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Der literarische Text als ästhetisches Medium

  • Frauke Berndt: Poema / Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 43) Berlin; Boston, Mass.: Walter de Gruyter 2011. 302 S. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-025391-7.

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Philosophische Ästhetik und literarischer Text

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Das 18. Jahrhundert gilt allgemein als das philosophische Jahrhundert. In ihm sind die theoretischen Grundlagen auf jeden Fall für die nächsten zwei Jahrhunderte bis zu unserer Gegenwart gelegt worden. Das trifft insbesondere auf die Ästhetik zu, die mit Baumgarten in der Mitte des 18. Jahrhundert sowohl ihren Namen wie ihre epistemologische Würdigung erhalten hat.

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In ihrer überaus gewissenhaft angefertigten und anspruchsvoll ausgeführten Studie unternimmt Frauke Berndt den Versuch, die Grundlagen der Ästhetik für den die wissenschaftliche Literaturtheorie entscheidend prägenden Zeitraum von 1730 bis 1770 im Hinblick auf das spezifische Erkenntnisinteresse der Literaturwissenschaft zu rekonstruieren. Der Titel Poema / Gedicht lässt hierbei erst in Verbindung mit dem Untertitel (»Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750«) die weitreichende Bedeutung des Themas erkennen, denn es geht Berndt nicht um eine (Gattungs-)Theorie der Lyrik, sondern sehr viel grundsätzlicher um den modernen Literaturbegriff in seiner bis heute aktuellen Fassung als sinnliches Erkenntnismedium. Poema / Gedicht wirft dementsprechend am Beispiel der Literaturtheorie um 1750 einen historischen Blick in die Gründungsgeschichte der kognitivistischen Ästhetik, die uns seit Goodman und Danto inzwischen so geläufig geworden ist:

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»Gemeint ist eine etwa von 1730 bis 1770, und das heißt nur für vergleichsweise kurze Zeit akute Position in der Wissensordnung, die ich mit Baumgarten und Klopstock einfach tentativ ›Poema / Gedicht‹ nennen möchte. An dieser Position wird das Denken, Können, Handeln, Sollen und Wollen der Literatur buchstäblich vom vernünftigen Kopf auf die sinnlichen Füße gestellt, was nichts Geringeres bedeutet, als dass genau an dieser Stelle der moderne Literaturbegriff geprägt wird.« (S. 2)
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Gewissermaßen als Rahmung umfasst die sehr klar gegliederte Studie eine programmatische Skizze »Die epistemische Konfiguration ›Poema / Gedicht‹«zu Beginn und einen programmatischen Ausblick »Das epistemische Erbe« zum Schluss, die mit jeweils ungefähr zehn Seiten ebenso knapp wie präzise gehalten sind. Die inhaltliche Arbeit wird in den beiden Hauptkapiteln geleistet und gilt Baumgartens ästhetischer Theorie und Klopstocks poetischer Praxis. Beide Kapitel sind in jeweils drei Abschnitte untergliedert. Bei Baumgarten sind die Abschnitte der Struktur, der Wahrscheinlichkeit und der Ethik des Gedichts zugeordnet. Unter ›Struktur‹ werden dann die ersten drei von den oben genannten Hinsichten behandelt, nämlich Psychologie, Rhetorik und Semiotik; die weiteren zwei Hinsichten, Metaphysik und Ethik, haben zwei eigene Abschnitte erhalten. Bei Klopstock behandelt der erste Abschnitt die Medialität als ergänzenden theoretischen Teil, die beiden weiteren Abschnitte sind der exemplarischen Analyse der Ode Das Rosenband sowie des Versepos’ Der Messias gewidmet.

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Die Epistemologie des literarischen Textes

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Baumgarten und Klopstock stoßen aus unterschiedlichen Gründen und mit verschiedenem Erkenntnisinteresse auf »die Sinnlichkeit der Literatur«. Diese ist für Berndt der Ausgangspunkt, auf dessen Grundlage sie den virtuellen Dialog und den kritischen Vergleich von Baumgarten und Klopstock vornimmt.

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»Dabei sind sich Alexander Gottlieb Baumgarten und Friedrich Gottlieb Klopstock weder je begegnet, noch hat der eine zum Werk des anderen Stellung bezogen, obwohl als Kuppler ohne Frage Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier sowie als Ort der Verkuppelung das kulturelle Zentrum Halle in Frage kämen – jedenfalls dann, wenn man das, was sich zwischen beiden ereignet, als Beziehungsgeschichte erzählen wollte.« (S. 1)
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Das will Berndt jedoch nicht. Vielmehr orientiert sie sich an dem zur Diskussion stehenden Problem, das gewissermaßen die Beziehung stiftet. Die Wahl Baumgartens versteht sich von selbst. Trotz einiger wirkungsgeschichtlicher Besonderheiten gilt Baumgartens ästhetische Theorie ohne Zweifel als Gründungsdokument der modernen Ästhetik. Auch der lateinisch schreibende Baumgarten meint mit »poema« nicht nur die Lyrik im engen Sinn, sondern die Literatur insgesamt, obwohl er im Gedicht im engeren Sinn die literarischen Verfahren in verdichteter Form an dessen unbegrifflichen (symbolischen) Stellen findet. Das Besondere in der Mitte des 18. Jahrhunderts besteht darin, dass mit Baumgartens Bemühungen um eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis sehr grundsätzlich die Wissensordnung der damaligen Zeit neu kartographiert wurde und die Metaphysik mit einer bis dahin in epistemologischer Hinsicht nicht relevanten Form zu rechnen beginnt. Seit Baumgartens Versuch einer epistemologischen Vermessung des Gedichts gilt die Literatur als Erkenntnismedium. In seiner groß angelegten (nicht abgeschlossenen) Ästhetik werden hierzu fünf wichtige Disziplinen aufgeboten: Psychologie, Semiotik, Rhetorik, Metaphysik und Ethik. Das späte 18. und das 19. Jahrhundert realisieren dieses Programm dann in Form der verschiedenen Symboltheorien, aus denen im 20. Jahrhundert die Gestalt der kognitivistischen Ästhetik hervorgehen wird:

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»Ich gehe indes davon aus, dass Baumgarten das Gedicht nicht entweder in diesem oder jenem Aspekt, entweder in seiner Materialität oder in seinem ›höheren‹: schönen, wahren oder guten Sinn interessiert. Zur Diskussion steht das Super-Medium als komplexer Schaltplan stets in allen seinen fünf Aspekten – und zwar genau in diesen fünf Aspekten.« (S. 6)
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Die zweite Wahl ist auf Klopstock gefallen, weil dessen literaturtheoretische Fragmente »dieselben Nuklei von Problemen« abbilden, die Baumgarten behandelt (S. 11). Gegenüber Baumgarten zeichnet Berndt die literaturtheoretischen Versuche Klopstocks als medientheoretische Vertiefung oder Ergänzung Baumgartens aus, insofern das Lautliche und das Schriftliche eine epistemologisch eigenständige Würdigung erhalten. Vor allem aber hat sich Klopstock um die Praxis der sinnlichen Erkenntnis gesorgt. Mit der anakreptischen Ode und dem religiösen Versepos hat Berndt exemplarisch zwei Werke für die Analyse gewählt, mit denen Klopstock über viele Jahre seine eigene praktische Form der literarischen Ästhetik gepflegt und perfektioniert hat. Praktisch gewendet dienen sie nicht der Erkenntnis im Allgemeinen, sondern der besonderen (metaphysischen) Erkenntnis:

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»Während das Gedicht für Baumgarten die Protoform der sinnlichen Erkenntnis darstellt, bestimmt es Klopstock zum exklusiven Medium von immanenter, und das heißt nach der anthropologischen Wende auf die sinnliche Vermittlung angewiesener Transzendenzerfahrung. Diese theoretische Zuspitzung der unbegrifflichen Stellen literarischer Texte auf das Problem der Erfahrung eines ›höheren Sinns‹ begründet die zwei exemplarischen Lektüren in diesem Buch: Klopstocks Hauptwerk »Der Messias« ist der Gründungstext bürgerlich-pietistischer Gotteserfahrung, seine berühmteste Ode »Cidli 1752« (besser unter einem ihrer späteren Titel als »Das Rosenband« bekannt) der Gründungstext bürgerlich-empfindsamer Liebeserfahrung.« (S. 7)
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Es geht Berndt also insgesamt um eine Früh- oder Urgeschichte der modernen Literaturtheorie. Diese wird von Baumgarten in einer Metaphysik der Sinnlichkeit bzw. des Unbegrifflichen entfaltet und mit ähnlich allgemeinen Ansprüchen versehen, wie sie die Logik für die diskursive Erkenntnis beansprucht hat. Nach Berndt rückt mit der Analyse des literarischen Textes die Funktion der »sinnlichen Zeichen und Bilder bei der menschlichen Selbst- und Welterschließung« ins Blickfeld und wird innerhalb der bestehenden Wissensordnung neu ›konfiguriert‹, und das heißt hier: epistemisch begründet. Dass es sich hierbei um ein folgenreiches Experiment handelt, ist das argumentative Zentrum der Arbeit.

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Baumgartens ästhetische Medientheorie

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Unter der Vielzahl der Details will ich im Folgenden nur einige wenige hervorheben, um das Verfahren der Rekonstruktion bei Berndt zu veranschaulichen. Im Abschnitt »Die Struktur des Gedichts« erläutert Berndt zunächst die Grundbegriffe von Baumgartens Ästhetik. Gegenüber traditionellen Darstellungen betont Berndt hierbei die Modernität des Ansatzes von Baumgarten, die sich aus der besonderen Stellung der sprachlichen Verfahren und aus der Orientierung an der Rhetorik ergibt. Insbesondere die Orientierung an der Rhetorik hebt Berndt wiederholt hervor, um das traditionelle Baumgarten-Bild zu revidieren. Baumgarten sei nicht nur der Philosoph, der Logik und Sinnlichkeit verbinden wolle, sondern mehr noch der Philosoph, der in seinen eigenen Denk- und Sprachoperationen die literarischen Erkenntnisverfahren ganz unmetaphysisch illustriere und die Ästhetik damit nicht von der Rhetorik trenne:

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»Vom Denken reden, Texte analysieren, Wahrheit wollen – in dieser dreifachen Bewegung entsteht die Sache oder besser: der Gegenstand von Baumgartens ästhetischer Theorie. Seine Konturen sind das Ergebnis einer Arbeit an den eigenen Paragraphen, in denen Baumgarten tentative Begriffe ebenso beharrlich wie umständlich von einer Disziplin in die andere verschiebt. Dabei funktioniert die Rede über das Gedicht mit Hilfe einer Übersetzungsmaschine.« (S. 19)
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Baumgarten wird also bei Berndt in der Auseinandersetzung mit zahlreichen Sekundärautoren als Rhetoriker rehabilitiert oder überhaupt erst also solcher vorgestellt. Und in gewisser Hinsicht liest Berndt Baumgarten auch gegen Baumgarten, indem sie die Bedenken Baumgartens gegen die eigene Arbeit als ideengeschichtliche Brüche interpretiert, die er noch nicht überwinden konnte, deren Überwindung er mit seiner Arbeit am Begriff der Darstellung aber in Aussicht stellte bzw. auf den Weg brachte. Hierin sieht Berndt die Modernität Baumgartens, dessen Ästhetik auch in ihren semiotischen Bestimmungen die medialen Bedingungen der literarischen Erkenntnisprozesse mitberücksichtigt, indem sie diese sowohl mit den Begriffen der rhetorischen elocutio-Lehre als auch der Medientheorie erläutert.

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Neben der Struktur des Gedichts werden in zwei weiteren Abschnitten die Wahrscheinlichkeit und die Ethik des Gedichts verhandelt. Beide – und hier liegt die Pointe des Ansatzes – in unmittelbarer Abhängigkeit vom Funktions- und Leistungsprofil des literarischen Textes. Unter dem Titel »Wahrscheinlichkeit« verbirgt sich eine metaphysisch spannende Erörterung des Verhältnisses von Schönheit und Wahrheit bzw. des Problems der ästhetischen Vollkommenheit, die dem Gedicht als Darstellung des Absoluten nach Baumgarten nur annähernd zukommen kann. Die wahrheitsfunktionale Metapher der »Dämmerung« birgt für Berndt dabei die Modernität des Entwurfs: »Während Baumgarten in den wichtigsten Weichenstellungen seiner ästhetischen Theorie gegen die Ambiguität der Ästhetik ankämpft, restituiert er das Prinzip der Ambiguität im Zentrum der Metaphysik des Schönen.« (S. 94). Ebenso zentral ist die Ethik des Gedichts, die schon bei Baumgarten Anthropologisches mit Pädagogischem verbindet. Er stellt eine Theorie des schönen Geistes vor, die in der Parrhesie weniger das Genie als den Willen zur Wahrheit feiert:

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»Damit legt Baumgarten die Grundlagen für alle modernen Autorschaftskonzepte, ohne aber seinen Dichter (poeta) zu historisieren oder zu individualisieren, wie es in den auf ihn folgenden Geniekonzepten üblich ist. Denn dieser auctor leistet nur das, was das Gedicht zu leisten im Stande ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger.« (S. 126f.)
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Klopstocks poetische Medien

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Baumgartens Theorie des Ästhetischen stellt Berndt Klopstocks Praxis des Poetischen an die Seite. Wie in der Einleitung erläutert, verschränkt Berndt hierbei Theorie und Praxis, indem sie den Theoretiker als Praktiker den Praktiker als Theoretiker liest. Der Theoretiker wird in der Arbeit am (neuen) Begriff der sinnlichen Erkenntnis zum Praktiker und die poetische Praxis hat nach einer Maxime von Klopstock immer schon Theorie.

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Die der Praxis immanente Theorie des Dichters hat freilich eine ganz andere Gestalt als die explizit formulierte Theorie des Philosophen. Gewissermaßen als Bindeglied ist der erste Abschnitt dieses Teils den theoretischen Versuchen Klopstocks gewidmet, etwa den »Gedanken über die Natur der Poesie«, in denen Klopstock sich wenig systematisch um eine Art von theoretischer Reflexion der ästhetischen Erfahrung zum Zweck der Vermittlung von Regel und Beispiel kümmert. Der wesentliche Gedanke der poetologischen Reflexionen Klopstocks liegt nach Berndt in einer Theorie der Medialität, die eben als die passgenaue Ergänzung der Ästhetik Baumgartens gesehen werden und daher als Gelenk hin zur poetischen Praxis dienen kann. Sicherlich ist Baumgarten und Klopstock die Aufwertung des sinnlichen Erkenntnisvermögens gemeinsam, die sich durchaus mit einer Aufwertung des Begehrungsvermögens gegenüber dem Erkenntnisvermögen verträgt. Das Besondere der Position von Klopstock entfaltet Berndt anhand der Kategorien »Schreib-Szene«, »Schau-Platz« und »Körper«, die das Gedicht jeweils in die Pole von Denken bzw. Erkennen und Darstellen bzw. Zeigen einordnen. Das Gedicht erhält damit ein materiales Eigenleben, dem gewissermaßen allein durch seine Form eine spezifische Bedeutung zukommt.

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Die beiden weiteren Abschnitte behandeln nun die poetische Praxis in lyrischer und epischer Form. Die Ode Das Rosenband gilt als bürgerlich-empfindsames Liebesgedicht schlechthin. Im literaturtheoretischen Kontext ist es bedeutsam, weil es nach Berndt so verfährt, wie es Baumgarten in seiner ästhetischen Theorie systematisch entwickelt und Klopstock in seinen literaturtheoretischen Fragmenten praktisch reflektiert hat. Es wird also weniger thematisch als anakreontisches Gedicht bedacht, sondern in seiner speziellen formalen Struktur gewürdigt, der ein rationales Kompositionsprinzip zugrunde liege. In ihrer akribischen, selbst die medialen Aspekte der Handschrift berücksichtigenden Interpretation entwickelt Berndt überaus anschaulich dieses Kompositionsprinzip und unternimmt damit gewissermaßen den Praxistest der eigenen, an Baumgarten geschulten ästhetischen Theorie. Für den eher praktisch orientierten Gelehrten bietet sich dieses Kapitel meines Erachtens zum Einstieg an – nicht zuletzt, um den Mehrwert des Ansatzes besser beurteilen zu können, der sich mit einer ästhetisch informierten Interpretation einstellt.

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Bei der formalen Struktur geht es Klopstock nach Berndt darum, die beiden Anschauungsformen des Raums und der Zeit im künstlerischen Werk nicht voneinander zu trennen – wie Lessing es im Laokoon bezogen auf unterschiedliche Gattungen gefordert hat –, sondern in der Komposition aufeinander zu beziehen. Deshalb kalkuliere Klopstock nicht nur mit der gesprochenen Sprache (die in der Deklamation zeitlich ist), sondern ebenfalls mit der Gattung, der in der Lyrik insbesondere durch die Metrik ein Format und damit eine räumliche Anschauungsform zugrunde liege. Im Fall der anakreontischen Ode führe dieses Format zur rhetorischen Figur des Hendiadyoin (Spaltung, Verdoppelung), im Fall des enzyklopädischen Epos zum spannungsvollen Verhältnis von Teil bzw. Fragment und Ganzem. Die Betonung dieser doppelten Anschauungsform durch Klopstock verstärke nach Berndt den sinnlichen Charakter seiner Gedichte und des ästhetischen Mediums insgesamt:

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»Indem er [Klopstock] die zeitliche Anschauungsform der Sprache mit der räumlichen der Gattung eng führt, komponiert er sowohl auf einem kleinen, feinen Blatt die nur zwölf Zeilen umfassende Ode, die auf der graphischen und akustischen Wiederholung von zwei Elementen basiert, als auch das ›dicke‹ enzyklopädische Epos, dessen mehr als 20.000 Verse einen gewaltigen Spiegel- und Echoraum bilden. So erweist sich die Ode über die Liebe gewissermaßen als Minimalform eines Gedichts, das Epos über die Religion als Maximalform.« (S. 12)
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Während die Form des Rosenbandes auf der Kombinatorik zweier Elemente basiert, stellt der den Klopstock-Teil abschließende Abschnitt den Messias in seiner unendlichen Kombinatorik als »monströses« Gedicht-Format vor, mit dem das zweite wichtige Thema Klopstocks behandelt wird, nämlich die religiöse Erfahrung. Anders als die dichte Struktur des Rosenbandes, dem Berndt eine symbolische Konzentrik zuspricht, zeigt der Messias eine symbolische Exzentrik, dessen ausufernde Verse Berndt anhand der erläuterten Kategorien »Schreib-Szene«, »Schau-Platz« und »Körper« analysiert. Auch hier löst sie sich von der inhaltsbezogenen Forschung und geht einen eigenen, sehr abstrakten Weg, indem sie den Messias vorrangig in seiner kompositorischen Logik analysiert. Hierbei geht sie von dem enzyklopädischen Format des Messias aus und überträgt die am Rosenband entwickelten Strukturprinzipien auf die ›Gesamttextstruktur‹ des Messias. Episoden, Spiegelung oder Wiederholungen werden dabei als Ausprägungen der räumlichen Anschauungsform der Gattung verstanden, deren formaler Charakter die Bestimmung auch des Inhalts leitet, insofern religiöse Erfahrung in dieser formalen Struktur des Verhältnisses von Fragment (Individuum) und Ganzem (Gott / Welt) zur Darstellung kommt. Insgesamt entsteht bei Berndt damit ein formales Modell der spezifischen Sinnlichkeit des Messias, das literaturtheoretische Fragmente, Ode und Epos verbindet:

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»Weil Klopstock die symbolische Struktur nicht im Hinblick auf einzelne Elemente analysiert (Figuren, Tropen), sondern in der Synthese aller strukturellen und materialen Aspekte, steht für ihn die dicht verknüpfte, unanschauliche und bewegte Struktur als symbolische ›Gesamttextstruktur‹, und das heißt stets als Komposition zur Diskussion. Mit der ›Schreib- Szene‹ unterlegt Klopstock dieser symbolischen Komposition eine zeitliche Anschauungsform, mit dem ›Schau-Platz‹ eine räumliche, und mit dem ›Körper‹ reflektiert er auf die Art und Weise, wie diese Komposition in Erscheinung tritt, indem ein Algorithmus (Deklamation) die (typo-)graphischen, syntaktischen, rhetorischen, phonologischen, prosodischen und etymologischen Konzepte zum synästhetischen Ereignis verrechnet.« (S. 278)
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Literaturtheoretischer Ausblick

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Im abschließenden Kapitel schließt Berndt die Literaturtheorie um 1750 an die späteren Theorieentwürfe an. Sie fragt:

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»Ist es aber nicht erstaunlich, dass das Gedicht schon nach nur vierzig Jahren als toter Ast am Wissensbaum der mittleren Aufklärung verkümmern soll? Oder anders gefragt: Wo ist es geblieben – das Gedicht –, nachdem die beiden Labore im Osten und im Norden des deutschsprachigen Territoriums – das des Philosophen und das des Dichters – verschwunden sind? Welches Schicksal hat das Gedicht, das in seinen psychologischen, semiotischen, rhetorisch / poetologischen, metaphysischen und ethischen Aspekten – und zwar genau und immer in diesen fünf Aspekten – Literatur epistemisch konfiguriert?« (S. 280f.)
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In einem kenntnisreichen Überblick zeigt Berndt, dass es vor allem die Symboltheorien des späten 18. und 19. Jahrhunderts sind, in denen der Literaturbegriff weiter entwickelt wird. Diesen Theorien liegt nach Berndt dieselbe Systematik zugrunde, wie sie Baumgarten für seine theoretische Umstellung des literarischen Textes verwendet hat. Insbesondere der Germanistik erteilt sie dadurch den Auftrag, die Symboltheorien neu zu lesen und sie aus der unfruchtbaren Fokussierung auf die Goethezeit und damit auf die Alternative von Symbol und Allegorie zu entlassen. Die Argumentation endet bei der Beziehung zwischen Baumgarten und Cassirer sowie – damit verbunden – der besonderen Bedeutung des literarischen Textes für die Fragen einer allgemeinen Kulturwissenschaft. Denn am Beispiel des literarischen Text wird seit Baumgarten die symbolische, d.h. die medial vermittelte Erkenntnis diskutiert und reflektiert. Der literarische Text – poema (Gedicht) – wird also als ein privilegiertes Modell entwickelt, das sich als kulturwissenschaftliches Paradigma eignet. Vice versa ist die Theorie der sinnlichen Erkenntnis, also die Ästhetik, seit Klopstock die Voraussetzung reflektierten literarischen Schaffens – das gilt zumindest bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Zusammenfassend und abschließend ist festzustellen, dass Berndt die Ästhetik als ein Unternehmen versteht, das sich immer sowohl den Erkenntnisbedingungen als auch den eigenen Darstellungsbedingungen zu vergewissern hat. Ästhetik sollte gleicherweise Erkenntnistheorie und Medientheorie umfassen und kann erst im Schnittfeld beider Disziplinen fruchtbar werden. Die historischen Grundlagen einer solchen medientheoretisch ausgerichteten Ästhetik finden sich bei Baumgarten, der in seinen ästhetischen Überlegungen dem Denken und Erkennen, zugleich aber immer auch der Darstellung verpflichtet ist. Dabei avanciert der literarische Text insofern auch zu einer anthropologisch zentralen Position, als er die Notwendigkeit der sinnlichen, nicht-logischen Anteile für das menschliche Erkennen und Darstellen hervorhebt.