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Aesthetic turn?

Von der Imagination ins Unbewusste sowie den Ausprägungen dieser Wende um 1800 und 1900

  • Markus Dauss / Ralf Haekel (Hg.): Leib/Seele. Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. (Stiftung für Romantikforschung XLI) Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. 360 S. Kartoniert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3649-1.
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Vermittlung und Desintegration:
Zum ideengeschichtlichen Hintergrund
der modernen Ästhetik

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Die moderne Ästhetik und ebenso die Künste der Moderne beginnen in einigen der prominenten ihrer Entwürfe seit Baumgarten als Grenzdisziplinen. Man hat ihnen Vermittlungspositionen zugeschrieben, die in verschiedener Weise ausbuchstabiert und problematisiert worden sind: Kant beanspruchte für seine Kritik der Urteilskraft, dass sie eine Brücke bilde zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. 1 Schiller erläutert in seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen die These, dass man, um das Problem der Freiheit im Politischen zu lösen, erst den Weg durch das Ästhetische nehmen müsse. 2 Schiller entwickelt in diesem Zusammenhang das Theorem des Spieltriebs als einem Dritten, das zwischen Form- und Stofftrieb vermitteln soll, um den Menschen zur Freiheit zu erziehen. 3 Schelling sah in der Kunst eine gelingende Vermittlung zwischen der bewussten sowie der unbewussten Anstrengung des Kunstschaffenden. 4

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Hegel schließlich sieht die Kunst zwischen Subjektivität und Objektivität vermitteln 5 , spricht aber, so jedenfalls will es das hartnäckige Gerücht 6 , zugleich schon vom Ende der Kunst. Damit allerdings löst er einen Deutungssturm aus, in dessen Zentrum man die Frage sehen kann, ob im Ende Vergangenes bedeutet oder aber die Zukunft prophezeit sei; der modernen Kunst lässt sich in dieser Konzeption die Funktion zusprechen, zwischen Ende und Anfang zu vermitteln, was sie allerdings, im Gegensatz zur klassischen Kunstform, eben gerade nicht mehr zu leisten vermag. Indem die Philosophie diesen Funktionsverlust kompensieren soll, ist, so ließe sich Hegels Stellung ideengeschichtlich deuten, endgültig Ästhetik als Philosophie der Kunst geboren.

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Die oben skizzierte Vermittlungstendenz umkehrend jedoch macht der im Folgenden rezensierte, von Markus Dauss und Ralf Haekel herausgegebene Band deutlich, dass der Leib-Seele- sowie der Geist-Buchstabe-Dualismus die Ästhetik und die Künste der Moderne intern spalten. Die Wahl der Jahrhundertwechsel vom 18. ins 19. sowie vom 19. hinüber ins 20. Jahrhundert markiert dabei eine durchaus bemerkenswerte Lücke um das Jahr 2000. Diese allerdings ist nicht den Herausgebern anzulasten, sondern verweist vielmehr auf eine eigentümliche historische Konstellation: Nach den zahlreichen prominenteren turns der letzten Jahre und Jahrzehnte, etwa dem performative, spatial, iconic oder zuletzt dem ethical turn, mag es überraschen, dass ein aesthetic turn, trotz einer Hochphase eines sich als ästhetisch verstehenden Denkens in der sogenannten Postmoderne, bislang nicht gleichermaßen spruchreif wurde.

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Zwar haben die vergangenen Jahre einige einschlägige Publikationen zum Schönen hervorgebracht. 7 Verglichen mit den erwähnten turns nehmen sich diese allerdings eher zurückhaltend aus. Fast scheint es, als habe das auf Hegel zurückgehende Gerücht vom Ende der Kunst einen aesthetic turn dauerhaft unwahrscheinlich gemacht. Auch die Jahrtausendwende hat daran nichts geändert: Wer würde etwa ernsthaft das Ende vom Ende der Kunst einleiten wollen?

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Der Gegenvorschlag: Eine zeichen- und
medientheoretisch konzipierte Anthropologie.

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Die Herausgeber Markus Dauss und Ralf Haekel jedenfalls hüten sich, in diese Kerbe zu schlagen. Mehr noch, sie vermeiden es ganz, die deutsche ästhetische Tradition, wie sie prominent seit Baumgarten durch die genannten Kant, Schiller, Schelling, Hegel und viele andere vertreten ist, als konzeptionellen Ausgangspunkt ihres Bandes zu nehmen. Ganz im Gegenteil werden die frühen Gewährsleute dieser Tradition in der Einleitung nur ganz am Rande thematisiert. Was man aus ideengeschichtlicher Perspektive allerdings als kaum erklärlichen, schweren Fauxpas kritisieren müsste, erhält im Rahmen der historisch-systematischen Ausrichtung, die Dauss und Haekel dagegen vorschlagen, eine äußerst reizvolle konzeptionelle Signatur.

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Denn die Herausgeber gewinnen aus den titelgebenden Dualismen Leib-Seele und Geist-Buchstabe eine historische Tiefendimension, wie sie in Ausrichtung an Baumgartens Wende kaum in vergleichbar innovativer Weise zu erreichen wäre; und zugleich erhält der Band eine systematische Kontur, die nicht einer Orientierung am deutschen Idealismus verhaftet bleibt, sondern Beiträge einer komparatistisch verfahrenden Diskursgeschichte zweier Dualismen vorlegt, deren Erkenntniswert für das Verständnis der Problemgeschichte moderner Ästhetik-Entwürfe insgesamt kaum hoch genug veranschlagt werden kann.

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In der Entfaltung der titelgebenden Begriffspaare umreißen Dauss und Haekel eine doppelte Ausgangssituation: Der aus der platonischen Tradition stammende Leib-Seele-Dualismus, der der neuzeitlichen Philosophie durch Descartes als Grundproblem weiter aufgegeben bleibt, trifft sich mit dem dem zweiten Korintherbrief entstammenden ›tötenden Buchstaben‹ sowie dem ›lebendigen Geist‹, die beide besonders in Hermeneutik, Anthropologie und Poetologie der Neuzeit diskutiert werden. Damit werden im vorliegenden Band eine »dualistische Anthropologie und eine dualistische Zeichentheorie« (S. 7) aufeinander bezogen. »Mit dem Menschen und den Zeichen stehen mithin zwei Paradigmen der ästhetischen Erfindung der Moderne« (S. 7, Hervorhebung im Original, M.P.) im Zentrum der Diskussion.

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Diese klug gewählte Konstellation besticht deswegen so sehr, weil durch sie gleichsam eine andere Ästhetik sichtbar wird, die sich vor dem Hintergrund der literatur-, kultur- und medientheoretischen Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte als Alternativentwurf zur klassischen philosophischen Theoriebildung konturieren lässt. Dass letztere nicht ausgehend von den kanonischen Autoren seit Baumgarten reformuliert wird, ist den Herausgebern dabei schwerlich anzulasten, bieten sie in ihrem Problemaufriss doch die Rekonstruktion eines Diskurses, die es ermöglicht, noch die mit Baumgarten anhebende moderne philosophische Ästhetik selbst zu integrieren.

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Zumindest implizit geschieht dies auch in der Diskussion der Position Johann Georg Hamanns. Dessen Beharren auf der Sprachgebundenheit aller Vernunft weist nicht nur voraus auf die Argumente der Dekonstruktion Jacques Derridas, Hamanns Position wird von Dauss und Haekel zugleich als historisches Gegengewicht gegen Humboldts idealistische Sprachtheorie erörtert. Zwar nur sehr kurz erwähnt wird dabei Kants Kritische Philosophie und deren ästhetische Implikationen als ebenfalls zu kritisierendes, gemeinsames Bezugsmodell (vgl. S. 22); dessen Angriffspunkte aber sind markiert und darüber hinaus sind diejenigen Positionen benannt, die die für die konzeptionelle Ausrichtung des Bandes relevanten Argumente bereitstellen, indem sie den Bezug zu einem der beiden titelgebenden Dualismen wahren: Hamann reformuliere, so die Herausgeber, diesen im Begriffspaar von »Textleib und Textseele« (S. 20).

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Die Wahl der beiden Dualismen Leib / Seele sowie Geist / Buchstabe ist konzeptionell darüber hinaus deshalb stichhaltig, weil in der Konstellation dieser Begriffspaare die Sprachgebundenheit des Ästhetischen eingeklagt wird, die völlig auszuklammern nach dem linguistic turn eine immerhin fragwürdige Option darstellte. Das nicht nur die philosophische Ästhetik der Moderne prägende Vermittlungsanliegen der letzteren tritt im Lichte dieses turns in ein intrikates Verhältnis zur angesprochenen Sprachgebundenheit:

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Schon Descartes hatte sich, wie Dauss und Haekel ausführen, im Gefolge Platons das Problem gestellt, wie sich zwischen den Substanzen des Leibes und der Seele vermitteln lasse. Auf materieller Ebene hatte der französische Denker die Zirbeldrüse als Ort der Verbindung beider Substanzen ausgemacht. Doch es war bekanntlich nicht dieses einprägsame Theorem, sondern vielmehr die Einbildungskraft und deren begriffliche Ausläufer, die im ästhetischen Diskurs der Moderne Karriere machen sollten. Ähnliches wie für diese Kraft bei Descartes, wo sie eine der Vermittlungsfunktion der Zirbeldrüse äquivalente Rolle im Seelischen besetzt (vgl. S. 12), gilt für sie bei Kant und Schiller, aber auch, Dauss und Haekel weisen darauf hin, für die Imagination im 18. Jahrhundert insgesamt.

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Sigmund Freud ist nun den Herausgebern zufolge derjenige, dessen Theorie eine »Scharnierfunktion zwischen Anthropologie und Zeichentheorie« (S. 17) einnimmt. Die Schwierigkeiten, zwischen Leib und Seele zu vermitteln, finden sich bei Freud und in dessen Gefolge dann insbesondere bei Lacan noch einmal potenziert. Denn der Leib-Seele-Dualismus avanciert in der Moderne zu einer »naturwissenschaftliche[n] Erklärung des Bewusstseins« (S. 14), das selbst als Epiphänomen des Gehirns rätselhaft bleibt. Dem Dualismus Gehirn / Bewusstsein entspreche »[i]n gewisser Weise« (S. 17) der Saussuresche Dualismus von signifiant und signifié. In diesem verorte der Sprachwissenschaftler des Cours de linguistique générale, ähnlich der Bewegung des Leib-Seele-Dualismus’, das Begriffspaar Geist-Buchstabe.

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Wenn nun bei Lacan »das seelisch Unbewusste noch viel radikaler als bei Freud [als] ein Spracheffekt« (S. 28, Fußnote 77, Hervorhebung von mir, M.P.) expliziert wird, so ist dies eine so markante wie beispielhafte Kristallisation des in hohem Maße Komplexität reduzierenden, aber schlechterdings nicht vermittelbaren doppelten Begriffspaares, dessen heuristischer Potenziale Dauss und Haekel sich sehr produktiv zu bedienen wissen: »Leib und Seele, Geist und Buchstabe stellen […] eine mobile Konstellation dar, deren tetralogische und somit nicht nur dualistische Struktur extrem offen ist für Verschiebungen und neue Relationierungen« (S. 28).

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Insofern ist es kein Mangel, dass die einleitenden Ausführungen der Herausgeber nur skizzenhaft und »schematisch[ ]«(S. 28) geraten sind. Denn der historisch und systematisch bewegliche Rahmen einer zeichen- und medientheoretisch konzipierten Anthropologie bietet einer interdisziplinär ausgerichteten Diskursgeschichte der modernen Ästhetik eine Fülle an Aktualisierungspotenzialen.

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Im Folgenden stelle ich stellvertretend für die insgesamt sehr lesenswerten Aufsätze jeweils zwei der Beiträge aus den insgesamt drei Teilen des Tagungsbandes vor, wobei ich mich chronologisch an dessen Gliederungsschema orientiere, das nach einem ersten Teil zum anthropologischen zweitens zum semiotischen Dualismus übergeht, um drittens beide Dualismen im Zusammenhang zu thematisieren.

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I. Anthropologischer Dualismus

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Monika Sproll bietet in ihrem Beitrag »›aus der Seele heraus charakterisieren‹ – Herders Theorie des Charakters in seiner Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der Menschlichen Seele (1778)« eine sorgfältige philologische Analyse von den mehreren Fassungen jener Abhandlung, die Herder in produktiver Auseinandersetzung mit der Lehre Johann Georg Sulzers und vieler anderer erarbeitete. Herder entwirft darin eine Theorie des Charakters, die das Leib-Seele-Problem in den Diskurs individueller Bildung einspeist, wie er im Gefolge der Aufklärung insbesondere für die Ästhetik der Weimarer Klassik und deren Streben nach Humanität maßgeblich werden sollte.

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Im Verlauf seiner Umschriften verfolgt Herder hartnäckig das Anliegen, den Menschen als Leib- und Seelenkräfte integrierendes Wesen zu bestimmen und beide begrifflich zu vermitteln. Wie Monika Sproll zeigt, dienen Herder die ersten beiden Fassungen seiner Abhandlungen letztlich dazu, in der dritten Fassung das dem Menschen eigene Lebensprinzip der Elastizität zu plausibilisieren.

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Dieses Prinzip erlaubt es Herder, Erkennen und Empfinden dergestalt aus einer Grundkraft herzuleiten, dass beide dasselbe seien »in nur unterschiedlicher Tendenz« (S. 48). Die Kraft stellt nicht nur ein Erklärungsmodell für die Individualität des Menschen dar, sie dient in ihrer begrifflichen Weiterführung zugleich als Prinzip von dessen Genie und Charakter. In der von Herder beschriebenen Genese des menschlichen Selbstbewusstseins spielt, im Beharren auf dessen Sprachgebundenheit Kant gerade nicht entsprechend, die Einbildungskraft als schöpferische Sprache des Menschen eine zentrale Rolle.

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Hier nämlich findet sich der Mensch verwiesen auf einen Anderen, ohne den sich der Charakter in seiner Individualität schlechterdings nicht bewusst werden könnte. Im Medium der Sprache, die in der Einbildungskraft neben Bildern, Tönen und Gefühlen beheimatet ist, treffen sich nicht zuletzt der Leib-Seele- sowie der Geist-Buchstabe-Dualismus. Wie Monika Sproll überzeugend darlegt, entwickelt Herder eine »teilnehmende Hermeneutik des Menschen« (S. 55); und diese gibt eine durchaus bedenkenswerte Antwort auf die Frage, wie sich in der Biographie eines Menschen die »Spannung zwischen der Stabilität personaler Identität und der Dynamik des wandlungsfähigen Ich« (S. 57) hält.

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Mit seinem Aufsatz »Traum-Literatur um 1800. Körperreize, Psychenbilder und die Macht des Wortes« liefert Harald Neumeyer eine Interpretation von Traumkonzepten bei Schiller und Novalis, die den Ausführungen von Dauss und Haekel zu Freuds Traumdeutung in der Einleitung des Bandes eine bereichernde Ergänzung darstellt. Denn Neumeyer erörtert mit seinen historisch bis in die Zeit der Frühaufklärung reichenden Analysen gewissermaßen den entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund, vor dem Freud dann als Diskursbegründer wirksam werden konnte. Ausgehend von Traumdeutungen Lodovico Antonio Muratoris und Johann Christoph Gottlieb Schaumanns führt die Argumentation wiederum zum Zentralbegriff der Einbildungskraft.

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Wie in der Nachfolge frühaufklärerischer Modelle immer wieder üblich kann dieser Kraft eine Vermittlungsrolle zwischen Leib- und Seelenkräften des Menschen zugeschrieben werden, wobei, wie Neumeyer zeigt, die Flügel der Einbildungskraft im Traum aus Körperreizen oder innerpsychischen Ursachen heraus erwachsen – sodass sie nicht allein als dessen Verursacherin gelten kann. Vielmehr gibt sie sich bei Muratori und Schaumann als der »Transmitter« zu erkennen, »der eine Erstursache des Traumes, z. B. einen Affektenverbund, mit seiner Letztwirkung, den Traumbildern, vermittelt« (S. 61).

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An Schillers Räubern sowie an Novalis’ Heinrich von Ofterdingen zeigt Neumeyer signifikante Diskontinuitäten auf, die die Geschichte der träumenden Einbildungskraft spätestens seit Sulzers Verlegung der Traumursachen in ein Unbewusstes, wie sie Schaumann wiederaufnahm, deutlich prägen. Reizvoll ist eingangs an diesen Ausführungen insbesondere die auf engstem Raum stattfindende Auseinandersetzung mit Positionen Walter Hinderers, Peter-André Alts und Manfred Engels. Ihnen hält Neumeyer mit guten Gründen eine unterkomplexe Historisierung des Unbewussten vor sowie eine problematische Verkürzung der vorfreudianischen Traumlehren auf Theorien, die das Defizit der Traumleistungen im Verhältnis zu den Operationen des rational bei sich seienden Bewusstseins formulierten.

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Im Traum von Franz Moor in Schillers Räubern macht Neumeyer einen »[l]inguistic turn in der Traumforschung des 18. Jahrhunderts« (S. 69) aus, und dies insofern, als dieser Traum weder körperliche noch rein psychische Ursachen hat, sondern diese vielmehr aus der »Koppelung zweier Sprechakte« (S. 72) bezieht, die sowohl vergangene innerpsychische Bilder wieder aufrufen als auch im Traum selbst dessen Deutung explizit aussprechen: Der Traum insgesamt wird zu einem sprachlichen Ereignis.

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Novalis stehe mit seinem Heinrich von Ofterdingen im von Schiller eingeleiteten turn. Vorherige Theorien des Traums umkehrend ist es laut Neumeyer bei Novalis darüber hinaus allerdings »der Traum selbst, der ein Nicht-Bewusstes im Sinne eines Vergessenen, der eine dunkle Vorstellung produziert« (S. 79 f.). Man kann ihm, um nun wieder den Anschluss zur konzeptionellen Arbeit von Dauss und Haekel zu markieren, darüber hinaus bescheinigen, dass er, indem er bereits Heinrich als Dichter kennzeichnet, ebenso schon auf Freuds Theorem in Der Dichter und das Phantasieren vorausweist, nach dem es bestimmten dazu begabten Persönlichkeiten gegeben sei, ihre den nächtlichen Träumen verwandten Tagträumereien in eine genuin dichterische Produktion zu überführen. 8

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II. Semiotischer Dualismus

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Der Authentizitäts-Begriff steht im Zentrum des Beitrags von Stephan Pabst, der die Funktion der Ossian-Dichtung in Goethes Werther näher beleuchtet, indem er die Paulinische Thematik des Buchstabens, der tötet, aufnimmt sowie des Geistes, der lebendig macht. Insbesondere in seiner Eigenschaft als Ossian-Übersetzer sei Werther eine geradezu paradigmatische Figur innerhalb einer »Problemgeschichte der Authentizität« (S. 133). Denn gerade der gefälschte Text sei es, an dem sich die Problematik im Zusammenhang mit Werthers ihn der Welt distanzierenden Lektüreerlebnissen besonders deutlich zeige, sei doch von literaturwissenschaftlicher Seite oftmals darauf hingewiesen worden, dass Werthers Gestus authentischer Mitteilung den Mustern seiner Lektüren entspringe und sich dadurch selbst desavouiere.

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So erhält der »Authentizitätsbedarf« (S. 135) des Lesers Werther im Prozess an der Lektüre scheiternder Selbstbezüglichkeiten die denkbar schärfste Kontur gerade in Auseinandersetzung mit einem Text, der innerhalb des Briefromans selbst noch einmal prägnant das Problem der Authentizität reflektiert, wie es sich einem aus Texten konstituierten Bewusstsein unausweichlich stellt.

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Der Sicht einer aufgeklärten Rationalität, dass Authentizität im Sinne einer ursprünglichen Echtheit nicht zu haben und Werther als Leser in seinem vergeblichen Bemühen darum im Grunde zu bedauern sei, setzt Pabst einen historisch umfassenderen Begriff des in Rede stehenden Wertbegriffs entgegen. Nicht allein die Echtheit und die Unmittelbarkeit des Selbst sei es, die ein Individuum authentisch werden lasse, sondern der Nachweis, dass dessen Ursprung, auch und gerade als verlorener, beglaubigt werden könne.

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Indem nun Goethes Briefroman als Ort der doppelten Ursprungslosigkeit Werthers und Ossians erörtert wird, erhält jener Roman kanonische Bedeutung auch im Rahmen der Problemgeschichte der Authentizität: So lässt sich konstatieren, dass, wer sie im Kontext der Moderne verstehen will, ein guter Werther-Leser sein muss; dazu gehört, so bleibt festzuhalten, die Einsicht, dass die Darstellung der Authentizität nur als authentische Darstellung gelingen kann – und eine solche zu erreichen, sind Fälschungen nicht nur die interessanteren, sondern auch die problembewussteren Lösungs- und Demonstrationsmodelle.

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Einen vergleichsweise kurzen Beitrag zu Ludwig van Beethovens Klaviersonate »Les Adieux« steuert Christine Lubkoll bei und erweitert den komparatistisch angelegten Band um eine musikwissenschaftlich informierte Perspektive. Mit der Rede von »Kunstgrammatik« und »Hieroglyphenschrift« (S. 169 u. ö.) ist der Geist-Buchstabe-Dualismus aufgerufen, der im musikästhetischen Diskurs seit dem 18. Jahrhundert für das Verhältnis zwischen Musik und Sprache ebenso virulent ist, wie er, so Lubkoll, in Beethovens Sonate als die »klassizistische ›Kunstgrammatik der Sonatenform‹«(S. 170) wiederauftauche.

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Diese werde, so Lubkolls These, von Beethoven in die »romantische Unbestimmbarkeitsdimension der ›Hieroglyphenschrift‹ überführt« (S. 170). Insbesondere das Ende der Ausführungen fügt dem Band von Dauss und Haekel eine wichtige Facette hinzu. Denn dort zeigt die Verfasserin, dass man insbesondere bei Beethovens Spätwerk von einer Dynamisierung des Dualismus von Geist und Buchstabe sprechen kann.

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Die mit »Les Adieux« bereits anhebende Befreiung vom Zwang der Sonatenform durch eine allmähliche Entfesselung der Durchführung weist mittels dieser Dynamisierung darüber hinaus auf die beginnende Moderne voraus. Während allerdings in Beethovens Übergangsmodell die Einheit der Form noch immer klassisch gewahrt bleibt, ist in diesem Modell zugleich bereits der Keim gelegt für eine sich aus der Romantik speisende Ästhetik des Fragments, wie sie dann in der Zweiten Wiener Schule zur vollen Entfaltung kommen sollte.

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III. Leib/Seele – Geist/Buchstabe

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Zwar nicht explizit thematisch, aber doch implizit überdeutlich beschäftigt sich auch der Beitrag von Hans Sanders mit dem Begriff der Authentizität. »Die Zeichen des Körpers lesen. Zur Strategie der Verführung in Choderlos’ Les liaisons dangereuses« lautet der Titel dieses Beitrags, der in der Figur des Libertins ebenfalls einen frühen Vorläufer des psychoanalytischen Diskurses nachzeichnet. Eine »Moralmaschine« (S. 235) sei die Erzählung, wenn auch erst in ihrem letzten Akt, während dessen die gestörte Ordnung der sittlichen Welt schließlich durch den Tod derer wiederhergestellt wird, die entweder diese Ordnung selbst verletzt haben oder aber nicht dazu imstande waren, diesen Störungen Einhalt zu gebieten.

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Eingeleitet durch eine modernetheoretische »Digression zum Diskurs der Verfügung« (S. 236) erörtert Sanders die Logik der Verführung, wie sie in den Liaisons entfaltet wird, als in der Tradition Graciáns stehende Strategie, über den Anderen in seiner Körperlichkeit zu verfügen.

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Die Verhaltensrationalität des Verführers besteht darin, gewisse Mittel einzusetzen, welche die Liebe seines Objekts hervorrufen sollen. Diese konvergieren insgesamt in der Vortäuschung (»dissimulation«) der Liebe. Das erfordert eine perfekte Beherrschung des Codes der Liebe (in der Sprache des Körpers, der Worte und der Schrift). (S. 238 f.)
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Was sich dergestalt als moralisch äußerst fragwürdige Selbstdarstellungspraxis beschreiben ließe, enthält, so Sanders, allerdings ein freilich komplexes »Ethos der Wahrheit« – wie man hinzufügen möchte: im Zeichen doppelter Kontingenz. Ein »radikal hedonistischer Moralist« sei der Verführer bei Choderlos de Laclos, der die Tugend als Schein des Begehrens enttarnt. Daher sei es zu erklären, dass Valmont sein strategisches Ziel wie folgt beschreibt: »Mon projet […] est […] de ne lui accorder le bonheur de m’avoir dans ses bras, qu’après l’avoir forcée à n’en plus dissimuler le désir« (alle Zitate S. 247).

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Nicht allein Wille zur Macht, sondern genauso sehr zur Wahrheit sei es, die diesen Verführer motiviere, solle doch in der Inszenierung eines durchschlagenden Begehrens der »Schleier der Moral« (S. 247) zerrissen werden. Der Preis dafür besteht allerdings nach Sanders darin, dass dem Verführer, um sich überzeugend genug darzustellen, seine Maske zum Gesicht und ihm beides ununterscheidbar wird. Insgesamt setze das Projekt des Libertinismus eine »Anthropologie und eine Psycho-Analyse der Wahrheit« (S. 254) voraus, wobei dieser in seinem Kern auf einem »Stück wilder Natur mitten in der Kultur« (S. 254) bestehe.

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Choderlos’ Erzählung rettet zwar ›zu guter Letzt‹ die sittliche Welt, nicht jedoch, ohne im Romanverlauf ein grelles Licht auf deren Gefährdungen zu werfen. Dass diese Problematik mit ihrer Wiederaufnahme im psychoanalytischen Diskurs auch heute noch nicht abgegolten ist, gehört zum Erbe einer aufgeklärten Moderne.

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Von »[ä]sthetische[n] und psychische[n] Stimmungen im Wandel dualistischer Modelle« (S. 269) handelt der luzide Aufsatz von Caroline Welsh. So unaufgeregt wie sorgfältig argumentierend und dabei den konzeptionellen Anschluss an die Rahmenthematik stets und ohne Mühe wahrend zeichnet Welsh in ihrem Beitrag den Wandel von Stimmungskonzepten um 1800 und 1900 nach. Ihre These lautet, entsprechend der oben skizzierten Selbstverortung von Dauss und Haekel, dass diese Wandlungen nicht allein aus den Prämissen der philosophischen Tradition des deutschen Idealismus verstanden werden können.

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Auch in diesen Ausführungen wird deutlich, dass sich das theoretische Interesse der Ästhetik zunehmend vom Begriff der Einbildungskraft weg hin zum Bereich eines Unbewussten verlagert, »einer Ästhetik der Nerven«, wie Welsh es fasst, »die es sich zum Ziel setzt, dem Bewusstsein normalerweise nicht zugängliche, unbewusste Stimmungen symbolisch darzustellen« (S. 292). Ausgehend von Fichtes Schrift Ueber den Geist und Buchstab in der Philosophie aus dem Jahr 1794 spürt die Verfasserin den Funktionsbestimmungen der Einbildungskraft bis zu den »›heißen Zonen‹«(S. 276) hin nach, in denen sich das Wissen vom Menschen um 1800 in neuen Ordnungen konfiguriert.

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Der Stimmungsbegriff ist um jene Zeit noch nicht in der klareren Weise definiert, wie er in heutigen psychologischen Wörterbüchern firmiert, und dies wohl gerade deswegen, weil dem Phänomenbereich dieses Begriffes eine konstitutive Unschärfe anhaftet. Diese ist der Tatsache geschuldet, dass er mehr und mehr einen Bereich bezeichnet, der in einem Un- beziehungsweise Vorbewussten liegt und mithin nur als nicht zu Beobachtendes beobachtet werden kann.

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Sulzers Frage, warum der Mensch, obwohl er die Stimme der Vernunft deutlich hört, oft genug gerade das Unbedachte und womöglich Abwegige tut, ähnelt im Versuch einer Antwort den späteren Interessen Hermann Bahrs und Stanislaw Przybyszewskis. Während Sulzer nämlich auf die Fassung des Gemüts verweist, deren Stimmung der Stimme der Vernunft gewissermaßen widerstreitet, geht es den letzteren vergleichbar um »›die Erscheinungen auf den Nerven und Sinnen, noch bevor sie ins Bewusstsein gelangt sind‹«(S. 285), die aber dennoch ihren Einfluss auf die Handlungen des Subjekts ausüben.

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Diese Bewegung innerhalb des Begriffs der Stimmung in erheblich differenzierterer Weise nachvollziehbar gemacht zu haben, als es in dieser Rezension möglich ist, macht den Aufsatz ebenso lesenswert wie der unprätentiöse, distanzierende Hinweis an dessen Ende, dass die dort gewählte Beobachterperspektive und ihre Resultate »durch andere Strukturmuster ergänzt und gegebenenfalls wieder dekonstruiert werden müssten« (S. 291).

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Fazit

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Es sollte deutlich geworden sein, dass es sich beim hier besprochenen Sammelband um ein konzeptionell rundum überzeugendes und in seinen Einzelbeiträgen äußerst lesenswertes Projekt handelt, ästhetische Reflexion in ihrer je konkreten Historizität zu aktualisieren. Die eingangs angedeutete mögliche Irritation, die der Band dadurch auslösen könnte, dass er die skizzierte ideengeschichtliche Tradition in der Einleitung völlig ausklammert, dürfte keinem interessierten Leser ernsthaft und / oder bleibend auf die Stimmung drücken. Denn dort, wo die von Dauss und Haekel in ihrer Hinführung eingenommene Position skizzenhaft bleibt, leisten die folgenden Aufsätze erheblich mehr als nur Lückenbüßerarbeit.

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Sie machen das Forschungsfeld einer Ästhetik sichtbar, die man als semiologisch sowie medientheoretisch reformulierte Anthropologie bezeichnen kann, und sie verdeutlichen damit, dass die in der vorliegenden Rezension versuchte Rekonstruktion einer Wende des theoretischen Interesses am Ästhetischen vom Zentralbegriff der Einbildungskraft hin ins Unbewusste nur einer der allerersten Anfänge sein kann, das durch den doppelten Dualismus von Leib und Seele sowie Geist und Buchstabe abgesteckte Diskursgebiet auszuloten. Man wünscht sich weitere solcher spannenden Bände zur Ästhetik der Moderne.

 
 

Anmerkungen

Das durch die Kritik der reinen Vernunft sowie die Kritik der praktischen Vernunft verbliebene Desiderat, einen »Grund der Einheit« zwischen den Reichen der Natur und der Freiheit zu stiften, wird von Kant als Desiderat etwa in der zweiten Fassung der Einleitung zur dritten Kritik thematisiert. Der zweite Abschnitt dieser Einleitung verweist auf die »unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs […] und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs« und formuliert die Notwendigkeit eines Einheitsgrundes. Der direkt darauf folgende dritte Abschnitt reagiert auf diese Diagnose. Er trägt die Überschrift »VON DER KRITIK DER URTEILSKRAFT, ALS EINEM VERBINDUNGSMITTEL DER ZWEI TEILE DER PHILOSOPHIE ZU EINEM GANZEN«, in: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 83–84.   zurück
Vgl. das Ende des zweiten der Briefe, in: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: F. S.: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. v. Peter-André Alt / Albert Meier / Wolfgang Riedel. Band V: Erzählungen und theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel u.a. München: dtv 2004, S. 570–669, hier S. 573.   zurück
Vgl. ebd., S. 614–619, insbes. S. 615.   zurück
Vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: F. W. J. S.: Texte zur Philosophie der Kunst. Ausgewählt und eingeleitet von Werner Beierwaltes. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 2004, S. 99–123, hier S. 112–117.   zurück
Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: G. W. F. H.: Werke in 20 Bänden. Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 150.   zurück
Ich beziehe mich hier auf Eva Geulens sehr anregendes Buch »Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002«.   zurück
Für einen aktuellen Überblick vgl. jetzt Thomas Anz: Das Interesse am Schönen. Einleitende Hinweise zu neueren Forschungsansätzen und Theorien der Ästhetik. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15739 sowie den Überblick Aus dem Archiv von literaturkritik.de zum Thema »Schönheit«. In den bisherigen Ausgaben von literaturkritik.de sind folgende Artikel zum Thema »Schönheit« erschienen. URL: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=15738 (letzter Aufruf jeweils am 23.11.2011).   zurück
Vgl. Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. In: S. F.: »Der Dichter und das Phantasieren.« Schriften zur Kunst und Kultur. Hg. v. Oliver Jahraus. Stuttgart: Reclam 2010, S. 101–112, hier S. 108 f.   zurück