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War Brecht ein Philosoph?

Von Ja- und Neinsagern

  • Mathias Mayer (Hg.): Der Philosoph Bertolt Brecht. (Der neue Brecht 8) Würzburg: Königshausen & Neumann 2010.
    ISBN: 978-3-8260-4552-3.
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Nicht immer ist es sinnvoll, philosophische Theorie und literarische Darstellung voneinander zu trennen – Texte von Autoren wie Montaigne, Voltaire oder auch Walter Benjamin führen vor Augen, wie beide Bereiche eine fruchtbare Symbiose eingehen können. Mit dem aus der gleichnamigen Augsburger Ringvorlesung hervorgegangenen Sammelband Der Philosoph Bertolt Brecht soll nun auch Brecht in die Riege der Philosophenschriftsteller aufgenommen werden: Über die Frage nach der philosophischen Rezeption hinausgehend müsse, so die Prämisse des Herausgebers Mathias Mayer, Brechts philosophisches Denken in seiner Eigenständigkeit herausgestellt und gewürdigt werden. Die philosophische Dimension des brechtschen Werks sei mit der »bald satirische[n], bald ironische[n] Spiegelung philosophischer Sachverhalte« oder der »Freude am Parodistischen« (S. 11) noch nicht hinreichend beschrieben. Eine eingehendere Betrachtung verdienten ergänzend die »philosophisch relevanten Werke« Brechts, in denen entweder philosophisches Material »verwertet« werde oder »philosophische[] Strukturen, Fragen oder Experimente[]«(S. 9) begegnen.

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Dass bei der Suche nach der eigenständigen Denkweise auf eine eher »harmlose philologische Grundlagenarbeit« (S. 7) keineswegs verzichtet werden kann, beweisen die nachfolgenden Beiträge: In ihnen wird zum einen die philosophische Quellenvielfalt deutlich, zum anderen aber auch, dass die hieraus entnommenen Gedanken »literarisch modelliert« (S. 7), das heißt meist: im Sinne der »Ästhetik der Materialverwertung« (S. 185) verarbeitet werden. In Ermangelung einer haltbaren Definition dessen, was allgemein unter Philosophie zu verstehen ist, kann die Bestimmung Brechts als Philosoph nur approximativ erfolgen: »Nicht als Verkünder ewiger Wahrheiten, sondern in der Einsicht in ihre Veränderbarkeit wird Brecht zum Philosophen« (S. 7), lautet Mayers vorsichtiger Versuch, die folgenden Beiträge auf einen Nenner zu bringen. Von besonderer Bedeutung seien die »dialektischen Momente, mit denen Brecht seine gesamten Texte, Themen und Thesen unterwandert« (S. 7).

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Brechts Philosophie

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Die Einzelstudien, die Mayers zuweilen etwas plakatives Bild vom »lebendigen Philosophen Brecht« (S. 23) ausdifferenzieren, bereichern die Brechtforschung durch ihre interdisziplinären Ansätze. Zu nennen sind zunächst die Analysen der Altphilologen Oliver Primavesi und Markus Janka, die den Status Brechts als Philosoph relativieren: Primavesi erkennt in Der Schuh des Empedokles sowohl Spuren von Quellenstudien als auch von zeitgenössischen philosophischen Deutungen, weist das Gedicht selbst jedoch als verdichtetes Demonstrandum eigener, materialistischer Positionen aus. Im Anschluss hieran betont auch Janka in seinem Beitrag über den Einfluss des lukrezschen Epikurismus, dass

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Brechts Rückgriffe auf die philosophische Literatur der Antike keinem primär philosophischen Erkenntnisinteresse entsprangen, sondern stets in das eigene, als zeitgebundenes Engagement verstandene literarische Schaffen verwoben sind. (S. 40)
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Hinter der »kreativ modellierenden Lukrezfortschreibung« (S. 44) stehe das Motiv der »Entmonumentalisierung der Antike« (S. 42). Auch der Politikwissenschaftler Marcus Llanque gelangt zu dem Schluss, dass Brecht in Stücken wie Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui zwar »eine brillante Studie zur politischen Macht in der modernen Gesellschaft« (S. 227) vorgelegt habe. Eine systematische Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie oder dem Marxismus sei jedoch nicht nachweisbar. In seiner Analyse zu Benjamin und Adorno stellt dann auch Erdmut Wizisla heraus, dass die einseitig, »unter Aufbietung von einem gerüttelten Maß an Ignoranz« (S. 215) rezipierten Theorien Benjamins meist als Anregungen für eigene Gedanken dienen – wesentlich bleibe »der Zugriff eines Künstlers«, »sich das herauszunehmen, was er gerade brauchte« (S. 224). Dem von Brecht und Benjamin gemeinsam geprägten Begriff des ›eingreifenden Denkens‹, der das Denken um des Denkens willen für unzulässig erklärt, misst Wizisla zwar bei, von »eminenter philosophischer Tragweite« (S. 211) zu sein. Um die Ablehnung Brechts gegenüber der Kritischen Theorie zu erklären, seien jedoch weniger philosophische oder ideologische Differenzen, sondern verstärkt »soziologische, politische, verhaltensstrategische« sowie »persönliche« (S. 223) Faktoren heranzuziehen. Zweifelhaft bleibt, ob Brechts Rezeption der Kritischen Theorie tatsächlich »Unrecht« (S. 224) tut. Eine nähere Beleuchtung der unterschiedlichen Sicht des Theorie-Praxis-Verhältnisses würde diese Problematik vermutlich auflösen.

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Im Gegensatz zu diesen Positionen, die Brechts philosophische Eigenständigkeit eher relativieren, versucht Bernadette Malinowski Brechts Drama Leben des Galilei in den wissenschaftshistorischen und philosophischen Prozessen der frühen Neuzeit zu verankern. Die Interpretin erkennt in Galilei insofern eine »zutiefst ambivalente Schwellen-Gestalt, die unaufhörlich zwischen mittelalterlich-scholastischer Philosophie und neuzeitlicher Wissenschaft hin- und hergerissen [ist]« (S. 112), als dieser die »epistemologische Umorientierung der curiositas vom Laster zur Wissenschaftstugend« (S. 109) letztlich in allen drei Fassungen in Frage stelle. Im Rahmen des epischen Theaters figuriere und bewirke Galilei – gerade in seiner »Ambivalenz von Sehen und Blindheit« (S. 132) – die objektivierende Haltung des »erkennende[n] Staunen[s]« (S. 124). Problematisch an Malinowskis Ansatz erscheint vor allem die zum Teil ungenaue Differenzierung zwischen den zwei grundverschiedenen Fassungen von 1938 und 1945 bzw. 1955/56. Dass sich das Philosophische in der Fähigkeit konstituiere, »eine Situation neu zu sehen« (S. 290), wird indessen auch in Helmut Koopmanns Beitrag über die Figur des Herrn Keuner hervorgehoben. In diesem Sinne versteht auch Frank D. Wagner Stücke wie Herr Puntila und sein Knecht Matti als konkretisierende Fortführung des hegelschen Herr-Knecht-Antagonismus, den Brecht als noch nicht überwunden vorführe, dabei aber »die Formen der Verschleierung [...] dem Gelächter« (S. 155) preisgebe und eine prozessuale »Korrektur von Geschichtserzählungen« (S. 140) und das »Flüssigwerden alles Bestehenden« (S. 141) anvisiere.

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Einflüsse

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Einen dritten Ansatz verfolgen jene Beiträge, die Etikettierungen vermeiden und sich auf eine literaturwissenschaftliche Beschreibungen von Einflüssen und Tendenzen beschränken. So plädiert Jürgen Hillesheim für einen kontinuierlichen Einfluss Nietzsches, 1 der – »von Anfang an präsent« (S. 177) – nicht auf eine Art Wegbereiter für den Marxismus zu reduzieren sei. Vielmehr werde noch der dialektische Materialismus durch die frühe Ästhetik bereichert: Nietzsches Philosophie liefere dabei Material, das im Zuge der brechtschen »Verwertungsästhetik« (S. 185) »gebrochen, modifiziert, in wesentlichen Aspekten seiner »›Lehre‹ gar auf den Kopf gestellt« (S. 185) werde. So werde beispielsweise Nietzsches Konzept der »ewigen Wiederkehr« (S. 197) materialistisch umgedeutet und in Form der Himmel-Metapher in das eigene Werk übernommen. Dem paradigmatischen antagonistischen Verhältnis verschiedener Einflüsse widmet sich auch Heinrich Detering in seinem Beitrag zu Brechts »lebenslanger Auseinandersetzung« (S. 67) mit dem Taoismus. 2 Im 1938 entstandenen Gedicht Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration zeigt Detering eine »Semantisierung des Metrums« (S. 83) auf. Wenngleich Brecht den taoistischen »Wechsel von Härte und Weichheit, Aufenthalt und ungehindertem Strömen« (S. 83) semantisch und thematisch tilgt, so bestehe dieser, wenn auch verdeckt, im Metrum fort. Die Lehre vom Nicht-Handeln unterlaufe Brechts marxistische Position und sorge, wie auch im Falle Nietzsches, für eine Kontinuität der frühen Werkästhetik.

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Fazit

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Insgesamt bietet der Band einen aufschlussreichen Überblick über Brechts breites philosophisches Spektrum, das von der antiken Vorsokratik und dem chinesischen Taoismus über die Neuzeit bis hin zu Philosophen des 19. Jahrhunderts reicht; einige Positionen hätten dabei allerdings noch etwas weiter entwickelt werden können. Unberücksichtigt bleibt auch Brechts langjährige Beschäftigung mit dem Logischen Empirismus, ohne die weder seine Wendung zum Marxismus noch seine Entwicklung in der Exilzeit angemessen erklärt werden kann. 3 Dass es sich bei Brechts Positionen um Positionen zweiter Stufe handelt, die zum Teil antagonistisch nebeneinander stehen – eben weil sie sich aus der Rezeption einer Bandbreite philosophischer Theorien zusammensetzen –, verdeutlichen die Beiträge in ihrer Zusammenschau. Integrieren lassen sich diese vermeintlichen Widersprüche durch Mayers Hinweis auf das ›dialektische Potenzial‹ dieser »Lust am Paradoxen« (S. 15), das vor allem in einer Apologie des »Misstrauens gegenüber der Gewissheit und Unveränderbarkeit« und der »Genauigkeit des Sehens« (S. 15) mündet. Philosophie wird hier vor allem als pädagogisch-politisches Handeln verstanden. Gleichwohl wäre zu diskutieren, inwiefern diese Ansicht ihrerseits auf für gewiss und unveränderbar gehaltenen Überzeugungen basiert.

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Mit dem Hinweis auf Brechts programmatische Ambiguität verteidigt Mayer seine These mit genau dem Argument, das sich auch für den Literaten Brecht ins Feld führen lässt, um ihn von dem Vorwurf zu entlasten, sich ideologisch instrumentalisieren zu lassen. Ein systematischer Ansatz kann hieraus jedoch nicht abgeleitet werden – die Stelle einer kohärenten philosophischen Theorie wurde vom »raffinierten Meister der Verstellung« (S. 7) unbesetzt gelassen. Ob hinter der Idee des Bandes die »klassisch deutsche Ambition« steht, »große Literatur zugleich als große Philosophie anzusehen« 4 , sei dahingestellt. Die Beiträge des Bandes lassen durchaus einen philosophischen Werkzusammenhang erkennen, dessen Gedanken im Einzelnen jedoch nicht nur literarisch verpackt, sondern in literarischen Weltentwürfen verankert sind. Zu klären bleibt vor diesem Hintergrund, inwiefern das im Falle Brechts unscharf bleibende Label Philosoph jenseits der heuristischen Funktion einen Mehrwert darstellt. Um mit Brecht zu sprechen: »Wer a sagt, der muss nicht b sagen.« 5 Das heißt in diesem Fall nicht, dass a falsch war.

 
 

Anmerkungen

Dies geschieht in Auseinandersetzung mit der Dissertation von Christof Ŝubik: Einverständnis, Verfremdung und Produktivität. Versuche über die Philosophie Bertolt Brechts. Wien 1982.

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Es handelt sich hierbei um eine gekürzte Fassung seiner Monographie Brecht und Laotse, Göttingen 2008.

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Vgl. Lutz Danneberg / Hans-Harald Müller: Wissenschaftliche Philosophie und literarischer Realismus. Der Einfluß des Logischen Empirismus auf Brechts Realismuskonzeption in der Kontroverse mit Georg Lukács. In: Realismuskonzeptionen der Exilliteratur zwischen 1935 und 1940/41. Tagung der Hamburger Arbeitsstelle für Exilliteratur 1986. Maintal 1987, S. 50–64.

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Daniel Fulda / Stefan Matuschek: Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Simone Winko / Fotis Jannidis / Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Berlin, New York 2009, S. 188–219, hier S. 192.

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Bertolt Brecht: Der Jasager. Der Neinsager. In: Werke, Bd. 3: Stücke, Berlin u.a. 1988, S. 71.

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