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Schottischer Kammgarnmohair mit englischer Webkante

Britische fashion victims im 18. Jahrhundert

  • Christian Huck: Fashioning Society, or, The Mode of Modernity. Observing Fashion in Eighteenth-Century Britain. (ZAA Monograph Series 12) Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 360 S. Broschiert. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-8260-4458-8.
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Kleider machen Leute: In seiner als Habilitationsschrift entstandenen Monographie geht der Kieler Anglist Christian Huck diesem Sprichwort auf den historischen Grund, indem er eine theoretisch ambitionierte und materialreich fundierte Kulturtheorie der Mode am Beispiel Großbritanniens im 18. Jahrhundert vorlegt. Das 18. Jahrhundert dient ihm dabei als Labor der europäischen Moderne, in welchem die Mode zur kulturellen Schnittstelle (»hinge«, S. 13) zwischen Individuum und Gesellschaft aufsteigt.

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Den Kern dieser intellektuell anspruchsvollen und anregend zu lesenden Studie bilden Darstellungen der Mode in Texten und Bildern; mit ihrer Hilfe legt Huck die »materiellen, medialen und diskursiven Netzwerke« frei (S. 15), in denen das »Wissen über Kleidung und Mode« (S. 14) verfügbar und gesellschaftlich verbindlich gemacht wird.

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Hucks durchaus ehrgeiziges theoretisches Programm lautet, die Diskursanalyse des französischen Poststrukturalismus mit der Materialitätsversessenheit deutscher Medientheorie und der Handlungsorientierung britischer cultural studies zu verbinden. Spiritus rector dieses Unternehmens bleibt jedoch Niklas Luhmann, dessen Schriften im Literaturverzeichnis fast zwei Seiten ausmachen. Insofern handelt es sich doch um ein sehr teutonisches Unterfangen, obwohl das Buch in englischer Sprache verfasst ist. Hucks Analysen sind (system-)theoriegesättigt, aber verankert in sehr präzisen und fundierten Materialbeobachtungen, und seine Beschreibungssprache bleibt – zum Glück für den Leser – trotz aller Abstraktion stets anschaulich und nachvollziehbar.

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Dort, wo die Luhmannsche Systemtheorie an ihre Grenzen gelangt, werden Theorie-»Supplemente« (S. 304) eingeführt, die sich vor allem auf Phänomene der Materialität und Visualität beziehen.

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Huck analysiert Mode als gelebte Praxis der modernen Gesellschaft, die aus dem Verlust der sozialen Indexikalität der Kleidung am Ende der frühen Neuzeit hervorgeht; fortan steht Mode zugleich für die Chancen und Risiken, für die Lust und den Zwang der Individualisierung in der Moderne. Mode entwickelt sich in der Moderne zu einem ›aisthetischen‹ Beobachtungsregime, das zunehmend reflexiv und normativ wird: es strukturiert die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Einzelnen, indem es sie in eine Folge von Erwartungen (und, systemtheoretisch gesprochen, Erwartungserwartungen) einbindet. Der Einzelne verhält sich modisch so, wie er von den anderen beobachtet sein will. Man kennt es aus eigener Erfahrung und aus Loriots berühmtem Sketch »Der Anzugkauf«: dieses »skopische Regime« (so Huck mit Jonathan Crary) macht die Mode zu einem Glücksversprechen, aber zugleich auch zu einem Zwangssystem, das in den permanenten
(Selbst-)Beobachtungsterror führen kann. Das Individuum wird zum fashion victim.

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Beobachtung ist Hucks analytischer Schlüsselbegriff; er spielt gekonnt mit dem Doppelsinn des englischen Verbs to observe, das sowohl ›beobachten‹ als auch ›(eine Regel) befolgen‹ heißen kann. Hucks Ziel ist es nicht, Mode als ein Sozialsystem im strengen systemtheoretischen Sinn zu beschreiben, sondern Luhmanns Instrumentarium deskriptiv und analytisch auf seinen Erkenntnisgegenstand anzuwenden – was gerade deshalb so gut funktioniert, weil dieser Gegenstand seiner Stofflichkeit zum Trotz einen äußerst flüchtigen, eher virtuellen und phantasmatischen Charakter hat: »fashion [...] is always both material and immaterial« (S. 205). Huck interessiert sich demzufolge nicht für die konkrete Kostümgeschichte oder für einzelne Objekte, sondern für den Diskurs der Mode in Texten und Bildern des 18. Jahrhunderts.

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Eindrucksvoll bettet Huck seine Mode-Observationen in eine Kulturgeschichte der Beobachtung eigenen und fremden Verhaltens in der frühen Moderne ein. Am Beispiel der Reise- und Städteliteratur zeigt er im ersten Teil (»Observing Fashion«) den Wandel des Beobachtertypus in der Moderne vom distanzierten zum involvierten Beobachter auf. Zeitgenössische Leser von Texten wie Ned Wards The London Spy (1709) werden gleichsam in einer Schule des Sehens dazu angeleitet, die textuelle Darstellung reflexiv auf eigene Wahrnehmungen von Mode zu beziehen. Denn Mode als Kultur, so Huck, kann man nicht einfach sehen; man muss sie entziffern (S. 62), und dies kann nur gelingen mit Hilfe eines sozial vermittelten ›stummen Wissens‹. Frühe Massenmedien steigern die Aufmerksamkeit für Mode, indem sie eine ›Hintergrundrealität‹ (Luhmann) erzeugen und darin – etwa durch Werbung – besondere Attraktionsfelder markieren.

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Mode in Medien dient mithin nicht zur Beobachtung der Wirklichkeit selbst (etwa der Qualität von Konsumgütern), sondern zur »(imaginären) Beobachtung anderer Beobachter« (S. 153). Dieses hochreflexive Arrangement macht Huck im zweiten Teil des Buches, »Communicating Fashion«, v.a. am Beispiel der Zeitschrift The Spectator deutlich. Huck gehört zu den ersten Forschern, die sich eingehend mit der Beziehung zwischen den (literatur- und kulturgeschichtlich bedeutsamen) Essays im Spectator und der in jedem Heft vorkommenden Werbung auseinandersetzen. In den späteren wissenschaftlichen Ausgaben fehlt die Werbung, die aber einen wichtigen medialen Kontext darstellt: in den Essays wird die Mode kritisiert, in der Werbung wird sie dem potenziellen Konsumenten angepriesen.

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Im dritten Teil des Buches wendet sich Huck der Mode im englischen Roman des 18. Jahrhunderts zu. Durch Bezug auf zeitgenössische Mode im Roman werde dem Leser die Aktualität und Gleichzeitigkeit des Dargestellten suggeriert, die fiktionale Welt des Romans werde der realen Welt des Lesers angenähert. Dabei spielt, anders als im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, weniger die detaillierte Beschreibung von Kleidungsstücken eine Rolle als die geradezu listenartige Aufzählung (etwa in Richardsons Pamela) und die Beobachterperspektive der Figuren auf sich selbst und auf andere, die mit derjenigen des Lesers korreliert.

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Dass Kleidung auch eine wichtige Funktion für den Plot eines Romans haben kann (etwa in der »rags to riches«-Variante), versteht sich da fast von selbst; noch wichtiger, so Hucks Fazit nach der Analyse von Richardsons Pamela, Defoes Moll Flanders und Roxana, Arthur Blackamores Luck at Last und Eliza Haywoods Fantomina, sei die Tatsache, dass der Leser aus Romanen (aus sicherer Entfernung) lernen könne, wie Selbst- und Fremdwahrnehmung im modernen »sartorial regime« funktioniere: »how others observe others« (S. 229). Der Roman des 18. Jahrhunderts nutzt Mode also nicht, um Lesern konkrete Lebensmodelle für eigene, individualisierte ›Karrieren‹ aufzuzeigen, sondern um die Selbstbeobachtung im Spiegel der anderen zu trainieren: »to see oneself as others might see one« (ebd.).

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Fashioning Society zeichnet ein komplexes Bild der Mode in der modernen Gesellschaft am Beispiel zahlreicher unterschiedlicher Textsorten und Medien des 18. Jahrhunderts: Flugschriften, Zeitungen und Zeitschriften, Satiren, Grafiken, conduct books, Romane.

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Mode, so der Fluchtpunkt der Argumentation, ist kein irrelevanter Firlefanz, sondern die materielle Manifestation von Modernität als Lebenswirklichkeit (vgl. S. 302). Letztlich undefinierbar (S. 298) sei sie zu unwichtig, um sich dagegen aufzulehnen (ebd.), aber gerade deshalb eine Hintergrundrealität von nahezu erdrückender Präsenz in modernen Gesellschaften: »a seductive and fascinating construct, promising belonging and power, which, though not ›real‹, has real consequences« (ebd.).

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Im vierten Teil des Buches, eher eine Art Anhang, werden schließlich die theoretischen Überlegungen zu Mode und Gesellschaftssystem nachgeliefert, die für den akademischen Zweck einer Habilitationsschrift (um die es sich hier ja auch handelt) erforderlich sein mögen, aber von jedem britischen oder amerikanischen Lektor herausgekürzt worden wären. Das Schlusskapitel wiederum, »Cultural Studies and the Observation of Compact Impressions«, ist unentbehrlich: ein kurzes, brillantes Manifest zur beobachtungstheoretischen Fundierung der Kulturwissenschaften, die jeden Leser auf Hucks weitere Arbeiten neugierig machen werden.

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Fashioning Society leistet einen wichtigen Beitrag zur britischen Kulturgeschichte – nicht nur auf dem Gebiet der historischen Modeforschung, sondern auch im Bereich der Erforschung sozialer Kommunikationsprozesse, der Literatur- und Mediengeschichte sowie der popular culture in historischer Sicht.