IASLonline

Wie wird mathematisches Wissen kommuniziert?

  • Volker R. Remmert / Ute Schneider: Eine Disziplin und ihre Verleger. Disziplinkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949. (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 4) Bielefeld: transcript 2010. 340 S. Paperback. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-8376-1517-3.
[1] 

Den beiden Autoren ist zunächst für das vorgelegte Werk in zweifacher Hinsicht uneingeschränkt Respekt und Anerkennung zu zollen: Zum einen für die Fülle an präsentiertem Material, zum anderen für den Mut, den Versuch zu wagen, die verschiedenen Sichtweisen auf das Thema zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen, ungeachtet der dabei unvermeidlichen Straffungen und Kürzungen in der Darstellung. Dieser Versuch ist zweifellos sehr gut gelungen.

[2] 

Ausgangspunkte der Studie

[3] 

Die fundamentale Bedeutung einer gut funktionierenden wissenschaftlichen Kommunikation für die Entwicklung einer Disziplin ist allgemein anerkannt, doch ist der Kommunikationsprozess, also die Frage wie und in welcher Form neues Wissen in einer größeren Öffentlichkeit verbreitet wird, bisher nicht systematisch untersucht worden. Erst in jüngster Zeit sind Fragen des wissenschaftlichen Publizierens, der Herausbildung und Entwicklung wissenschaftlicher Verlage und der Korrelationen zwischen der Entwicklung einzelner Disziplinen und dem Publikationswesen stärker in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Ute Schneider und Volker Remmert haben in mehreren Arbeiten dieses Neuland betreten und am Beispiel der Mathematik verschiedene Aspekte dieser Wechselbeziehungen zwischen Disziplinentwicklung und Publikationswesen aufgeklärt. Die Wahl der Mathematik ist dabei durch deren Doppelrolle als eigenständige Disziplin und als Ressource anderer Disziplinen – von den Natur- und Technikwissenschaften bis zu den Geistes- und Sozialwissenschaften – sowie den sich daraus ergebenden zwei Buchmärkten motiviert. Als leitende Fragestellungen der vorliegenden Studie formulieren sie die folgenden: Warum engagieren Verleger sich im mathematischen Markt? Welche Rolle spielt das mathematische Publikationswesen für die Disziplinenentwicklung? (S. 10) Daraus ergeben sich einleitend dann eine Reihe weiterer Fragen, wie die nach den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für ein reibungslos funktionierendes Publikationswesen, die kurz skizziert werden und zugleich einen Hinweis auf die Aufteilung der nachfolgenden Kapiteln liefern.

[4] 

Die gespaltene Gemeinschaft der Mathematiker
und ihre Verlage

[5] 

Die Autoren eröffnen ihre Darlegungen im zweiten Kapitel mit einer Analyse der beiden tragenden Säulen des ganzen Buches, den als Forscher und Universitätslehrer tätigen Mathematikern und den auf dem Gebiet der Mathematik agierenden Verlegern nebst ihren Verlagen. In beiden Fällen war die Anzahl in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch überschaubar bzw. klein. Trotz ihrer geringen Größe war die Gruppe der Mathematiker durch innere Rivalitäten, die insbesondere auf unterschiedlichen Auffassungen zur Mathematik basierten, gekennzeichnet und zerfiel in mehrere Teile mit Berlin und Göttingen als den beiden Kristallisationspunkten. Diese Rivalität schlug sich auch in der Verlagslandschaft nieder, da beide Gruppen sich bei den Publikationen auf bestimmte Verlage und Zeitschriften konzentrierten bzw. die Gründung der Zeitschriften selbst initiierten. Überlagert wurde dieser Prozess von einer expandierenden Buchproduktion, der Neugründung zahlreicher Verlage und einer Spezialisierung der Verlage durch die Konzentration der Verlagsprogramme auf inhaltliche Schwerpunkte. Dies aber korrelierte wiederum mit dem raschen Aufschwung der Wissenschaften, mit der Herausbildung einzelner Disziplinen, der Entstehung neuer Forschungsgebiete usw. Die Nennung der verschiedenen ineinander greifenden Prozesse macht zugleich ein unvermeidbares Grundproblem der Darstellung deutlich: Die einzelnen Entwicklungen können nicht im Detail beschrieben werden. Es gilt vielmehr deren Grundzüge so prägnant herauszuarbeiten, dass der interessierte, uneingeweihte Leser genügend Informationen erhält, um die Argumentationen der Autoren zu den Veränderungen im Kommunikationsprozess nachvollziehen zu können. Fehlende Detailkenntnisse, etwa welche Forschungsthemen die ›Göttinger und Berliner Mathematiker‹ bearbeiteten und worin sich ihre Auffassungen zur Mathematik unterschieden, muss der Leser sich in der angegebenen Literatur selbst aneignen. Dies ist angesichts der verschiedenen Annäherung an das Thema seitens der Mathematikgeschichte und der Buchwissenschaft sowie der jeweiligen Materialfülle eine schwierige Aufgabe, die wie bereits bemerkt von Remmert und Schneider gut gelöst wurde, unabhängig davon, ob man in jedem Fall der Konturierung im Detail zustimmt.

[6] 

Veränderungen in den Bedingungen
für mathematisches Publizieren

[7] 

Nach einem Überblick über die um 1870 existierenden mathematischen Zeitschriften und die wichtigen, mit mathematischen Publikationen hervortretenden Verlage sowie deren Veränderungen bis zur Jahrhundertwende umreißen die Autoren einige Aspekte, die das Interesse und die Motive der Verlage sich auf dem mathematischen Publikationsmarkt zu engagieren, bestimmten, und beschreiben die Veränderungen, die sich hinsichtlich der Lage der Mathematik in Deutschland in der 1890er Jahren vollzogen. Neben dem zahlenmäßigen Anwachsen der Mathematik treibenden bzw. konsumierenden Klientel und deren Organisation in der Deutschen Mathematiker-Vereinigung stehen dabei die Auseinandersetzungen im Mittelpunkt, welches mathematisches Wissen in den nichtmathematischen Disziplinen benötigt wird und folglich gelehrt werden sollte. Für die Verlage resultierte daraus die Frage, welches mathematische Wissen wie in »Arbeitswissen« für Praktiker zu transformieren ist und wie dem Ruf nach speziellen Lehrbüchern für die verschiedenen Fachrichtungen genügt werden konnte. Diese Erörterungen lassen die Dimension des »zweiten mathematischen Buchmarktes« deutlich hervortreten.

[8] 

Den von ihnen skizzierten Spannungsbogen erweitern die Autoren im folgenden Kapitel nochmals und widmen sich eingehend der aus der durch die zunehmende Spezialisierung infrage gestellten Einheit der Mathematik erwachsenden Verunsicherung der Mathematiker am Beginn des 20. Jahrhunderts und der daraus resultierenden Aufgabe, die Rolle der Mathematik in der Kultur neu zu bestimmen. Ob aber ein nicht mit der Mathematikentwicklung jener Zeit vertrauter Leser diese Verunsicherung nachvollziehen kann, muss trotz der zahlreich angeführten Belege offen bleiben. Anknüpfend an eine Analyse von Michael Cahn zur Bedeutung der bisher wenig beachteten Edition von ausgewählten oder gesammelten Werken einzelner Wissenschaftler 1 behandeln Remmert und Schneider die bis zum Ersten Weltkrieg begonnenen und teilweise abgeschlossenen Werkausgaben von deutschen Mathematikern. Darüber hinaus werden die Publikation von Lehrbüchern, Übersetzungen wie Neuschöpfungen, und deren Bedeutung für die Disziplin zur Positionsbestimmung der Mathematik herangezogen, was folgerichtig zur Analyse verschiedener Lehrbuchreihen und deren Entwicklung führt. Diese Publikationsformen eigneten sich nicht nur dazu, die Einheit der Mathematik zu unterstreichen, sondern erfüllten nach Remmert und Schneider zugleich die Aufgabe, sich vom Ausland abzugrenzen und deutsche Leistungen zu betonen.

[9] 

Aufstieg und Fall
mathematischer Verlage in Deutschland

[10] 

Nachdem bisher die Attraktivität des mathematischen Marktes aus Sicht der Mathematikentwicklung dargelegt wurde, wechseln die Autoren nun die Perspektive und analysieren vom Standpunkt der Verleger und ihrer gegenseitigen Konkurrenz die Veränderungen der Verlagslandschaft in zwei Schritten, zunächst bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (Kap. 4), dann bis zum Beginn der 1930er Jahre (Kap. 6). Markante Vorgänge sind hierbei der Aufstieg des Teubner Verlages zu einer Markt beherrschenden Stellung sowie ab 1916 dessen Rückzug aus dem mathematischen Terrain und Konzentration auf die Schulbuchproduktion, die schwierige wirtschaftliche Situation der Verlage nach dem Erste Weltkrieg und die Überwindung dieser Krise sowie das Auftreten verschiedener Konkurrenten auf dem mathematischen Markt und das rasche Erobern der Marktführerschaft durch den Springer Verlag. Am Fall des Teubner Verlages verdeutlichen Remmert und Schneider klar sowohl die verschiedenen Faktoren für den Aufschwung des Unternehmens, insbesondere das Zusammenspiel wissenschaftspolitischer und verlagsökonomischer Interessen, als auch die negativen Auswirkungen, wenn etwa die wirtschaftliche Seite nicht genügend beachtet wurde. An dieser Stelle wäre eine ausführlichere Argumentation wünschenswert, steht doch die Einschätzung von Giesecke-Teubner, dass das Verlegen von mathematischen und technischen Werken im Vergleich zur Schulbuchproduktion weniger lukrativ und wirtschaftlich schwankungsanfälliger sei, den Ansichten und dem erfolgreichen Operieren von Springer gegenüber. Das in diesem Zusammenhang behandelte erfolgreiche Agieren von Ackermann-Teubner und Ferdinand Springer d. J. bildet zugleich ein schönes Beispiel für die Bedeutung eines guten kommunikativen Netzes für die Verlagstätigkeit und für mögliche Einflüsse der Verlage auf die Wissenschaften. Der Institutionalisierung eines vertraglich mit dem Verlag verbundenen wissenschaftlichen Beraters zur Beobachtung und Einschätzung des Marktes sowie zur Sicherung eines langfristigen bedarfsgerechten Verlagsprogramms ist dabei ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Verbindung von R. Courant mit dem Springer Verlag repräsentiert hier die wohl mustergültige Entwicklung der Beratertätigkeit, an der die Autoren wichtige Beratereigenschaften exemplarisch herausarbeiten. Immer wieder tritt die Lösung des Problems, welches Wissen für wen in welcher Form kommunizierbar gemacht werden kann, als zentrale Aufgabe des Beraters in den Vordergrund.

[11] 

Verlage im veränderten gesellschaftlichen Umfeld

[12] 

Der Aufstieg des Springer Verlages, das Auftreten weiterer Verlage auf dem mathematischen Markt und die Etablierung des wissenschaftlichen Beraters waren die zentralen Merkmale der Umwälzung im mathematischen Publikationswesen in Deutschland am Beginn der 1920er Jahre. Eingehend widmen sich Remmert und Schneider schließlich den politischen Rahmenbedingungen und den staatlichen Interessen, die das mathematische Publikationswesen beeinflussten und die etwa seit den 1920er Jahren stärker zur Geltung kamen. Sie skizzieren die von verschiedenen Seiten artikulierte kulturpolitische Dimension der Aufgabe, die wissenschaftliche Buch- und Zeitschriftenproduktion in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg durch staatliche Unterstützung funktions- und konkurrenzfähig zu erhalten, und schildern die bereits frühzeitig einsetzenden Bemühungen zur Lösung dieser Aufgabe, speziell im Rahmen der »Notgemeinschaft für die deutschen Wissenschaft«, sowie die kontroverse Beurteilung der Förderpolitik durch die einzelnen Verlage. Gravierend waren besonders die Rückgänge im Export wissenschaftlicher Bücher und Zeitschriften, der sich im Jahrzehnt nach 1913 mehr als halbierte. Da die Verlage meist die im Export erzielten Gewinne benötigten, um die Gesamtbilanz der Produktion auszugleichen, kam dem Erhalt bzw. der Steigerung des Exports auch eine große wirtschaftliche Bedeutung zu. Dieses Problem erhielt in der Zeit des Nationalsozialismus ein noch größeres Gewicht, da durch die Entlassung und Vertreibung jüdischer und politisch unliebsamer Wissenschaftler sowie den dramatischen Rückgang der Studentenzahlen der Absatz im Inland stark eingeschränkt wurde. Außerdem unterlag die Arbeit der Verlage zahlreichen weiteren politischen Maßnahmen, die vom Umgang mit jüdischen Autoren und Herausgebern, den Versuchen zu einer Neuordnung der mathematischen Zeitschriften und zur Reorganisation des mathematischen Referatewesens bis zur Bereitstellung kriegswichtiger Literatur und den »Lehrbuchaktionen« (1943/44) zur Deckung des Lehrbuchbedarfs reichten. Die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen prägen auch den schleppenden Neubeginn im mathematischen Publizieren nach dem zweiten Weltkrieg, dessen Schwierigkeiten sich die Autoren abschließend widmen. Mathematische Inhalte am Rande lassend, vermitteln sie einen Eindruck von dem dabei zu Tage tretenden Wechselspiel der Interessen der Mathematiker und Verleger, beschreiben die Versuche alter und neuer Verlage, auf dem mathematischen Markt Fuß zu fassen u. a. durch Rückgriff auf die alten Eliten, wie auch die Bemühungen verschiedener Mathematiker, ihre Verbindungen zu Verlegern für eigne Interessen zu nutzen.

[13] 

Fazit

[14] 

Als Fazit ihrer Analysen konstatieren Remmert und Schneider, dass »die Funktion des wissenschaftlichen Publikationswesens weit über die reine Vermittlung von Wissensbeständen und Erkenntnissen hinausgeht« und es »auch der Kontrolle und Machtausübung innerhalb einer Disziplin« (S. 303) dient. Für die Stabilität und die Expansion der Disziplin ist die konstant reibungslose Funktion dieses Systems unabdingbar. Daraus erklärt sich auch das Interesse der Fachvertreter an der Professionalisierung und einer gewissen Steuerung des Publikationswesens, in dem sich wiederum die Expansion und Strukturänderungen der Disziplin niederschlagen. (S.304 f.)

[15] 

Mit dem vorliegenden Buch setzen die Autoren einen ersten Schlusspunkt unter ihre mehrjährigen Forschungen, mit denen sie das Gebiet des wissenschaftlichen Publizierens in Deutschland am Beispiel der Mathematik erschlossen und eine Fülle von Ergebnissen vorgelegt haben. Sie betonen zu Recht den vorläufigen Charakter ihres Fazits, das durch weitere Analysen sowohl für andere Länder bzw. Sprachräume als auch für andere Disziplinen bestätigt bzw. gegebenenfalls modifiziert werden muss. Für diese weiteren Studien haben sie am Beispiel der Mathematik und der deutschen Verlagslandschaft bei aller Spezifik des Einzelfalles eine Vielzahl von zu untersuchenden Aspekten und Fragestellungen aufgezeigt und damit wertvolle Anregungen für die weitere Arbeit geliefert. Hinsichtlich der Fragen der Disziplinengenese wird man dabei neben dem Arbeiten von R. Stichweh auch die von H. Laitko und M. Guntau durchgeführten bzw. von ihnen angeregten Forschungen heranziehen, die ein breites Disziplinenspektrum erfassen 2 . Es bleibt zu hoffen, dass durch das hier geöffnete Tor weitere Forscher nachströmen, um das interessante interdisziplinäre Wechselspiel zwischen Buchwissenschaft und Disziplinentwicklung im Prozess des wissenschaftlichern Kommunizierens weiter aufzuklären.

 
 

Anmerkungen

Michael Cahn: Wissenschaft als Medium der Typographie. Collected Papers aus Cambridge, 1880–1910. In: Meinel, Christoph (Hg.): Fachschrifttum, Bibliothek und Naturwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz 1997 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 27), S. 175 - 208. Ders.: Opera omnia. The Production of Cultural Authorithy. In: Karine Chemla (ed.): History of Science. History of Text. Dordrecht: Springer 2004 (Boston Studies in the Philosophy of Science, 238), S. 81 - 94.   zurück
Stellvertretend sei hier verwiesen auf Martin Guntau / Hubert Laitko (Hg.): Der Ursprung der modernen Wissenschaften: Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen. Berlin: Akademie-Verlag 1987.   zurück