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Teilnehmende Beobachtung

Ein neues Autorenporträt von Wolfgang Hilbig

  • Birgit Dahlke: Wolfgang Hilbig. (Meteore 8) Hannover: Wehrhahn 2011. 140 S. 12 Abb. Broschiert. EUR (D) 14,80.
    ISBN: 978-3-86525-238-8.
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Von Meteoren

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»Meteore« heißt die von Alexander Košenina, Nikola Roßbach und Franziska Schößler herausgegebene kleine Biographienreihe des Wehrhahn-Verlags. Aufgegriffen wird damit das bekannte Diktum Goethes, J.M.R. Lenz sei »als ein vorübergehendes Meteor nur augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur« hinweggezogen, »ohne im Leben eine Spur zurückzulassen«. 1 Entsprechend sollen in der Reihe »Köpfe des 17. bis 21. Jahrhunderts« porträtiert werden, »die am literarischen Himmel zwar sichtbar sind, deren Laufbahn bisher aber noch nicht eingehender beschrieben wurde« (Verlag).

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Die Reihe zielt weniger auf einen Gegenkanon als auf eine Art ›Andere Bibliothek‹. Verbunden werden sollen »Lebensgeschichte mit Werkdarstellungen und -analysen. Grundlage ist der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand, editorisch wie interpretatorisch« (Verlag), wie es in der Reihenbeschreibung versprochen und vom vorliegenden Band − dies sei vorweggenommen − auch eingelöst wird. Bislang liegen acht Porträts vor: Hilde Domin, Johann Heinrich Merck, Marie von Ebner-Eschenbach, Johann Karl Wezel, Ferdinand Raimund, Christian Fürchtegott Gellert, Hedwig Dohm und schließlich – als jüngster Band − Wolfgang Hilbig. Auffällig ist, dass sechs der acht Darstellungen von Verfasserinnen stammen. Das kann ein Zufall sein, aber es kann auch damit zusammenhängen, dass ein ›Gestirn‹ − der Autor und sein Werk − traditionell männlich kodiert ist, während die ›Meteore‹, die ›Spuren‹ und der Kampf um Sichtbarkeit und Anerkennung charakteristische Merkmale ›weiblicher Autorschaft‹ sind.

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Wolfgang Hilbig − eine ›echte‹ Meteor-Gestalt

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Mit Wolfgang Hilbig nimmt die Reihe nun eine ›echte‹ Meteor-Gestalt auf: einen Sonderling und Außenseiter in Zwischenräumen (Arbeiterschriftsteller einer literarischen Moderne ›zwischen den Grenzen‹), eine Nacht-Existenz (psychologische Krisen, Alkoholismus, Schreibkrisen) mit plötzlichem Tod (als Folge einer unheilbaren Lungenkrebs-Erkrankung). Wie schon bei Lenz, geht von einer solchen Meteorgestalt eine besondere Faszination aus, da sie für eine unmittelbare und authentische Verbindung von Leben und Werk steht. In dieser Faszination liegt aber auch die Gefahr einer Biographisierung sowie einer zu starken ›Einfühlung‹ in das Werk, der auch die vorliegende Darstellung nicht ganz entgeht.

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Auch die Forschungssituation zum 2007 verstorbenen Autor, die im Anhang des Bandes dokumentiert wird, ist noch die eines ›Meteors‹, d.h. ›spurenhaft‹. Es könnte besser um die Hilbig-Forschung stehen, trotz neuer Werkausgabe 2 , die in ihrem Gedicht- und Kurzprosa-Band bislang unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass enthält, aber als Leseausgabe für die wissenschaftliche Auseinanderaussetzung mit dem Werk nur einen vorläufigen Kompromiss darstellt. Zwar erscheinen gelegentlich neue Monographien − so zum Beispiel zu den Erzählungen 3 −, jedoch wirkt sich der Rückgang der Forschung zur DDR-Literatur auch auf Autoren wie Wolfgang Hilbig aus. Dessen Zuordnung zur literarischen Ostmoderne und zur Post-DDR-Literatur bewahrt ihn zwar vor dem allgemeinen Desinteresse, jedoch lässt sich vermuten, dass auch die Aufmerksamkeit für die Autoren der ›Post-DDR-Literatur‹ in den nächsten zwei Dekaden deutlich nachlassen wird. Bleibt die Zuordnung zur ›schwarzen‹, phantastischen Romantik 4 und zur (Ost-) Moderne, und es wird abzuwarten sein, wie sich hier die Hilbig-Forschung weiterentwickeln und neue Akzente setzen kann.

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Auch die allgemeinen Darstellungen zu Biographie und Werk befinden sich noch in einem vorläufigen Zustand. Bislang liegen ein Text+Kritik-Band, 5 ein Fischer-Materialienband 6 und seit 2008 eine »motivische Biographie« mit Zeitzeugen-Interviews im Anhang vor. 7 Insgesamt sind die allgemeinen Zugänge zu Hilbig noch stark vom Gestus einer regionalen und persönlichen ›Zeugenschaft‹ geprägt. 8 So wurde bei Karen Lohses schon ein Jahr nach Hilbigs Tod erschienener »motivischer Biographie« eine methodisch nicht ausreichend reflektierte Kurzschließung von Leben und Werk bemängelt 9 − eine Versuchung, der die Gattung der Autoren-Biographie freilich allgemein ausgesetzt ist, umso mehr aber, wenn sie sich einer ›echten‹ Meteorgestalt und ihrem Versprechen eines sich in der Literatur widerspiegelnden authentischen Leidens an der Wirklichkeit widmet.

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Auch Dahlkes Biographie ist von einer Suche nach Spuren von ›Zeugenschaft‹ geprägt. Nicht nur nach Seitenumfang, sondern vor allem im Grundgestus der sozial- und regionalgeschichtlichen ›Teilhabe‹ sowie der ›einfühlenden‹ Engführung von Leben und Werk sind Lohses und Dahlkes Darstellungen vergleichbar. In dieser Hinsicht stellt sich die berechtigte Frage, worin denn nun der Mehrwert des neuen Autorenporträts besteht? Wenn Lohse einen Schwerpunkt auf Leipzig setzt, so ist Dahlkes Porträt vielfältiger angelegt und in größere (Forschungs-) Kontexte eingebettet. Insgesamt profitiert es von Dahlkes langjährigen Forschungsschwerpunkten im Bereich der DDR-Literatur, die einen besonderen Akzent auf feministische bzw. gendertheoretische und literaturkommunikative Fragestellungen legen. 10 Auf ihrer Universitätshomepage kündigt die Verfasserin zum einen eine erweiterte Ausgabe der vorliegenden Biografie Hilbigs samt kommentierter Materialsammlung mit Dokumenten aus unterschiedlichen Archiven an, zum anderen eine um den Begriff der »literarischen Kommunikation« zentrierte Geschichte der DDR-Literatur, die »nach Modellen von Literatur in der Geschichte, nach in Metaphern, Rhetoriken und Narrativen gespeichertem historischem Wissen und deren aktuellem Potential« fragt. 11 Damit sind auch die Grundzüge des vorliegenden Porträts skizziert. Insgesamt lässt sich Dahlkes Vorgehen wohl am besten als eine ›teilnehmende Beobachtung‹, einer Art ethnographisch-ästhetischer Spurensuche charakterisieren.

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Teilnehmende Beobachtung I:
Der Zugang über das Regionale und die marginalen Formen

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Zu Recht wählt die Verfasserin den Zugang zu Leben und Werk Hilbigs über das Regionale und die marginalen Formen. Dabei ist der unterschwellige Leitbegriff einer »literarischen Kommunikation« stark von der Vorstellung einer »Zeugenschaft« geprägt, die mittels eines »Narrativ«-Begriffs umstandslos an die literarischen Erzählungen gekoppelt wird. So liegen dem Porträt vor allem autobiographische und literarische Selbstaussagen oder ›Erzählungen‹ über Hilbig von Lebensbegleitern, Freunden und Kollegen wie Natascha Wodin, Andreas Koziol, Kaja Lange-Müller oder Uwe Kolbe zugrunde. Ergänzt wird die Biographie von Fotografien mit einer eigenen ästhetischen Qualität: Gerahmt von zwei Fotos der verlassenen Schreibtische in der Metzer und der Rheinsberger Straße in Berlin von Herlinde Koelbl und Jürgen Bauer 12 , wird die ›narrative Spurensuche‹ von Fotos aus der Reihe »Wolfgang Hilbig in Meuselwitz« begleitet, die Dietrich Oltmanns 1983 mit dem damals noch weitgehend unbekannten Autor aufnahm.

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Neben den impliziten Leitbegriffen der »literarischen Kommunikation« und der narrativen »Zeugenschaft« ist das Autorenporträt deutlich an einem regionalen Zugriff auf die DDR-Literatur im Sinne Heukenkamps orientiert. 13 Mit detaillierten Kenntnissen werden einerseits lokale und regionale Kontexte skizziert, wie etwa die Anfänge von Hilbigs Schreiben ab 1964 in den offiziellen Arbeitsgruppen (im »Zirkel schreibender Eisenbahner«, der sich im nahe Meuselwitz gelegenen Altenburger Bahnhof traf, oder im »Zirkel schreibender Arbeiter« in Leipzig, in dem jedoch Arbeiter kaum vertreten waren), die inoffiziellen Künstler- und die persönlichen Freundeskreise in Meuselwitz und Leipzig (u.a. Siegmar Faust und Gert Neumann). Andererseits werden auch übergeordnete literaturgeschichtliche Verbindungslinien deutlich, zum Beispiel die Verbindung zur »Lyrikphase« in der DDR Anfang der sechziger Jahre, die Entwicklungen am Leipziger Literaturinstitut, die ersten Gedicht-Veröffentlichungen im Jahr der Biermann-Ausweisung in der von Carola Stern, Heinrich Böll und Günter Grass herausgegebenen westdeutschen Zeitschrift L 76, gefolgt vom Debütband abwesenheit im Fischer-Verlag 1979, der Hilbig schlagartig bekannt gemacht hat, die anschließende Förderung in der DDR durch Franz Fühmann oder das Verhältnis zur literarischen Prenzlauer Berg-Szene in den achtziger Jahren und zum westlichen Literaturbetrieb nach der Wende.

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Schließlich präsentiert Dahlke auch Detailinformationen aus Leipziger Stasi-Akten. 14 So stammt zum Beispiel ein erster Eintrag von der Volkspolizei aus dem Jahre 1973, weil Hilbig auf der Messe »vom Stand eines kapitalistischen Ausstellers« Virginia Woolfs Orlando gestohlen habe (S. 51). 1978 wurde Hilbig wegen angeblichen Verbrennens einer DDR-Fahne verhaftet, vergeblich angeworben und seitdem observiert. Ein weiterer Eintrag berichtet von seiner Teilnahme 1980 an einer inoffiziellen Lesung von Günter Grass in Frank-Wolf Matthies’ Privatwohnung. 1982 wurde Hilbig dann Gegenstand einer »Operativen Personenkontrolle« und es folgten die Querelen um die Druckgenehmigung des schließlich 1983 bei Reclam Leipzig ersten in der DDR erschienenen Lyrikbandes stimme stimme. Eine übersichtliche Zeittafel am Ende des Bandes versammelt diese und die anderen wichtigen Lebensstationen nochmals.

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Literarisch fokussiert wird der Autor Hilbig da, wo seine Stärken liegen: in der Lyrik und in den Erzählungen. Hier, in den kleinen literarischen Formen, kennt sich Dahlke gut aus, und die für das Porträt maßgeblichen Leitmotive und Narrative werden vor allem aus den Gedichten und Erzählungen gewonnen − die großen Romane werden auch thematisiert, aber nicht übermäßig. Hinzu kommen erhellende Einblicke in den Hilbig-Nachlass, der im Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt wird. Denn erst wenn man sich Hilbigs Handschriften vor Augen führt, wird seine Art zu schreiben, die Thomas Rosenlöcher als »rauschhaften Kampf« bezeichnet hat (S. 40), als modus operandi − der, im Unterschied zum opus operatum der ›Gestirne‹, die ›Meteore‹ auszeichnet − deutlich: So weist Dahlke auf die Vielzahl von Gedichtanfängen oder auf wiederholte und oft unabgeschlossene Überarbeitungen hin: »Unter dem Titel Asche beziehungsweise Vaterland der Asche finden sich allein 37 Varianten und Entwürfe in verschiedenen Mappen, alle auf losen Zetteln. […] Nur etwa 100 der 500 unveröffentlichten lyrischen Texte im Nachlass sind maschinen-geschrieben und tragen Signatur und Jahresangabe« (S. 41) als Zeichen dafür, dass der Autor sie als abgeschlossen betrachtet hat. Das Unabgeschlossene ist also auch für Hilbig kennzeichnend. 15

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Hilbig ist für Dahlke ein ›wortgewaltiger‹, ästhetisch kompromissloser, aber unpolitischer Schriftsteller. Seine vermeintlichen Schwächen – das Verfassen von Theorien, die kritischen Stellungnahmen zum Literaturbetrieb und zur Gesellschaft, wie sie vor allem im Band Abriss der Kritik (1995) vorliegen – werden daher weitgehend ausgeblendet bzw. nicht wirklich ernst genommen. Gesellschaftskritische oder politische Gedanken wie etwa die das gesamte Werk durchziehende Holocaust-Reflexion, die sich in einem bislang unveröffentlichten Text aus dem Nachlass mit dem Titel Eine Antwort verdichtet, 16 werden der gewählten Schwerpunktsetzung des Selbstbezuges und der ästhetisch gebrochenen Identitätskonstruktion untergeordnet (vgl. S. 26). Der Vorrang der ästhetischen Prägung des Lebens kann sich einerseits auf Hilbigs Selbstverständnis berufen, andererseits scheint sich hier noch ein Abwehrreflex auf die frühere, historisch-materialistische DDR-Literaturwissenschaft bemerkbar zu machen, die die Literatur mehr oder weniger direkt aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ableitete − eine Revision, für die Emmerichs Überarbeitung seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR nach der Wende exemplarisch war. 17 Einerseits rücken damit das literarische Werk und seine Ästhetik in den Mittelpunkt, andererseits tritt an die Stelle einer unmittelbaren Soziologisierung eine ebenfalls problematische Psychologisierung. Denn eine der impliziten Leitthesen Dahlkes lautet, dass die das bisherige Hilbig-Bild prägenden Konflikte zwischen einer Arbeiter- und Schriftsteller-Existenz in der DDR, zwischen Künstler und Staat oder zwischen Ost- und West-Deutschland letztlich nur eine nachgeordnete Bedeutung haben, während die zentrale Antriebskraft für Hilbigs wortmächtiges und ›kompromissloses‹ Schreiben in einem biographisch-psychologisch grundgelegten ›Narrativ‹ zu suchen sei.

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Teilnehmende Beobachtung II:
Die Spurensuche nach sich selbst

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Das Problem, literarische Texte als biographische Quellen zu lesen, wird von Dahlke zwar zur Sprache gebracht (S. 8), jedoch entwickelt sie wie schon Lohses »motivische Biographie« keine methodisch klare Antwort darauf. 18 Sie unterscheidet zwischen einer »inneren« und einer »äußeren« Biographie Hilbig (S. 8), deren Wechselverhältnis für sie in Form von »Prägungen« und »Spuren im Text« lesbar wird (vgl. S. 14, 22, 23 u.ö.). Für ihre Lesart beruft sie sich auf Hilbig selbst, der »der Literatur trotz der erwähnten Einschränkung wohl auch als biografischer Quelle mehr zu[traute] als der ›Gläubigkeit, mit der Biografen auf die äußeren Lebensumstände starren‹«, wie Dahlke aus einem bislang unveröffentlichten »Schlüsseltext über Kafka« zitiert (S. 18 f.). 19

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Dahlke geht also mit Hilbig von der »ästhetischen Durchdringung seiner Biografie« aus (S. 115) und formuliert entsprechende Leitfragen:

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Was hat es mit den Kellern, Katakomben, Halden und versehrten Industrielandschaften auf sich, die Hilbigs Textlandschaften prägen? Welche Erfahrungen grundieren die Texte und lassen das Schweigen, das Verschwinden und die Müdigkeit zu deren bestimmenden Koordinaten werden? Woher stammt die archaisch anmutende Sprachwucht? Warum herrscht ein Sprechen aus der Ich-Perspektive vor? (S. 8)
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Auch die einzelnen Kapitelüberschriften der Biographie zeugen von einem fließenden Wechsel zwischen Leben und Werk, da sie einerseits Lebensstationen benennen, andererseits aus Titeln von Gedichten und Erzählungen bestehen. So ist das letzte Kapitel mit dem Titel der letzten, fragmentarisch gebliebenen Erzählung Die Nacht am Ende der Straße von 2005 überschrieben − eine Erzählung, der Katja Lange-Müller im Nachwort zum Erzählband eine Schlüsselfunktion zugeordnet hat, da sie in ihr ein »Nachwort in eigener Sache oder gar« einen »Nachruf, beileibe kein[en] freundliche[en], auf sich selbst« erkennt. 20

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Der Einstieg in das Autorenporträt erfolgt über eine feinsinnige Detailinterpretation des Gedichts »diese von lichtahnen überkommene nacht« (1981). 21 Das hieraus gewonnene Motiv der »Leerstelle des Vaters« (S. 9) dient Dahlke als Ausgangspunkt und Leitfaden für ihre weitere, psychologisch-ästhetische Lesart von Leben und Werk. So verketten sich mit der grundlegenden »Abwesenheit des Vaters« die »Leerstellen seiner familiären Geschichte« (S. 10), das »Fehlen von Erinnerungen« (S. 11; mit Bezug auf die Erzählung Die Erinnerungen, 1996) und das »Motiv des Verschwindens von Menschen« (S. 12). Aus Begrenztheit und Dunkelheit der Herkunft entstehen die Suche nach Erinnerungen und das Schreiben als innere Notwendigkeit. Als Leitperspektive zeichnet sich ab, dass sich Hilbig »auch in seinen Romanen und Erzählungen vor allem auf die Suche nach sich selbst« begeben habe (S. 18). Dabei entwickelt die Verfasserin keine Metasprache, sondern nimmt mit der anfänglichen Gedichtinterpretation eine lyrisch-metaphorische Objektsprache an. 22 So wird ein für Hilbig charakteristischer Zusammenhang zwischen dem ›Begehren nach Licht‹ und der ›Lust an der Schwärze‹ suggestiv-metaphorisch in der Frage hergestellt, ob »in dem Wunsch, schreibend die ›vaterlose Finsternis‹ frühkindlicher Prägung aufzuhellen, die Melancholie seiner Lyrik und Prosa begründet« sei (S. 23).

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Aus den psychologisch-ästhetisch ›aufgelesenen‹ Negativ-Spuren generieren sich die für Hilbig typischen ›Textlandschaften‹ (Keller, Müllhalden, Ruinen, Blick von unten) und mit ihnen die Schuld-, Ekelgefühle und Abwehrstimmungen. Denn »der dauernde Umgang mit dem Material der Vergangenheit« hinterlässt einerseits Gestank und Ekel, andererseits ist »das Gefühl, auf verbrauchter Materie zu gehen, auf ausgebrannten Stoffen, auf Schlacken, auf Asche, auf Abraum«, wie es in der Erzählung Die Kunde von den Bäumen heißt (1994), für den verstummten Außenseiter die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt schreiben zu können (vgl. S. 14). Die »Schuld des Schreibens« sei schließlich ein »Lebensthema« Hilbigs gewesen, wie Dahlke die Schriftstellerin Natascha Wodin, die von 1994 bis 2002 mit ihm verheiratet war, zitiert (vgl. S. 21).

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Diese Grundmerkmale von Leben und Werk werden schließlich durch einen gendertheoretischen Fokus produktiv vertieft. Denn den »abwesenden Vätern« steht bei Hilbig eine »Übermacht an Frauen« gegenüber, wie Dahlke mit Hinweis auf die Erzählung Kommen (1986) anmerkt und auf sein Leben überträgt: »Der erfolgreiche Schriftsteller wird später wie selbstverständlich davon ausgehen, dass man mit dem Schreiben Anerkennung beim anderen Geschlecht suche« (S. 17). Die ›Abwesenheit‹ Hilbigs, sein Kampf um Rechtfertigung als Schriftsteller hat also nach Dahlkes Deutung einen genderspezifischen Aspekt, denn das prometheische Arbeiter-Bild in der DDR, die schweißtreibende körperliche Arbeit, war bekanntlich männlich kodiert, während das reproduzierende Schreiben am Küchentisch, zumal das Schreiben von kleinen Erzählungen und Gedichten, als ›weibliche‹ Tätigkeit galt (vgl. S. 47). Dahlke weist hier auf Zusammenhänge, die es weiter zu verfolgen gilt: das ambivalente Verhältnis einerseits zum (männlich-autoritären) Staat − die Selbstbehauptung ihm gegenüber als Schriftsteller in Form eines ›weiblichen‹ Widerstandes, der den Blick auf die ›Nachtseiten‹ der Gesellschaft und des Subjekts lenkt − und andererseits zu einer Leserschaft, die von Hilbig als ›weibliche‹ Rechtfertigungsinstanz imaginiert wurde (vgl. S. 17). Diese ›weibliche‹ Rechtfertigung, die Meteor-Gestalten und ihr ›weibliches Schreiben‹ erfahren, wird denn auch Hilbig in Dahlkes (wie auch Lohses oder Lange-Müllers) Autor-Darstellung zuteil, und es wäre einmal interessant, die spezifische Besetzung der ›weiblichen‹ Rezeption Hilbigs auf einer Metaebene zu untersuchen. 23

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Fazit: Die Libido objektivieren

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Das neue Autorenporträt Hilbigs von Birgit Dahlke ist das Mischprodukt einer teilnehmenden Beobachtung. Analog zur Werkausgabe, die ein Kompromiss zwischen Lese- und wissenschaftlichen Ausgabe ist, spiegelt Dahlkes Porträt einen Zwischenzustand wider: eine produktive und zugleich verstellende Grundlage, das ›Spurenhafte‹ des Autors Hilbigs zu verstehen. Verstellend ist die Versuchung einer ›Teilnahme‹ an einem aus ›echtem‹ Leiden entstandenen Schreiben mittels eines unbestimmten Begriffes von ›literarischer Kommunikation‹, der ein nicht ausreichend reflektiertes Oszillieren zwischen Werk und Leben einerseits sowie Werk und Rezeption erlaubt. Der ›individuelle‹ Wert des Schreibens, seine Libido oder literarische Triebkraft, gewinnt analytisch gesehen eben nicht durch dessen Doppelung von Seiten der Interpretin. Wenn die Hilbig-Forschung über das Stadium der teilnehmenden, sich identifizierenden ›Zeugenschaft‹ hinauskommen möchte, gälte es vielmehr, die Libido des ›Einzigartigen‹ zu objektivieren, d.h. sie in methodisch kontrollierte Verhältnisse zu überführen. So wäre das ›Innerste‹ desjenigen, der stets auf Distanz blieb, eben nicht mit Nähe, sondern selbst mit einer wissenschaftlich reflektierten Distanz zu durchdringen.

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Dieser zweite Schritt hätte sich zum Beispiel Hilbigs Streben nach Rechtfertigung jenseits einer rein psychologischen Lesart der Vatersuche einerseits und einer rein gesellschaftlichen Ableitung eines Schriftstellers proletarischer Herkunft andererseits analytisch zu stellen. Des Weiteren wären Hilbigs Auschwitz-Reflexionen, seine Kritik des Literaturbetriebs nach der Wende wie auch des Einflusses der poststrukturalistischen Theorien auf die Literatur oder sein im Provisorium-Roman (2001) zum Ausdruck gebrachtes Gefühl eines Zusammenhangs zwischen dem Untergang der Arbeiter und dem Untergang der Dichter nicht allein auf einen Selbstbezug zurückzuführen, sondern in einer neuen Weise gesellschaftlich-politisch lesbar zu machen − dies jedoch in einem anderen, gegebenenfalls auch ›gegen den Autor gebürsteten‹ Sinne. Schließlich wäre das ›unvergleichbare‹, kompromisslose‹, sich auf existentielles Leiden beziehende und zugleich literarisch erfolgreiche Schreiben in Verbindung zu vergleichbaren Fällen wie vor allem Reinhard Jirgl zu setzen.

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Für eine solche, die literarische Libido nicht reproduzierende, sondern objektivierende Hilbig-Forschung bietet andererseits Dahlkes Darstellung bereits die Grundlagen: die genaue Kenntnis des Nachlasses, der Produktions- und Rezeptionsprozesse, der literatur- und sozialgeschichtlichen Kontexte sowie dichte Textinterpretationen, die durch eine methodische Distanzierungsbewegung die historische Möglichkeit einer ›echten‹ Meteor-Gestalt verstehbar machen.

 
 

Anmerkungen

Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, 10. Buch.   zurück
Wolfgang Hilbig: Werke. Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt/M.: S. Fischer 2008 ff. [7 Bde., im Folgenden: WHW]   zurück
André Steiner: Das narrative Selbst. Studien zum Erzählwerk Wolfgang Hilbigs. Erzählungen 1979−1991. Romane 1989−2000. (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Band 1970) Frankfurt/M.: Lang 2008.    zurück
Vgl. Beatrix Stan: Poesie des Untergangs – Untergang der Poesie? Ein komparatistischer Versuch über die apokalyptische Bilderwelt im lyrischen Werk Wolfgang Hilbigs und Edgar Allan Poes. Diss. masch. Essen 1999.   zurück
Frauke Meyer-Gosau (Red.): Wolfgang Hilbig. Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Band 12, 3. Juli 1994. München: Boorberg 1994.    zurück
Uwe Wittstock (Hg.): Wolfgang Hilbig. Materialien zu Leben und Werk. (Informationen und Materialien zur Literatur, Bd. 12253) Frankfurt/M.: Fischer 1994.    zurück
Karen Lohse: Wolfgang Hilbig. Eine motivische Biographie. Leipzig 2008.   zurück
Vgl. Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler und Oliver Vogel (Hg.): Wolfgang Hilbig. Beiträge von Marcel Beyer, Patrick Findeis, Wolfgang Hilbig, Jürgen Hosemann, Uwe Kolbe, Claudia Rusch, Ingo Schulze, Lutz Seiler. (Neue Rundschau, Bd. 119, 2008, H. 2) Frankfurt/M.: Fischer 2008, Michael Buselmeier (Hg.): Erinnerungen an Wolfgang Hilbig. Mit Beiträgen von Michael Buselmeier, Karl Corino, Jürgen Hosemann, Jayne-Ann Igel, Wulf Kirsten, Uwe Kolbe, Ingo Schulze und Natascha Wodin. (Edition Künstlerhaus, Bd. 26) Heidelberg: Wunderhorn 2008.   zurück
Vgl. Jörg Schuster: Wolfgang Hilbigs Zwischenwelten. Eine »motivische Biografie« von Karen Lohse. In: literaturkritik.de. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12162 (28.08.2011).   zurück
10 
Vgl. Birgit Dahlke: Papierboot. Autorinnen aus der DDR − inoffiziell publiziert. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997.   zurück
11 
12 
Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. München: Knesebeck 1998, S. 200–205. Zu Jürgen Bauer werden keine Angaben gemacht.   zurück
13 
Vgl. Ursula Heukenkamp: Ortsgebundenheit. Die DDR-Literatur als Variante des Regionalismus in der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Weimarer Beiträge 42 (1996) H. 1, S. 30–51.   zurück
14 
BStU, MfS, AOPK Leipzig, NR. 302/88.   zurück
15 
Zum Gedicht das meer in sachsen bemerkt Dahlke etwas emphatisch: »Geöffnete, aber nie geschlossene Klammern im Text weisen auf den rein rhetorischen Charakter des Gedankenspiels vom Aufbegehren gegen die angeblich gottgewollte Ordnung hin, mehrfach werden Varianten einer anderen Natur- und Sozialgeschichte angedacht, nie werden sie zu Ende geführt.« (S. 59)   zurück
16 
Akademie der Künste Berlin, Wolfgang-Hilbig-Archiv, Nr. 83.   zurück
17 
Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Aufbau 1995 (bes. das Einleitungskapitel: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man die Geschichte der DDR-Literatur?«)   zurück
18 
»Nicht im Detail, sondern in der Gestimmtheit des Grundtons bieten die literarischen Arbeiten Aufschluss über ihren Autor.« (S. 18)   zurück
19 
Wolfgang Hilbig: Vorblick auf Kafka (1992). Akademie der Künste, Berlin, Wolfgang-Hilbig-Archiv, Nr. 275, S. 2.   zurück
20 
WHW 2, S. 755.   zurück
21 
WHW 1, S. 116.   zurück
22 
»Auch wenn die Suche nach Vaterbild und Vaterstimme eher verhalten artikuliert wird, diese Finsternis verschattet Hilbigs gesamtes Werk« (S. 10).   zurück
23 
So drückt sich die persönliche Teilnahme in der Danksagung an »Kollegen und Kolleginnen, Lektoren, Freundinnen und Freunde, Vertraute oder Geliebte« aus, die die Verfasserin aufsuchte, um anhand ihrer Erzählungen das Porträt Hilbigs zeichnen zu können: »So sehr sich die Erfahrungen mit dem Menschen, Mann und Dichter voneinander unterscheiden mögen, das Verständnis für dessen verlorene Art, in der Welt zu sein, prägte sämtliche Erzählungen« (S. 143). Auch im Nachwort zum zweiten Band der Werkausgabe erfährt Hilbig als Dichter eine ›weibliche‹ Rechtfertigung durch Katja Lange-Müller, die sich ›ergriffen‹ zeigt von der Lektüre der Erzählungen, insbesondere von denen, die vom Scheitern handeln.   zurück