IASLonline

Protestantische Ideengeschichte

Friedrich Wilhelm Grafs gesammelte Weimar-Studien

  • Friedrich Wilhelm Graf: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2011. 527 S. Geheftet. EUR (D) 49,00.
    ISBN: 978-3-16-150430-3.
[1] 

»Protestantische Ideengeschichte« und der Wandel der Forschungslage

[2] 

Noch vor zwanzig Jahren hätte niemand eine theologiegeschichtliche Darstellung der Zwischenkriegszeit mit »Ideengeschichte der protestantischen Theologie« überschrieben. Wenn genau dies nun bei Friedrich Wilhelm Grafs Sammlung historischer Abhandlungen der Fall ist, dann lässt es sich gar nicht vermeiden, die Texte ihrerseits in historisierender Perspektive neu zu betrachten. So scheint es dem Autor selbst auch gegangen zu sein, als er sich, auf vielfaches Drängen hin, entschlossen hat, dem Wunsch nach einem solchen kompakten Wiederabdruck nachzugeben. Denn in der Tat hat sich, wie er sagt, seit ihrem ersten Erscheinen »die Lage der theologiehistorischen Forschung zur Weimarer Republik tiefgreifend gewandelt« (S. 100).

[3] 

Man kann diesen Umstand gar nicht entschieden genug betonen. Wer an den ersten Tagungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft teilgenommen hat, jener Vereinigung, deren Präsident Graf heute als Nachfolger Trutz Rendtorffs ist und die in den achtziger Jahren der Kristallisationsort einer kämpferisch-avantgardistischen Anstrengung geworden ist, die protestantische Theologie in großem Stil aus historisch-aufgeklärtem Geist heraus zu erneuern – , wem die Erinnerung auch an das eigentümliche Pathos der Kritik an einer damals noch immer fest etablierten antihistoristischen Dogmen- und Bibeltheologie gegenwärtig ist, der kommt sich jetzt vor wie in einer anderen Welt.

[4] 

Fast träumt man den klaren Konfrontationslinien von damals nach, den Parteiungen zwischen »den Münchnern« – Trutz Rendtorff mit seinem Schüler- und theologischen Freundeskreis – und »den Tübingern« um Eberhard Jüngel und Jürgen Moltmann. Die theologische Welt war anhand der Polarität »Schleiermacher – Barth« so klar strukturiert wie auch sonst die meisten wichtigen Dinge seinerzeit.

[5] 

Alter Streit

[6] 

Der Rezensent erinnert sich zum Beispiel an eine Heidelberger Begebenheit, die damals, vor fast fünfundzwanzig Jahren, in der Studentenschaft großes Aufsehen erregte. Graf trug hier seine Deutung vor, wonach die Prämissen der Dialektischen Theologie einem autoritären Konzept entstammten, dessen Entsprechung zu den antiliberalen Ideologemen der zwanziger und dreißiger Jahre nur allzu offenkundig sei. Für die Gastgeber trat Heinz Eduard Tödt auf, ein Sachwalter und Siegelbewahrer der Barth-, Barmen- und Bonhoeffer-Theologie (»Die drei großen B«), und er sah nun dieses Erbe durch Grafs, vielleicht auch etwas polemisch akzentuierten, Zugriff so sehr bedroht, dass er sich während der Diskussion in einen geradezu erschreckenden Wutanfall hineinsteigerte. Doch den Kontrahenten einzuschüchtern, blieb ihm verwehrt, und am Ende stand der große alte Mann der Bonhoeffer-Fraktion nicht gut da. Die peinliche Szene hat ihm selbst und seinem örtlichen Kreis noch einige Mühe bereitet, denn in ihr trat ja mehr ans Licht als nur ein sehr präzises Wissen um nicht länger zu unterdrückende Probleme.

[7] 

Dafür war das Selbstbewusstsein aufseiten jener aufständisch anmutenden Erneuerer enorm. Es ging um nichts weniger als eine Revitalisierung des »neuzeitlichen Protestantismus« – dies das Banner, unter dem sich alles versammelte. Als Mitstreiter oder Sympathisant gehörte man ja auch, genau betrachtet, in eine Mannschaft mit Lessing, Herder, Schleiermacher, Rothe, Ritschl, Harnack und Troeltsch. Man stand auf der richtigen Seite, auf der von Modernitätsoptimismus und »Sprachfähigkeit« des Christentums in der sich dramatisch pluralisierenden Weltwirklichkeit. Zudem wirkte der »experimentelle« Charakter vieler Deutungsversuche – von dem Graf jetzt auch ausdrücklich spricht (S. 97) – damals sehr attraktiv auf alle Entdeckungsfreudigen.

[8] 

Zur Bedeutung der Abhandlungen

[9] 

Der Wiederabdruck dieser Aufsätze ist deshalb ein geeigneter Anlass, sich die Rolle zu vergegenwärtigen, die ihnen in der theologischen Debatte seinerzeit zukam. Als singuläre Forschungsleistung ragten sie aus dem Gesamtfeld klar heraus. Graf hat maßgeblichen Anteil daran, dass das universitätstheologische Schrifttum der Zwischenkriegszeit heute wirklich als das wahrgenommen wird, was es war: als Ausdruck »hoher intellektueller Erregung, geprägt von radikaler, avantgardistischer Aufbruchsdynamik, harten Generationenkonflikten, scharfen Deutungskämpfen um zentrale theologische Begriffe und viel politischem Streit« (S. 3–4).

[10] 

Mit unnachahmlichem, oft auch ironisch-distanziertem Gestus hat Graf in Dutzenden von Abhandlungen und Aufsätzen, in Hunderten gelehrter (und nach wie vor lesenswerter) Rezensionen für Fachzeitschriften und Tageszeitungen, daneben durch ebenfalls zahlreiche Editionen und mit der wesentlich von ihm betriebenen Gründung der »Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology« (seit 1994) das Problem- und Methodenbewusstsein der jüngeren Theologiegeschichtsforschung grundlegend verändert. 1 Mit seinem eigenen Ansatz einer politik- und sozialgeschichtlich inspirierten Ideenanalyse hat er zugleich selbst den wichtigsten Beitrag dazu geleistet. Bei all dem ist es ihm, in der Nachfolge des bewunderten Vorbildes Ernst Troeltsch, darum gegangen, in der Theologie einen Wandel des Selbstverständnisses zu befördern, in dessen Verlauf sie mehr und mehr den Charakter einer kirchengebundenen, weltabgeschlossenen Systemtheorie verlieren und sich auf das Paradigma der hermeneutisch reflektierten, für politische Implikationen sensiblen und interdisziplinär kontextualisierten Kulturwissenschaften hin öffnen sollte.

[11] 

Die Texte

[12] 

Dieses Programm wird von Graf jetzt noch einmal in der neu verfassten, einhundertseitigen Einleitung unter dem Titel »Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik« formuliert, verbunden mit einem kritischen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand. Es spricht aber auch aus jeder einzelnen der zwölf wiederabgedruckten Arbeiten. Die meisten stammen aus der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als in Monatsabständen permanent hochbrisante Texte Grafs erschienen. Aufgenommen sind erfreulicherweise auch die frühen »Bemerkungen zum theozentrischen Ansatz der Anthropologie Karl Barths«. Sie haben seinerzeit einige Unruhe verbreitet, ihrem Autor Ärger bereitet und wesentlich zum legendären Ruf des Bandes »Die Realisierung der Freiheit« von 1975 beigetragen. 2

[13] 

An der Spitze der Sammlung steht der wohl meistzitierte Aufsatz Grafs über »Die antihistoristische Revolution in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre« aus der Pannenberg-Festschrift von 1988. Hier wird bereits das große Panorama aufgespannt. Ihm folgen der nicht minder berühmt gewordene Text über Troeltschs Kritik der »geistigen Revolution« im frühen zwanzigsten Jahrhundert (»›Kierkegaards junge Herren‹«, 1987), sodann eine Abhandlung über Otto Baumgartens ethische Theologie (»Lex Christi und Eigengesetzlichkeit«, 1986) und ein etwas neueres, sehr materialreiches Porträt Reinhold Seebergs (1998). Weitere Studien sind Friedrich Gogartens Deutung der Moderne (1989), Otto Pipers Lutherischem Neurealismus (1988) und Paul Tillichs Theologie der »Allversöhnung« (2004) gewidmet. Den Abschluss bilden zwei Arbeiten zu Barth (»›Der Götze wackelt‹. Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik« von 1986 und »Der Weimarer Barth. Ein linker Liberaler?« aus dem Jahre 1987), eine Porträtskizze zu Hans Joachim Iwand (1998) sowie ein wiederum vieldiskutierter Aufsatz zum Thema »Liberaler Protestantismus und ›Judenfrage‹ nach 1933« von 1988.

[14] 

Der aktuelle Forschungsstand

[15] 

Diese Texte gehören inzwischen zum Kernbestand der theologiegeschichtlichen Forschungsliteratur. Insofern ist es gut, dass diese Sammlung nun vorliegt. Eine wesentliche Aufwertung erhält der Band aber durch die erwähnte Einleitung. Dieser Text vor allem sei der genauen Lektüre empfohlen. Es überrascht, wie entschieden Graf hier aus der von ihm selbst erarbeiteten Perspektive ein durchaus prekäres Urteil über den aktuellen Forschungsstand formuliert. Dabei ist doch kein anderer Zeitraum der protestantischen Theologiegeschichte so gut erforscht wie die vierzehn Jahre von Weimar. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Bibliotheksregale genügt. Zu den einflussreichsten Einzelgestalten jener Zeit – Karl Barth, Rudolf Bultmann, Emil Brunner, Emanuel Hirsch und Paul Tillich – hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine reiche Fülle von zum Teil ausgezeichneter Spezialliteratur angesammelt. Dazu kommen viele wichtige Editionen, oft verbunden mit äußerst sachkundigen Kommentierungen.

[16] 

Noch viel größer ist der Bestand an Monographien und sonstigen Beiträgen zu Einzelthemen, zu Kontextfragen, zur Debattenkultur, zum Verhältnis von Theologie und Kirche, zur politischen Rolle der theologischen Arbeit, zur Antisemitismusproblematik und etlichen weiteren Themen. Auch spielt sich diese Arbeit inzwischen selbstverständlich im internationalen Rahmen ab. Die deutschsprachige Theologie jener Zeit interessiert die ganze Welt. Das beweist die Teilnehmerschaft an sämtlichen wichtigen Tagungen. An den hiesigen Zeitschriften, Sammelbänden und Buchreihen beteiligen sich immer mehr nichtdeutschsprachige Autoren, und auch außerhalb floriert die Forschung zur Theologie des deutschen Protestantismus. Heute wäre wohl kaum noch ein Ansehensgewinn zu erzielen, wenn man, wie seinerzeit das Präsidium der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft, bei Tagungsbeginn stolz die Anzahl auswärtiger Teilnehmer und die von ihnen bis zum Zielort zurückgelegte Kilometerzahl verkündete.

[17] 

»Insgesamt ungenügend«

[18] 

Und doch kann Graf in seinem Zeugnis über die derzeitige Forschungslage nur die Note »insgesamt ungenügend« geben.

[19] 

Wo sieht er die Mängel? Im Wesentlichen ergibt sich sein Urteil aus der beträchtlichen Niveausteigerung theologiegeschichtlicher Forschung selbst. Grafs Abhandlungen erörtern nicht nur jene Geistesrevolutionen, die die Geschichte der akademischen Theologie bis weit in die Nachkriegszeit hinein geprägt haben, und zwar wiederum nicht nur hierzulande. Zugleich, und das ist noch wichtiger, gelingt es ihm, die vielfachen Verwobenheiten, Wahlverwandtschaften und Strukturanalogien herauszuarbeiten, die sich in den Texten jener protestantischen Universitätstheologen finden. Diese Glaubensausleger waren keine Provinzler; vielfach standen sie in einem, zum Teil sogar erstaunlich intensiven, Austausch mit katholischen und auch jüdischen Gelehrten. Hinzu kommen die generationsbedingten Konflikte, die in keinem anderen Wissenschaftsfeld derart aggressive Ausdrucksformen angenommen haben. Nur deshalb, weil sie der »Wilhelminischen Generation« angehörten, kann man erklären, weshalb Otto Baumgarten, Ernst Troeltsch oder Martin Rade seinerzeit so sehr in den Hintergrund geschoben worden sind, während sie uns heute doch als die wahren Helden ihrer Zeit erscheinen. Der »heilige Zeitgeist« stand auf Seiten der »Frontgeneration«.

[20] 

Vor allem jene Verbundenheit aus interkonfessionellen und fächerintegrativen Orientierungen, jene »shared history« also, kann Graf nun aber in der derzeitigen Forschungsliteratur in gar keiner Weise angemessen wiederfinden. Die Einsichten, die anhand exemplarischer Ausschnitte in den letzten drei Jahrzehnten erarbeitet worden sind, und die hochkomplexe kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Diagnostik, die durch sie eröffnet wird und für die Graf an erster Stelle selbst steht, sind demzufolge in der erforderlichen ganzen Breite noch nicht einmal ansatzweise von der Forschung begriffen worden.

[21] 

Viel zu sehr verharrt die Rekonstruktionsarbeit in einem traditionalistischen Schema. Besonders verhängnisvoll sei, dass sich zahlreiche Autoren weiterhin gegenüber den Fragestellungen und Analysemethoden der Kulturwissenschaften indifferent verhalten, es anscheinend sogar hier und da geradezu auch wollen, um die Eigenständigkeit und Stärke der akademischen Theologie gegenüber kirchen- und theologiefeindlichen Attacken mit Trotz zur Geltung zu bringen. Von irgendeiner »Transformation«, der Christentum, Kirche und Theologie in den letzten zweihundert Jahren ausgesetzt gewesen wären, will man hier jedenfalls insofern nichts wissen, als daraus auch die Notwendigkeit eines wissenschaftstheoretischen Kategorienwechsels für die Theologie folgen könnte. Hinter die historische Selbsterkundung anderer Geschichts- und Kulturwissenschaften falle die Theologie daher deutlich zurück.

[22] 

Der Erfolg: Verschiebung der Wissenschaftsstandards

[23] 

Dieser Einschätzung kann man zustimmen, und das in der Einleitungsabhandlung beigebrachte Material spricht denn auch tatsächlich eine deprimierend deutliche Sprache. Auf der anderen Seite ist es doch nicht gleichgültig, dass wenigstens die Maßstäbe für eine als gelungen zu bezeichnende Forschungsleistung klar angebbar sind. Und wenn etwa – um nur ein krasses Beispiel zu nennen – eine gerade 2009 in ihrem dritten Band erschienene »Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart« dem heutigen Leser schlicht und einfach als gestrig erscheint, dann darf das wohl auch für die faktisch erfolgte Verschiebung der Wissenschaftsstandards in der von Graf geforderten Richtung gelten.

[24] 

Er selbst aber hat mit den nun zu erneuter Lektüre angebotenen Studien und darüber hinaus mit einer mittlerweile unüberschaubaren Vielzahl weiterer Arbeiten eine Leistung vollbracht, die einzigartig ist. Für den qualitativen Rang und das internationale Renommee der deutschsprachigen Theologiegeschichtsforschung ist sein Name Garant und Anspruch in einem. 3 Mit seiner zuletzt vermehrten Buchproduktion hat er überdies auch die Aufmerksamkeit einer breiteren Leserschaft auf unsere Arbeit gelenkt, und auch dies ist ein nur von ihm erreichbarer Effekt. 4 So hat er denn schließlich längst eine Erwartung eingelöst, die auszusprechen in jener kritischen Heidelberger Stunde Heinz Eduard Tödt nun allerdings auch zustandegebracht hat: Grafs wissenschaftliche Arbeiten würden »bei anhaltender Produktivität gewiß einmal auf ein sehr bedeutendes Lebenswerk hinauslaufen«.

 
 

Anmerkungen

Das »Verzeichnis der wissenschaftlichen Publikationen« findet sich unter: http://www.st.evtheol.uni-muenchen.de/personen/graf/publikationen/bibliographie.pdf.    zurück
Trutz Rendtorff (Hg.): Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths. [Mit Beiträgen von Falk Wagner, Walter Sparn, Friedrich Wilhelm Graf und Trutz Rendtorff.] Gütersloh: Mohn 1975. – Der Band enthält auch den damals vielerorts als skandalös empfundenen Aufsatz von Falk Wagner »Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth« (S. 23-39).   zurück
Ein weiterer Band mit Studien zu Weber und Troeltsch, einem besonders intensiv gepflegten Forschungsfeld Grafs, ist bei de Gruyter angekündigt (Fachmenschenfreundschaft. Troeltsch-Studien. Neue Folge. Band 3). Aber es wäre doch schön, wenn die Sammlung seiner älteren Arbeiten damit noch nicht beschlossen würde.   zurück
Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: Beck 2004; Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze. München: Beck 2006; Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. München: Beck 2006; Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Modern. München: Beck 2009; Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen. München: Beck 2011.   zurück