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Unentdecktes und Verborgenes - Tiefenstrukturen im Werk von Bettine von Arnim und Thomasine Gyllembourg

  • Michael Penzold: Begründungen weiblichen Schreibens im 19. Jahrhundert. Produktive Aneignungen des biblischen Buches Rut bei Bettine von Arnim und Thomasine Gyllembourg. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 713) Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 392 S. Kartoniert. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 9783826044311.
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Der Grundgedanke – Das Buch Rut als Deutungshorizont

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Bereits das Titelbild des Bandes von Michael Penzold rückt die alttestamentliche Figur Rut in den Blick des Betrachters: In der reproduzierten Rembrandtschen Pinsel- und Federzeichnung kniet Rut vor Boas, sieht zu ihm auf und bietet sich ihm an – ganz so, wie Noomi es ihr aufgetragen hat. Damit kann Rut ihr Schicksal zum Guten wenden: Boas löst von einem anderen Rut aus und heiratet sie; daran ist die Bedingung geknüpft, dass auch Noomi ihren Besitz wieder erhält. Aus der Beziehung zwischen Rut und Boas geht das Kind Obed hervor, der zum Großvater Davids wird und letztlich dafür sorgt, dass Rut sich in die Genealogie Davids einschreibt und gleichzeitig zu einer Stammmutter Israels wird. Dies alles gelingt ihr, trotz bzw. gerade weil sie sich solidarisch mit Noomi zeigt, ihr die Treue hält und mit ihr in die Fremde gezogen ist.

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Im Buch Rut des Alten Testamentes werden damit zentrale Fragen weiblicher Lebensentwürfe angesprochen, die Michael Penzold zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Sein Ziel ist es, mit Hilfe des Buches Rut eine immanente Struktur der Begründung weiblichen Schreibens im 19. Jahrhundert offenzulegen. Dazu wählt er zwei prominente Vertreterinnen – die deutsche Schriftstellerin Bettine von Arnim (1785–1859) und die dänische Schriftstellerin Thomasine Gyllembourg (1773–1854); dabei geht es ihm weniger um eine motivgeschichtliche Studie des Buches Rut, als vielmehr um die Entwicklung eines adäquaten Instrumentariums für die wenig rezipierten Texte der genannten Autorinnen.

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Seine Vorgehensweise zielt auf die Tiefenstrukturen der Werke ab: Er setzt im Sinne einer »hermeneutischen Triade« das Rut Buch mit dem Briefroman Bettine von Arnims und den Alltagsgeschichten Thomasine Gyllembourgs in Beziehung. Die besondere Herausforderung besteht darin, dass aufgrund der kontrastiven Analysen mit dem Buch Rut sich Tiefenstrukturen erschließen lassen und dass diese auf ihre Konsistenz überprüft werden.

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›Affidamento‹ und ›Lösung‹ – Beziehungskonstellationen zwischen Frauen

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Um diese kontrastiven Analysen theoriegeleitet vorzunehmen und zu den Tiefenstrukturen des Textes vorzudringen, wählt der Verfasser den Zugang über den in der Genderforschung gebräuchlichen Begriff des ›Affidamento‹, wie er um die italienische Philosophinnengruppe »Diotima« um Luisa Muraro geprägt worden ist. Dieser Ansatzpunkt erweist sich aus verschiedenen Gründen als äußerst geschickt: Er ermöglicht dem Verfasser, eine Anbindung an die Genderforschung, wo ›Affidamento‹ zum Inbegriff des Beziehungsgefüges zwischen Frauen und des Aushandelns von Beziehungen geworden ist. Der Begriff umfasst sowohl die Auseinandersetzung mit weiblichen Biographien als auch mit der Differenz von weiblichen Lebensentwürfen. Solchermaßen können zum einen die Autorinnen von Arnim und Gyllembourg und ihre jeweiligen, zeitgenössischen Beziehungen zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Zum anderen lenkt in struktureller Hinsicht die Auseinandersetzung mit Affidamento-Strukturen den Blick auf interpersonale Zusammenhänge und auf die Dualität der Frauenfiguren. Selbstredend wird die skizzierte Herangehensweise auch für die Analyse des Buches Rut verwendet sowie analytisch und diskursiv für die Deutung der Texte des 19. Jahrhunderts herangezogen.

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Zusätzlich bringt der Verfasser noch den Begriff der ›Lösung‹ ins Spiel, der gleichermaßen im Buch Rut angelegt ist, der einen Zugang zur jüdischen Tradition des Textverstehens birgt und der Anknüpfungspunkte an die Gedenkfigur des ›Affidamento‹ bietet. Rut wird von Boas »ausgelöst«, da ein anderer Rechte auf sie geltend machen kann; an eine Verbindung zwischen Boas und Rut wird die Bedingung geknüpft, dass auch Noomis Acker »ausgelöst« werden muss. Mit Hilfe dieses Rechtsgeschäfts werden Rut und Noomi in die jüdische Gemeinschaft integriert. Neben dieser rechtlichen Bedeutung von »Lösen« findet sich im Buch Rut noch eine weitere Dimension: Rut schreibt sich in die Genealogie Davids ein, der zu einem Erlöser der Menschen wird. Unter »Lösen« wird damit auch der Übergang vom Sakralen zum Profanen markiert: Der Gott Israels kann als Erlöser der Frommen und seines Volkes angesprochen werden.

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Bettine von Arnims Werk – Versuch einer Deutung I

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Bettine von Arnims Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (1835) wird einer sorgfältigen Analyse unterzogen und als Variation über das Buch Rut gelesen. Bezugnehmend auf die Affidamento-Strukturen des Textes legt Penzold ein unerwartetes Beziehungsgefüge frei: Er referiert Bettines Beziehung zur Frau Rat, Goethes Mutter. Diese Beziehung sei entscheidend für Bettines Vorstellung von einer gelingenden Verfasserschaft gewesen: Die beiden tauschen sich in »Briefwechsel mit Goethes Mutter«, dem ersten Unterkapitel von Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde, über das Schreiben und den damit einhergehenden Empfindungen aus. Sorgfältig weist Michael Penzold dabei nach, wie die Fremdheit mit der Welt des Schreibens im Medium des Briefes überwunden werden kann und inwiefern sich hier Parallelen zum Buch Rut auftun. Darüber hinaus dient der Briefwechsel mit Goethes Mutter auch der Annäherung an die Welt des »Lösers«, worunter der Weimarer Dichterfürst zu verstehen ist. Mit Blick auf die erste Begegnung mit Goethe in Weimar kann Bettine von Arnim emphatisch schreiben, dass ihr nun die »Rolle des Erzählens« zugefallen sei, das ihre Zunge und ihr Herz gelöst habe. Darüber hinaus fertigt sie mit ihrem Buch auch eine Geschichte der Erinnerung an, die über den Tod Goethes hinausreicht und für von Arnim in einer gesteigerten Empfindungsfähigkeit im Künstlerischen mündet. Penzold hebt hervor, dass dies weder mit einer Unterwerfung unter die Maßstäbe Goethes noch mit einer souveränen Strategie der Emanzipation aus eigener Kraft einhergeht. Vielmehr führt der Dialog mit Goethe Bettine von Arnim zum Schreiben und zum eigenen Ich.

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Thomasine Gyllembourg – Versuch einer Deutung II

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Außerhalb Skandinaviens sind die Werke der Dänin Thomasine Gyllembourg nur wenig bekannt. In seiner Studie geht Michael Penzold auf drei in der Forschung vielfach diskutierte Novellen (En Hverdags=Historie [1828], Maria [1839], To Tidsaldre [1845]) ein, die unter dem Begriff der »Alltagsgeschichten« bekannt geworden sind. Einleitend wird der Umstand näher beleuchtet, dass diese Texte anonym erschienen sind und den Zeitgenossen einige Rätsel aufgaben, ob ein Mann oder eine Frau als Autor anzunehmen wäre. Auf diese Weise hat sich Gyllembourg auch in den männlich geprägten Kontext des Literaturbetriebes des 19. Jahrhunderts eingeschrieben – ein Umstand, der bislang nur selten in der Forschung reflektiert worden ist.

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In den ausgewählten Alltagsgeschichten ist – ganz im Sinne des ›Affidamento‹ – auf figuraler Ebene eine Dualität der Frauenfiguren feststellbar, die sich für den jeweils »geeigneten« Mann zu entscheiden haben und dafür auch Hindernisse überwinden müssen. Bedeutsam ist, dass Frauen immer dann ihr eigenes Glück befördern können, wenn sie – ganz im Sinne der Rut-Noomi-Dyade – solidarisch zueinander stehen. Auch zeigt sich, dass in den Novellen eine Fülle von weiblichen Lebensentwürfen des 19. Jahrhunderts aufgeführt werden, die immer wieder auch auf das Verhältnis der Frauen im Buch Rut bezogen werden können. Neben diesen Strukturen verwebt Gyllembourg auch zahlreiche Passagen in ihre Texte, die dem »Lösen« gewidmet sind; gerade in der Novelle To Tidsaldre ist auch das Aushandeln von Lösungsbedingungen zwischen den Protagonisten Lusard und Claudine ein zentrales Element des Textes: In den politisch unruhigen Zeiten der Französischen Revolution müssen »moralische« Hindernisse – ein uneheliches Kind, eine nicht-standesgemäße Heirat, eine nicht gesellschaftlich legitimierte Lebensweise – überwunden werden.

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Kontrastive Überlegungen und ein Schluss

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Wie deutlich geworden sein dürfte, kann mit Hilfe des Buches Rut ein Zugang zu wenig rezipierten Texten des 19. Jahrhunderts gefunden werden: Im Falle Bettine von Arnims wird eine Textebene sichtbar, die zum einen das Ringen einer Autorin um das Schreiben und geeignete Vorbilder offenlegt. Zum anderen kann damit ihr Werk einer Neubewertung unterzogen werden, das bisher vielfach auf die Koordinaten Goethekult und Romantik fixiert war. Kontrastiv dazu ergänzt das Werk der Thomasine Gyllembourg die Tragfähigkeit des von Penzold gewählten Ansatzes. Allerdings wird an einigen Ausführungen zum Werk der Dänin die Argumentation kleinschrittig, so dass größere Zusammenhänge darüber verloren gehen. Auch hätte man sich eine systematischere Gegenüberstellung der Ergebnisse gewünscht. Dennoch sollen diese Monita nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Ertrag des Buches auf methodologischer Ebene liegt: Michael Penzold gelingt es in überzeugender Weise, wenig kanonische Texte weiblicher Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts für eine genderbewusste Literaturwissenschaft des 21. Jahrhunderts zu erschließen: Das Buch Rut wird dabei für Leser(innen) der Studie von Michael Penzold zu einer treuen Gefährtin, das sie zu Unentdecktem und Verborgenem in der Literatur der Bettine von Arnim und Thomasine Gyllembourg führt.