entlarvt übertrieben zur Schau gestellte Sprachskepsis als Koketterie.

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Doch bei allem Enthusiasmus sieht er – jenseits des interessegeleiteten Missbrauchs – auch die Grenzen und Begrenzungen der deutschen Sprache und gibt bereitwillig zu, wenn er das Englische oder Französische für schlichtweg eleganter oder vielseitiger hält, etwa im freieren Umgang mit Partizipien (S. 102). Um so verlässlicher wirkt sein Wort, wenn er es dann wieder zugunsten seiner Muttersprache in die Waagschale wirft und zum Beispiel von der freien Wortstellung im Satz als deutscher Besonderheit schwärmt, mit der »nicht nur Betonung oder Melodie, sondern auch Spannung und Beruhigung innerhalb eines Satzes zu gestalten« seien (S. 171).

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Von Luther zu Lessing: Wie die deutsche Sprache erfunden wurde

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Neben seinem Plädoyer für weniger Verbissenheit und Pessimismus im Umgang mit der Sprache breitet Steinfeld auf den 272 Seiten eine etwas andere Sprachgeschichte vor seinen Lesern aus, in der nicht von zweiter Lautverschiebung und der Maken-Machen-Linie die Rede ist, sondern von der Schlüsselrolle der Protestanten und der Bibelübersetzung Martin Luthers bei der Alphabetisierung der Bevölkerung – und von der abenteuerlichen Zeit im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, als die deutsche Sprache von Literaten wie Gotthold Ephraim Lessing in einem Ausmaß neu erfunden wurde, das man sich heute kaum mehr vorzustellen vermag: »Hirngespinst« und »weinerlich« werden als Beispiele aus Lessings Feder genannt, »Zartgefühl«, »Öffentlichkeit« und »Sternwarte« stammen von Johann Heinrich Campe, die »Leidenschaft« von Christian Wolff (S. 57) – Wörter, mit denen wir heute so selbstverständlich umgehen, als hätten sie sich durch alltäglichen Gebrauch schon vor Urzeiten von selbst entwickelt.

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Auch heute noch sieht Steinfeld die Sprache als Literatur an, er möchte nicht nur über sie informieren, sondern dies auch – auf dass die Form den Inhalt bestätige – in schönem, klarem, poetischem Deutsch. So zieht er aus Handkes partizipienreicher Beschreibung eines Waldes den Schluss: »Der Wald ist ein Medium der Ungleichzeitigkeit, der Unübersichtlichkeit, der Unzeitigkeit – und des Partizips« (S. 100). Denn weder im unübersichtlichen Wald noch im tempuslosen Partizip gebe es eine zentrale Perspektive. Das ist nicht gerade eine wissenschaftliche Formulierung, aber gerade solche Sätze sind es, durch die das Buch sprachinteressierten Laien wie auch Linguistikstudenten – und sicher auch gelegentlich dem gestandenen Profi – neue Blickwinkel auf die deutsche Sprache eröffnet. So wird der Konjunktiv zur »kleine[n] Entrückung aus der Tageshast« (S. 123), und im »Substantiv liegt etwas Verführerisches« (S. 132), eben etwas Sprachverführerisches.

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Einschränkendes

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Bei einem solchen Rundumschlag – vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, von der Geschichte der deutschen Sprache zu ihrer Gegenwart und Zukunft, von ihren Möglichkeiten bis zu ihren Grenzen, von ihren Koryphäen zu ihren Beschädigern – kann es durchaus vorkommen, dass sich im fertigen Druckwerk noch einige Seltsamkeiten finden. So bilden die Suffixe -lich und -mäßig nicht, wie behauptet, Adverbien (S. 86), sondern immer noch Adjektive (die sich dann wiederum natürlich adverbial einsetzen lassen). Adverbien wiederum sind gar nicht immer – nicht einmal besonders häufig – Wörter, »die etwas über die Art und Weise einer Handlung sagen« (S. 86), sondern können ebenso gut Informationen etwa über die Zeit (gestern, heute, morgen) oder den Ort (hier, dort, überall) einer Handlung oder eines Objekts mitteilen.

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Über Lessing lesen wir zunächst: »[Er] lehnt das Wort ›Rücksicht‹ ab, weil es ihm zu künstlich ist« (S. 146) und etwas später: »Gotthold Ephraim Lessing will die ›Rücksicht‹ anstelle des ›Respekts‹ und wird deswegen verlacht« (S. 200). Beim Film gäbe es einen Continuity Manager, der solche Schnittfehler vermiede.

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An manchen Stellen argumentiert Steinfeld etwas undurchsichtig. So sieht er die Wortschöpfung Zugewinn als »Steigerung« des Gewinns, die man nur deshalb eingeführt habe, weil das alte Wort so »verschlissen« wirke (S. 88) – ein Neologismus ohne semantischen, nun, Gewinn. Dabei ist der Zugewinn recht exakt definiert als jener Gewinn, der zu einem bereits erwirtschafteten Gewinn hinzukommt, aber von diesem juristisch zu trennen ist, etwa in der berühmtesten Zugewinngemeinschaft, der Ehe. In ähnlicher Weise trägt auch das Wort durchverkaufen eine eigene, vom allgemeinen Verkauf abweichende (oder diesen zumindest auf eine Teilmenge präzisierende) Bedeutung. Und der von ihm als sinnlos verworfene Klimakiller (»Es ist immer Klima«, S. 139) killt ja nur ein ganz bestimmtes Klima, nämlich das dem Menschen zuträgliche, und nicht das Klima an sich.

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Auch den Umgang der Deutschen mit ihrem Konjunktiv unterschätzt Steinfeld. Er begründet seine Ablehnung der »komplizierten« Konjunktivform mit würde anhand von Beispielen (S. 125 f.), welche – das sei als These in den Raum gestellt – die meisten Menschen so nie aussprächen (oder aussprechen würden): Denn bei haben und sein hat sich, wie bei den Modalverben, trotz oder gerade wegen der allgemeinen Simplifizierungstendenz immer noch die genuine Konjunktivform erhalten, weil würde einfach zu kompliziert wäre. Das gefürchtete »würde er das getan haben« kommt also in der Praxis selten vor. Und selbst bei einigen weiteren Verben gibt es diese Formen noch. Steinfeld müsste also nicht ganz so wehmütig klingen, wenn er den Satzanfang »Wenn ich wüsste« mit »wenn ich wissen würde« vergleicht – wäre ersterer wirklich ausgestorben, dann gäbe es ja gar nicht mehr den Stoßseufzer »Wenn ich das wüsste!«

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An einer Stelle untergräbt er seine eigene Argumentation, wenn er bei einer Übertragung vom Deutschen ins Englische einen in Kommas eingefassten nachträglichen Einschub in der Übersetzung mitten im Satz positioniert, um mit dem Ergebnis zu beweisen, dass im Englischen weniger Kommas verwendet werden (S. 234) – was zweifellos stimmt, aber durch solche Umstrukturierungen natürlich ohnehin forciert wird. Denn hätte man das Wort im deutschen Satz weiter nach vorn gesetzt, so hätte man dadurch ebenfalls das Komma eingespart.

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Und wenn er moniert, dass deutsche Grammatiken den Konjunktiv im Wortsinne als etwas »Verbindendes« (S. 123) erklären wollen, dann muss er sich wohl auf eine sehr alte Grammatik beziehen. Kars und Häussermann sprechen in ihrer Grundgrammatik Deutsch beispielsweise treffend vom »Hinweis auf die Nähe zur Wirklichkeit« 1 .

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Fazit

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Thomas Steinfeld hat es geschafft, ein optimistisches, wohltuend entspanntes und mitreißendes Buch über die deutsche Sprache zu schreiben. Zugegeben, einige (wenige) Fehler und missverständliche Formulierungen wären vermeidbar gewesen, was gerade in einem Werk, das sich die deutsche Sprache zum Thema erkoren hat, vielleicht etwas störend wirkt; aber die grundlegende Haltung zu dieser Sprache, das fundiert begründete Vertrauen in sie, die Abwesenheit jeglicher Untergangsszenarien und nostalgischer Vergangenheitsbeschwörungen (eine Mode, die im Übrigen schon mit Schlegel und den Grimms begann, S. 239) führen zu einem ebenso angenehmen wie informativen Leseerlebnis – und zwar für Laien wie für Profis, für Mutter- wie für fortgeschrittene Fremdsprachler. Der Verzicht auf Fußnoten (Zitate werden am Ende des Buches mit Seitenangabe und dem Anfang des zitierten Textes belegt) trägt dieser breiten Zielgruppe Rechnung und verbessert den Lesefluss vor allem für jene Käufergruppen, deren sonstige alltägliche Lektüre nicht aus wissenschaftlichen Texten besteht.

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Sogar in der spezifisch deutschen Struktur der Satzklammer, Keimblatt der gefürchteten oder belächelten Schachtelsätze, erkennt Steinfeld ein positives Moment (S. 207): den Spannungsbogen, der die Aufmerksamkeit des Rezipienten fesselt bis zum letzten Wort, mit dem er endlich erfährt, wovon die ganze Zeit die Rede war.

 
 

Anmerkungen

Jürgen Kars / Ulrich Häussermann: Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt/M. / Aarau: Diesterweg / Sauerländer 1997, S. 50.   zurück