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Technologisch-ästhetische Zäsur am Ursprung der Moderne: Der Krimkrieg

  • Georg Maag / Wolfram Pyta / Martin Windisch (Hg.): Der Krimkrieg als erster europäischer Medienkrieg. (Kultur und Technik 14) Berlin: LIT 2010. 288 S. Kartoniert. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-643-10633-9.
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Der vorliegende Sammelband geht aus dem 2005 am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung in Stuttgart stattgefundenen gleichnamigen Symposion hervor, das sich mit medialen Repräsentationen des Krimkrieges (1853–1856) befasst hat. Die Herausgeber Georg Maag (Italianist, bis 2009 Direktor des IZKT), Wolfram Pyta (Historiker) und Martin Windisch (Anglist), allesamt von der Universität Stuttgart, haben sich jeweils bereits vorher mit verschiedenen Aspekten der Relation von Kultur und Medien, Politik und Medien beziehungsweise Kultur und Technik befasst. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass es sich bei der Publikation um ein interdisziplinäres Projekt handelt, zu dem Autoren aus unterschiedlichen philologischen Fachbereichen sowie aus Geschichte und Kunstgeschichte beigetragen haben.

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So gelingt es dem Sammelband, den Krimkrieg, der dem unkundigen Leser in seiner kulturhistorischen Bedeutung eher randständig erscheinen mag – und das wohl nicht zuletzt auf Grund der bisher lückenhaften Forschungslage – , glaubhaft als entscheidenden Einschnitt an den Ursprüngen der technologischen und von modernen Kommunikationsmedien geprägten Moderne in Europa zu präsentieren: Der Krimkrieg wird im Sinne einer »mediengeschichtlichen Revolution« (S. 7) als »erster moderner Krieg« (S. 18) analysiert, in welchem Medien den Krieg nicht nur fast zeitgleich an den Heimatfronten zu repräsentieren vermögen, sondern oftmals ideologische Kontexte überhaupt erst erzeugen.

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Dies schließt insofern eine beachtliche Lücke im kulturwissenschaftlichen Forschungspanorama, als sich die einschlägigen Publikationen zum Objektbereich ›Krieg/Medien‹ fast ausschließlich auf das 20. Jahrhundert beschränken und den Krimkrieg nur in wenigen Ausnahmen als Forschungsgegenstand überhaupt in Betracht ziehen. 1 Die hingegen in Fülle vorhandenen historiographischen, insbesondere militärhistorischen Forschungen zum Krimkrieg als dem ersten industriellen Krieg, lassen wiederum die konstitutive Funktion der technologisch-ästhetischen Neuerungen unbeachtet. 2 Allein schon »eine gründliche Sichtung [der] Bildquellen lässt jedoch keinen Zweifel, dass die Ästhetik funktionale Kriegskomponente und für das historische Endresultat [des Krimkrieges] ebenso entscheidend war wie Kanonenkugeln und Grabensysteme« (U. Keller, S. 18).

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Der vorliegende Band gliedert sich in zwei große Rubriken. Insbesondere der erste Teil (I. Der Krimkrieg in Literatur, Bildmedien und Musik) umfasst im Sinne einer eingangs von den Herausgebern versprochenen interdisziplinären Verschränkung von Medialität und Historizität, Aufsätze zur Medialisierung des Kriegsgeschehens in Photographie, Zeichnung, Malerei, Pressebericht, ›schöner‹ Literatur, Biographie und Musik. Gemein ist all den aufgeführten, im weitesten Sinn ästhetischen Kategorien der Repräsentation des Krieges, dass der Aspekt der modernen Technologie auf die eine oder andere Weise konstitutiv für die Wirkweise und/oder Verbreitung des jeweiligen Medienproduktes war.

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Der zweite, etwas weniger umfangreiche Teil des Sammelbandes (II. Historisches Geschehen und Deutung) ist hinsichtlich des selbst auferlegten Analyseparadigmas ›technologische vs. ästhetische Moderne‹ 3 überraschend einseitig historiographisch und metahistoriographisch perspektiviert und erscheint nicht zuletzt angesichts von Buchtitels und Klappentext teilweise sogar fehl am Platz. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass dieser zweite Teil – dem hier keineswegs die wissenschaftliche Wertigkeit abgesprochen werden soll – obschon er der syntagmatischen Logik nach grundlegend wäre, in der Publikation hinten angestellt wird.

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Der souveräne historische Überblick von Winfried Baumgart (»Der Krimkrieg 1853–1856: ein historischer Überblick«, S. 209-220), sowie die prägnanten methodologisch-theoretischen Überlegungen zum grundlegenden Terminus ›Medienereignis‹ von Ansgar Nünning (»Wie aus einem historischen Geschehen ein Medienereignis wird: Kategorien für ein erzähltheoretisches Beschreibungsmodell«, S. 188–208) hätten den medienkomparatistischen Einzelanalysen durchaus auch als Folie vorausgestellt werden können.

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A Visual History. Ein Medienüberblick

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Mit gutem Grund wird der Sammelband im ersten Teil von dem wegweisenden und umfangreichen Beitrag Ulrich Kellers eröffnet. Der Kunsthistoriker aus Santa Barbara gilt als der weltweit renommierteste Kenner der medialen Vermittlung(en) und ästhetischen Inszenierung(en) des Krimkrieges. Sein Beitrag »Schlachtenbilder – Bilderschlachten: zur visuellen Kultur des Krimkrieges« (S. 16–62) bestätigt dies mit bemerkenswerter Argumentationsstärke und dem Einblick in umfangreiches Quellenmaterial. Er kann für den vorgelegten Medienüberblick auf seine große Publikation zum Krimkrieg aus dem Jahre 2001 zurückgreifen (The Ultimate Spectacle), ohne welche, so die Herausgeber in der Einleitung (S. 8), der ganze Band nicht möglich gewesen wäre. Der Aufsatz, sowie die genannte Monographie von Keller erweisen sich durch alle Beiträge des Sammelbandes hindurch immer wieder als explizit benannter Referenzhorizont und können somit ohne Übertreibung als eine unverzichtbare Basis des Buchprojektes von Maag, Pyta und Windisch gelten.

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1. Bildreportage

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Keller führt uns im Verlauf seines Beitrags über die Kategorien der Bildreportage, der Photographie, der (Historien-)Malerei sowie des modernen »Showspektakels« an den Heimatfronten in London und Paris, die fundamentale Wichtigkeit der Bildmedien für die historische Krimkriegs-Forschung vor Augen: so sei etwa der »Sturz der britischen Regierung im Kriegswinter 1854/55 […] [als] direktes Resultat einer gezielten Pressekampagne« (S. 21) zu deuten, während derer insbesondere Reportagebilder Missstände an der Front, wie zum Beispiel das Erfrieren und die unzureichende medizinische Versorgung der Soldaten, denunziert hatten.

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Im Gegenzug zu solchen liberalen Pressekampagnen versuchte das britische Königshaus die Kriegshandlungen durch patriotisch inszenierte Gemälde und Zeitungsillustrationen wieder in ein positives Licht zu rücken. So kam es in England zu regelrechten Bilderschlachten zwischen liberaler Presse und Monarchie. Dies alles ist historisch insbesondere auch deshalb beachtlich, weil erstmals in der Geschichte Bildpublizität nicht mehr von den Machthabern monopolisiert war und so ganz anders funktionieren konnte.

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Keller erläutert in diesem Zusammenhang anhand mehrerer Blätter des für die Illustrated London News arbeitenden Constantin Guys und des in Frankreich tätigen Henri Durand-Brager auch sehr differenziert die Funktionsweise der damals in London und Paris publizierten Bildreportagen; das heißt er veranschaulicht anhand der ikonologischen Strukturen und der narrativen Argumentationsführung den journalistischen Umgang mit Wirklichkeit während des Krimkrieges: Durand-Bragers Bildreportagen sind von besonderer Objektivität und möchten explizit »keine Kunstansprüche erfüllen« (S. 28), aber entbehren andererseits auch die in England inzwischen übliche kritische Dimension, weshalb sie hinsichtlich der komplexen politisch-sozialen Phänomene des Krieges wenig erhellend sind. Keller weist in diesem Zusammenhang mit weiteren Beispielen aus Frankreich auch auf eine prinzipielle Affinität von Pressezensur (hier durch Napoleon III) und »Physionomie«- Genre hin.

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2. Photographie

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Die im folgenden Abschnitt vorgestellte Rolle der Photographie im Krimkrieg ist aus gegenwärtiger Perspektive eigentlich eine überraschende: Der so oft als der erste Kriegsreporter apostrophierte Photograph Roger Fenton erweist sich bei näherer Betrachtung seiner Photoreportagen als ausgesprochen regierungstreu und erstaunlich fern des tatsächlichen Kriegsgeschehens. Seine Ziele sind höchst traditionell: topographische Überblicke und Generalsgalerien. Keller bemerkt nicht ohne Ironie: »hätte er Offiziere und Örtlichkeiten nach Kriegsende photographiert, sähen sie kaum anders aus« (S. 32). Die meisten von Fentons bekannten Photographien (zum Beispiel »The Valley of the Shadow of Death« und »The Council of War, Held on the Morning of the Taking the Mamelon«) sind Inszenierungen.

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Schon etwas näher am Geschehen präsentieren sich die Aufnahmen von James Robertson und Felice Beato, die auch auf Grund ihrer mobileren Ausrüstung kurz nach Kriegsende in die alliierten Gräben vordringen konnten, und die ›noch ganz frischen‹ Zerstörungen dort dokumentierten, so dass Keller den Abschnitt zur englischen Photographie während des Krieges wie folgt schließen kann:

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Die photographischen Aufnahmen sind die Spur der materiellen Kriegsrelikte, diese Relikte sind die Spur blutiger Kämpfe; vom Krieg »selbst« sind wir hier also zweifach abgekoppelt; und trotzdem, da es sich eben um Spuren statt um Darstellungen handelt, ist der Krieg darin stärker präsent als im bestrecherchierten und dramatischsten Historiengemälde. (S. 36)
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3. Historienmalerei

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In einer interessanten Schwellenstellung präsentiert der Autor die Historienmalerei zum Zeitpunkt des Krimkrieges. Hier wird erstmals wirklich klar, was mit der in der Einleitung des Sammelbandes prophezeiten, allgegenwärtigen ›Medienkonkurrenz‹ genau gemeint ist: In enger Verflechtung und Abhängigkeit voneinander scheinen sich im Bereich der Repräsentation von Kriegsereignissen Photographie, Malerei und moderne Drucktechnik / Vervielfältigung an ein und denselben Sujets abzuarbeiten. So wurde beispielsweise der (inszenierte) »Council of War« zuerst von Fenton photographisch ›dokumentiert‹, dann von Augustus Egg, einem honorierten Akademiemitglied, unter leichter Veränderung in Öl (ab-) gemalt und in Folge dessen, mit einem Vermerk »kopiert nach dem berühmten Werk des Akademiemitglieds«, als Stich hundertfach vermarktet. Auf diese Weise profitierte auch die konventionelle Akademiekunst von den Kriegsereignissen, da die Maler eigens für solche Aufträge engagiert wurden. Jedoch ist die

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Historienmalerei […] hier in völlige Abhängigkeit von der Kamera geraten, [und] wurde überhaupt nur deshalb noch gebraucht, weil das photographische Verfahren technisch unausgereift war. (S. 41)
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Eine weitere Tatsache, die der Historienmalerei diesen letzten, wenn auch von der Photographie abhängigen Höhepunkt bescherte, war, dass der englische Adel, in dessen Hand noch nahezu die ganze Armeeführung lag, ein nicht geringes Interesse an der Verewigung seiner Kriegstaten auf großformatigen Leinwänden hatte. Insbesondere bei negativem Ausgang von Kriegsereignissen schien der Bedarf nach persönlicher Glorifizierung und somit bildlichen Modifizierung der historischen Tatsachen immens.

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In Frankreich wurde die Militärmalerei während des Krimkrieges durch staatliche Hand programmiert (Auftragsarbeiten) und systematisch instrumentalisiert. Die Arbeiten wurden in den offiziellen Salons von 1855–1861 präsentiert und ihre Maler fürstlich honoriert. Exaktheit (zum Beispiel der Einzelportraits von Generalen in Schlachtenbildern) und zumindest augenscheinliche Objektivität, waren fundamentale Kriterien für die Anfertigung solcher Gemälde. Die Künstler konnten sich während des Entstehungsprozesses ihrer Werke im staatlichen »Depot de la Guerre« dem gleichen Dokumentationsmaterial bedienen, mit dessen Hilfe auch die Militärs ausgebildet wurden und das von zu diesem Zweck an die Front beorderten Künstlern zugeliefert wurde. Die Akademie-Gemälde haben in diesem Sinne also recht großen dokumentarischen Wert. Allerdings, so Keller, ist den »aufgedonnerten Ölreprisen schlichter Zeitungsbilder […] abzulesen, dass der akademischen Malerei als Parasit der Presseillustration keine große Zukunft beschieden war« (S. 47).

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Das Genre der Historienmalerei, das ja eigentlich von mythischen Gestaltungsmitteln und heroischen Motiven durchprägt ist, war durch »das Überangebot von wissenschaftlich garantierten Bildinformationen« (S. 45), so argumentiert Keller, dem Untergang geweiht und sei deswegen auch nach und nach aus dem Salonrepertoire verschwunden. Diese Argumentation des Zerfalls des Genres Akademiemalerei, qua Historienmalerei »aus sich selbst heraus«, ist hier etwas einseitig über das Forschungsinteresse der Kriegsberichterstattung perspektiviert dargestellt: berücksichtigt man den kulturhistorischen Hintergrund der Pariser Kunstszene und der Salons um die Mitte des 19. Jahrhunderts, kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass es vor allem auch der Bedeutungsverlust der Struktur der offiziellen Salons selbst und der immer größer werdende Einfluss von jungen Künstlern aus den Salons des réfusées, sowie die Gründung der Societé des artistes Independents waren, die die Akademiemalerei verdrängten und sicherlich zu einem viel grundsätzlicheren Wandel der französischen und internationalen Kunstproduktion führten.

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4. Theatralische Schaudarbietungen

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Dieser Wandel hat grundlegend mit dem Aufstieg des Bürgertums und der damit einhergehenden Ausweitung des Kunstkonsums zu tun, den Keller ja auch überzeugend als Movens für riesige theatralische Schaudarbietungen zum Kriegsgeschehen in Paris und London darstellt. In den Metropolen stellten Riesenleinwände und Dioramen, gemeinsam mit immensen Schauspielertruppen, die teilweise sogar ›echte‹ Kriminvaliden rekrutieren konnten, den Menschen das Kriegsgeschehen an der Krim ›realistischer‹ als die Wirklichkeit selbst und teilweise sogar den realen Ereignissen zuvorkommend vor Augen:

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die glorioseste Kriegsunterhaltung bestand in den Scheinschlachten, die nächtlich um sozusagen lebensgroße Attrappen der Bastionen von Sewastopol in Vergnügungsparks wie Surrey Zoological Gardens, […] ausgefochten wurden. Viele Monate bevor er wirklich eintrat, wurde der Fall von Sewastopol hier als permanentes Spektakel vorweggenommen. (S. 48)
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Pyrotechnische Künste vervollständigten die perfekte Illusion der Schlachten, die, so scheint es, ganz im Sinne von Nünnings Theorie (vgl. unten) den Krimkrieg zu einem modernen Medienereignis machen, bei dem die Grenzen zwischen historischem Ereignis und dessen Repräsentation nicht mehr eindeutig sind. Oder mit Keller gesprochen:

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das historische Ereignis [wurde] zum Wurmfortsatz und Epiphänomen großstädtischen Spektakels. […] ehe die historischen Ereignisse eintraten und sobald sie eintraten, taten sie es in vorgefertigten Kostümen und auf den vorhandenen Schaubühnen. Anders gesagt: der Krieg, der tatsächlich geführt wurde, war zum ständigen ästhetischen Wettstreit mit dem anderen gezwungen, der längst über die Londoner und Pariser Bühnen ging. […]. Aber die Wirklichkeit des Krieges wurde nicht nur unauffindbar in den tausendfachen Adaptionen, Repetitionen und Nachbearbeitungen durch Presse, Kunst und Showbusiness; sie verlor ihre Einmaligkeit auch deshalb, weil sie […] vorprogrammiert worden war. (S. 50–51)
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5. Mediale Kriegsberichterstattung im historischen Wandel

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In einem Ausblick skizziert uns Keller dann noch seine überaus interessante historische Analyse der medialen Kriegsberichterstattung bis zum heutigen Tag: In einem Wechsel von »politischer Maskierung« und »journalistischer Aufdeckung« von Gewalt (letztere mit ihrem überaus negativen Extrem der journalistischen Ausschlachtung) hat sich die Darstellung von Kriegen jeweils mit der Einführung eines neuen Repräsentationsmediums geändert. Neue Technologien, wie jüngst das Internet, scheinen kurz nach ihrer Einführung immer erst für eine Weile unkontrolliert, und folglich »sichtbarmachend« zu funktionieren, um dann in Folge politisch vereinnahmt und kontrolliert zu werden. Es kommt dann wieder zu einer Maskierung des blutigen Geschehens. Nicht zuletzt auf Grund des immer wieder erstarkenden Imperativs der politischen Maskierung und andererseits dem Versuch des medialen Umgangs damit haben wir im Kriegsbild-Genre, so Keller »bislang vermutlich erst sehr wenig gesehen« (S. 56).

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Affirmierung und Negierung von Gattungskonventionen als Überzeugungsstrategie bei der Darstellung von Kriegsgeschehen

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Mit dem speziellen Problem der historischen Aktualität von Gattungen, wie es im Zusammenhang mit der Historienmalerei ja auch von Keller angesprochen wird, beschäftigt sich auf ganz andere Weise auch der Beitrag Julia Griems (»Medienkonkurrenz und Gattungsspielraum: Zum Problem des Genres in zeitgenössischen photographischen und literarischen Darstellungen des Krimkrieges«, S. 85–100). Sie fragt nach dem Nebeneinander und der Konkurrenz verschiedener medialer Repräsentationsformen im Rückgriff auf das in viktorianischer Zeit beliebte Gattungsmuster des Genres: Griem stellt anhand Tennysons Gedicht »The Charge of the Light Brigate« und Fentons Photographie »The Valley of the Shadow of Death«, das heißt an je einem Text und einem Bild, eine sehr ähnliche Wirkweise durch »Aktivierung, Modifikation und Zurückweisung« der Gattungsvorlage des Genres fest.

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Die Autorin weist darauf hin, dass Gattungen, welche sie als historisch wandelbare Rahmungen und dynamische Mitgestalter von Kommunikation versteht, insbesondere »in Schwellen-Konstellationen wie dem Krimkrieg eine besondere Rolle spielen: Als evolutionäre Formen können sie traditionsstiftend, aber auch innovativ wirken, […]«(S. 86). Dies ist hier besonders überzeugend, da Griem ein dem Leser bereits in Ulrich Kellers Erläuterungen über die Historienmalerei implizit vorgeschlagenes Erkenntnisziel nicht nur pointiert ausformuliert, sondern auch mit einem weiteren Beispiel untermauert.

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So habe die Gattung des Genres in Tennysons »English Idyls« dem Dichter die Möglichkeit gegeben seine sonst eher elitär-aristokratischen Gedichte nach dem Geschmack eines bürgerlichen Publikums zu modellieren. Der Dichter entlehnt seine visuelle Ikonogaphie, vor allem idyllische Genre-»Szenen«, den Konventionen einer militärischen Genremalerei. Griem verweist in diesem Zusammenhang auf den Bezug zu den romantisch-idealisierenden Gemälden Gericaults, welche in ähnlichem Duktus die chasseurs der Grande Armée Napoleons darstellen. Tennysons Gedicht »The Charge of the Light Brigate« kann als »ideologisches Projekt« (S. 88) in Antwort auf die schrecklichen Verluste von Balaklava und die darauf folgende kritische Berichterstattung in der Times gelesen werden, da die Verse Tennysons, anders als andere lyrische Verarbeitungen der Schlacht, die Brigade fern jeder Realität als patriotische Einheit ›zeichnen‹:

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Es erscheint entscheidend für die Wirkung von ›The Charge […]‹, dass in diesem Gedicht die soziale und nationale Heterogenität der alliierten Truppen homogenisiert wird. (S. 90)
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Diese, durch den geschickten Rückgriff auf französische (Kriegs-)Genre Malerei idealisierte Einheit steht in funktionalem Zusammenhang mit dem intendierten Kriegsfortgang: in einem Moment, in dem die Armee durch Inkompatibilität, Heterogenität und inkompetenter Führung dem Zerfall nahe ist, und dies durch die Medien an der Heimatfront inzwischen auch bekannt ist, stilisiert Tennyson in seinem Gedicht mittels intermedialer Strategien

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die Niederlage zu einem regenerativen spirituellen und politischen Triumph, weil sich das ästhetisierte Spektakel der ›Light Brigade‹ jener heroisierenden Bildsprache des früheren Feindes [eben der Franzosen] bedient, mit deren Hilfe nun auch die englische Kavallerie als Repräsentant einer von noblen Impulsen beseelten imagined community auftreten kann. (S. 91)
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Durch dieses geschickte ästhetische Manöver gelingt dem Autor eine Leserlenkung in Richtung Neudeutung und Bewältigung der traumatischen Ereignisse von Balaklava.

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Ganz ähnlich steht es um das Werk von Roger Fenton, der, wie Griem bemerkt, mit einer „anderen technischen, aber ähnlichen bildsprachlichen Ausstattung« (S. 92) wenig später in die Krim reiste. Er setzte das neue technische Medium der Photographie nämlich keineswegs zu positivistischen Dokumentationszwecken ein, sondern schloss in seinen Darstellungen mit Hilfe von Inszenierungen ebenfalls an die Gattungstradition des Genres an. Über die Photographie von Roger Fenton und zu deren kritischer Einschätzung gibt der erste Artikel des Sammelbands bereits reichlich Aufschluss, weshalb man sich hier trotz der fehlenden Abbildungen bereits eine gute Vorstellung von dem verhandelten Gegenstand machen kann. Neu ist freilich Griems nachdrücklicher Verweis auf Fentons Anleihen bei der Gattung des Genres, wodurch es ihm gelänge, den Krieg für die Öffentlichkeit als idyllischen »picknick war« (S. 93) zu verharmlosen. Ähnlich wie Tennyson nehmen seine Werke eine privilegiert aristokratische Perspektive ein und ignorieren jegliche soziale Ungleichheit und Konflikte im Inneren der Armee.

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In einer interessanten Passage ihres Beitrags zitiert die Autorin aus einigen Briefen Fentons an seine Frau: diese Zeilen, welche Fenton ausdrücklich als privat behandelt wissen möchte, machen deutlich, wie bewusst seine Photographien idealisierte Inszenierung sind. Die Briefe lesen sich nämlich fast schon kontrastiv, auf jeden Fall aber in Widerspruch zu seinen Bildern: er beschreibt darin ohne Beschönigung alle erdenklichen Schreckensbilder des Krieges. Solche Widersprüchlichkeiten sieht Griem in dem insofern zu recht bekanntesten Bild Fentons »Valley of the Shadow of Death« kumuliert, welches eine genretypische Ausstattung zwar insbesondere durch den Titel und sein pastorales Inventar noch aufruft, dann aber durch das Motiv ausdrücklich zurückweist. Eine Renaturierung, Restaurierung und Heilung ist in diesem Bild ikonographisch nicht mehr enthalten, weswegen Griem in der Inszenierung Fentons eine Vorwegnahme der modernen »Ikonographie des Schreckens« (S. 97) sieht.

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In einem letzten Schritt erklärt die Autorin auf den erläuterten Thesen aufbauend, neben der zeitgenössischen, auch die unterschiedliche rezeptionshistorische Fortüne der beiden behandelten Werke: »Tennysons ›Charge‹ spricht ein heutiges Publikum nicht mehr an, weil der Text auf Gattungsmuster zurückgreift, die sich überlebt haben, während Fenton solche auch verweigert und dadurch Authentizitäts-Formeln antizipiert, die uns heute noch gültig erscheinen« (S. 97). Recht negativ fällt schließlich auf, dass das besprochene Gedicht von Tennyson im vorliegenden Sammelband an keiner Stelle abgedruckt wurde.

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Historische Bedeutung politischer Karikaturen zum Krimkrieg

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Der Historiker Oliver Stenzel verweist in einem interessanten Beitrag auf die große Bedeutsamkeit eines genuin ästhetisch-publizistischen Objektbereichs für die Geschichtswissenschaften: und zwar dem der Karikatur. Gerade die während des Krimkrieges entstandenen Bildsatiren oder Cartoons, so Stenzel, machen kollektive Einstellungen der Zeit hervorragend beobachtbar. Er weist eingangs darauf hin, dass Karikaturen im Allgemeinen »gegenüber ihren Rezipienten […] eher affirmativ als kritisch sind [und von daher] Stereotype reflektieren, festigen und […] verstärken«. Stenzel unternimmt eine diachrone Analyse von Karikaturen, die in der damals weit verbreiteten 4 englischen Satirezeitschrift Punsch publiziert wurden, und präsentiert diese zum einen als Spiegel der öffentlichen Meinung und zum andern auch als bedeutsam für den realen Fortgang und Verlauf des Krieges. 5 Er vertritt die plausible These, dass die öffentliche Meinung durch die Stellungnahme der politischen Karikaturen bekräftigt und nicht selten radikalisiert wurde. So habe zum Beispiel das »Massaker von Sinope«, eigentlich eine »reguläre Kriegshandlung« durch Medien und Publizistik an der Heimatfront eine derartige Bedeutungsmaximierung erfahren, dass »letzte Zweifel an der Berechtigung eines Kriegseintritts beiseite [gewischt wurden] und [für] eine rasche Verbreitung des russischen Feindbilds [gesorgt wurde]« (S. 144).

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Im Einzelnen widmet sich Stenzels Beitrag im ersten Teil den karikaturalen Visualisierungen stereotyper Vorstellungen über Russland während des Krimkrieges, welche propagandistisch darauf abzielen ein, bereits seit dem 18. Jahrhundert in der Öffentlichkeit als solches verankertes, Feindbild neu zum Erstarken zu bringen. Er veranschaulicht an Hand verschiedener Beispiele, wie die Satire im Verlauf des Krieges zum einen immer aggressiver wird und es zum anderen unter bestimmten Umständen zu einer Differenzierung zwischen der Darstellung und Diffamierung des Herrschers Zar Nikolaus I. (er wird als blutrünstiger Despot kriminalisiert) und einer abgemilderten, wenn auch weiterhin negativen Darstellung der Bevölkerung kommt.

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Etwas weniger aggressiv, dafür umso spöttischer fällt die Kritik der Karikaturen des Punch am Preußischen König Friedrich Wilhelm IV. ob seiner Neutralität hinsichtlich des Krieges aus. Diesem Motivkreis widmet sich der zweite Teil des Aufsatzes von Stenzel. Am interessantesten scheint in diesem Zusammenhang der nachweisliche Einfluss des Punch auf politischer Handlungsebene: so wurde der Hohenzollern König in den Abbildungen des Satireblattes meist über den Rückgriff auf seine angebliche Trunksucht verpönt und mit einer Champagnerflasche der Marke »Veuve Clicquot« dargestellt. Diese wurde mit der Zeit in den Cartoons nicht nur zum festen Attribut des Monarchen, sondern führte auch dazu, dass der ebenfalls vom Punch eingeführte Spottname »King Clicquot« zum Synonym und bald schon zur »ausschließlichen Bezeichnung« (S. 153) für den Monarchen wurde, und zwar auf allen Ebenen der Kommunikation, was das von Stenzel zitierte »Schreiben eines der profiliertesten Diplomaten seiner Zeit nahe [legt]: Stratford de Redcliff spricht 1855 in einem Brief an den britischen Außenminister Clarendon ganz selbstverständlich von ›King Clicquot‹«(S. 154–155).

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Einen interessanten Ausblick liefern über den ganzen Aufsatz hindurch Verweise auf allgemein gültige karikaturistische Verfahren und Wirkweisen, die Stenzel jeweils mit geeigneten Beispielen aus dem Zusammenhang des Krimkrieges untermauern kann. So kehrt zum Beispiel ein antithetischer Bildaufbau als »Strategie der Feindmarkierung« beziehungsweise auf der anderen Seite der »Selbstverherrlichung« (S. 143) immer wieder: umso extremer sich ridikulisierte und idealisierte Markierungen in einem Cartoon gegenüber stehen, desto stärker ist ihre jeweilige Wirkung. Auf die vielen vorgestellten Motive und Bilddetails im karikaturalen »Bilderkampf« während des Krimkrieges kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, es sei aber betont, wie detailgenau und präzise Stenzels ikonologische Analyse ist. Wo nötig und erkenntnisbildend, zieht er auch Texte aus dem Punch hinzu.

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Zur Typologie des »Medienereignisses«

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Von ganz anderer, weitaus generischer Natur ist der zweite Teil des Sammelbandes, der mit einem Beitrag Ansgar Nünnings eröffnet wird (»Wie aus einem historischen Geschehen ein Medienereignis wird: Kategorien für ein erzähltheoretisches Beschreibungsmodell«, S. 188–208). Wie im vorderen Teil des Sammelbandes, scheint auch hier die Wahl des ersten Beitrages dem Renommee seines Autors und der herausragenden Qualität des Aufsatzes geschuldet. Mit gewohnt analytischer Präzision veranschaulicht Nünning den Versuch, narratologische Modelle im Problembereich der medialen Darstellung von Geschichte zu applizieren. Er möchte damit zeigen, dass vermeintlich objektiv und unangefochten als solche ›existierende‹ historische Ereignisse

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[sowohl] Ergebnisse von Selektion, Abstraktion und Auszeichnung, [als] auch diskursiv und medial erzeugte, perspektivenabhängige, kulturell spezifische und historisch variable Konstrukte [!] sind. (S. 188)
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Nünning kann in seinen wegweisenden Ausführungen unter anderem auch auf die Untersuchungen und Erkenntnisse des Gießener Graduiertenkollegs »Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart« 6 zurückgreifen, an dem er maßgeblich beteiligt ist.

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1. Das Ereignis

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Zunächst umreißt Nünning kurz den Ereignisbegriff selbst. Ebenso wie in der Narratologie, sei ein Ereignis auch alltagssprachlich ein emphatischer Begriff, der etwas »Besonderes oder Überraschendes« (S. 190) bedeute. Diese Relevanz beruhe allerdings auf einer kollektiven Zuschreibung: ein Ereignis, so auch ein Medienereignis, wird erst durch den Beobachter selektiert und überhaupt als solches ausgezeichnet. Da jedes Ereignis in ›Wirklichkeit‹ aus einer Vielzahl von Ereignissen, Handlungen und möglichen Perspektiven auf selbige besteht, die durch »eine Art Auszeichnung, die impliziert, dass das Wesentliche herausgehoben und das Unwesentliche vernachlässigt wird« (S. 191), erst zu eben diesem einen (Medien-)ereignis kondensiert werden, nennt Nünning den Tatbestand der Abstraktion als wichtigen Bestandteil im Prozess der Konstruktion eines Medienereignisses.

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2. Literarische Ereignisse / historische Ereignisse

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Unter Rückgriff auf Wolf Schmids Elemente der Narratologie überprüft der Autor dessen Merkmalskatalog literarischer Ereignishaftigkeit im Hinblick auf seine Gültigkeit für historische Ereignisse und/oder Medienereignisse. Er folgert, dass die Anhaltspunkte zur Bestimmung des Ereignisbegriffes und dessen graduelle Abstufungen durchaus für die Ereignisforschung in den Geschichts- und Medienwissenschaften fruchtbar gemacht werden können. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass der Erfahrungsraum, vor dem sich ein Ereignis als solches kristallisiert, eben nicht die Welt eines Romans, sondern historisch und kulturell variabel ist. Auch das bekannte 3-stufige Modell der narrativen Ebenen von Stierle, welches Schmid später noch um eine Stufe erweitert hat, wird von Nünning weiter unten versuchsweise auf die Repräsentation von Geschichte umgelegt.

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Die unmittelbare Relevanz dieser erzähltheoretischen Überlegungen für Repräsentationen des Krimkrieges gründet darin, dass sich gerade das chaotische Geschehen eines Krieges [nach Stierle: das »Geschehen«] erst dann erschließt und gesellschaftlich kommuniziert werden kann, wenn es in verständliche Geschichten und Bilder überführt wird [nach Stierle: die »Geschichte«]. Dazu bedarf es wiederum narrativer und rhetorischer Strategien [nach Stierle: der »Text der Geschichte«] (S. 195).
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Kurzum, Geschichte muss also erzählt werden, um sinnhaft zu werden. Dies bedeutet mit einem Blick auf die verschiedenen medialen Repräsentationen aber auch, dass es eine große Anzahl von möglichen ›Geschichten‹ eines historischen Geschehens gibt.

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3. Ereignisbegriff in der Soziologie

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Ein kurzer Blick Nünnings auf jüngste Forschungen zum Ereignisbegriff in der Soziologie gibt Aufschluss über die Wichtigkeit der kollektiven Dimension bei der Bestimmung von Ereignishaftigkeit. Die Selektion und Auszeichnung eines Ereignisses erfolgt nämlich immer nach kollektiven, intersubjektiv nachvollziehbaren Maßstäben. Dies scheint eine wichtige Integration der literaturwissenschaftlichen und historischen Definition zu sein und insbesondere im Feld der Medienereignisse von großer Bedeutung. Weniger wichtig scheint im Bereich der Medienereignisse das gemeinhin für ein Ereignis als konstitutiv angenommene Überraschungsmoment: Insbesondere Kriege können auch nach einer langen Vorgeschichte, wie etwa diplomatischen Verhandlungen, und insofern durchaus erwartbar zu Medienereignissen avancieren.

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4. Medienereignisse

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Erst im folgenden Abschnitt kommt Nünning näher auf Medien im Zusammenhang mit dem Ereignisbegriff zu sprechen. Er betont, dass Medien eine »performative Funktion« (S. 194) haben, da es meist die »medialen Repräsentationen« (S. 194) seien, die das Ereignis überhaupt erst konstituieren. Diese Aussage wird er am Schluss des Beitrags noch einmal mittels der Unterscheidung von »historischen Medienereignissen« und »medial inszenierten Medienereignissen« konkretisieren (S. 203). Für den ersten Typus bedürfe es zumindest eines »auslösenden Schlüsselereignisses«, wohingegen der zweite ohne selbiges auskommt. Nünning zeigt allerdings auch auf sehr nachvollziehbare Art und Weise, dass die Grenze zwischen den beiden Typen heute immer stärker verschwimmt und damit einhergehend auch die Grenze zwischen Fiktion und Faktualität von Medienereignissen zuweilen unterminiert werden kann.

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5. Historisches emplotment

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Neben dem Blick auf wichtige Arbeiten aus Erzähltheorie und Soziologie lässt Nünning auch die einschlägigen metahistorischen Arbeiten von Hayden White nicht unkommentiert. Von White scheinen insbesondere die Überlegungen zum emplotment und zur räumlichen und ideologischen Perspektivität bei der Repräsentation von historischem Geschehen gut brauchbar. Der Historiker weist zum einen auf die Notwendigkeit der Verwendung von Gattungsmustern und allgemein narrativen Strukturen hin, die allein die Kontingenz des historischen Geschehens überwinden können. Problematisch ist dies insofern, als die Strukturen selbst bereits mit »ideologischen und politischen Implikationen aufgeladen sind« (S. 196). Zum anderen kann Nünning ganz im Einklang mit Hayden feststellen, dass es, »wie nahezu alle Beiträge in diesem Band unterstreichen, […] überhaupt nur perspektivisch gefärbte Repräsentationen des Krimkrieges [gibt]« (S. 198). Allerdings möchte Nünning keineswegs zu dem Schluss verleiten, dass alle medialen Repräsentationen des Krimkrieges mit Hayden gesprochen nur »verbal fictions« seien (S. 200).

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6. Historische vs. Literarische Medienereignisse

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So unterstreicht er zum Schluss den ontologischen Unterschied zwischen historischen und literarischen Werken der Repräsentation von Medienereignissen:

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Historiographische Werke sind nicht schon deshalb fiktional, weil sie vermeintlich »literarische« Darstellungsmittel verwenden. Ebenso wenig büßen realistische oder dokumentarische Romane ihren fiktionalen Status ein, nur weil sie einen hohen Grad außertextueller Referenzen auf reale Orte, Personen oder Ereignisse haben. (S. 202)
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Um diese Trennung zu schärfen, sei es wichtig, mit den Kategorien der »narrativen Konstruktion«, der »Literarisierung«, sowie der »Fiktionalisierung« zu arbeiten (S. 202). So reicht das »Medienspektrum […] das an der Konstruktion und Repräsentation des Krimkrieges als Medienkrieg beteiligt war« (S. 203) von explizit künstlerischen und fiktionalen ›Texten‹ (hier im weiteren Sinne zu verstehen, also auch Produkte der Bildkünste, u.a.) über biographische Texte und Presseberichte bis hin zu klar historiographischen Texten. Natürlich gelte es in der Zukunft vor allem auch Mischformen, intermediale und intertextuelle Anleihen sowie Gattungskontaminationen zu berücksichtigen. All diese Medien der Repräsentation greifen, so Nünnings Fazit, auf narrative und ästhetische Muster zu, längst nicht alle sind jedoch fiktional.

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Der Beitrag mag für manchen Geschmack etwas zu strukturalistisch und objektfern vorgehen, er zeigt jedoch zweifelsohne, wie hilfreich das erzähltheoretische Instrumentarium für den Versuch der Theoretisierung von Medienereignissen sein kann und in der Zukunft wohl noch sein wird. Man könnte noch bemängeln, dass der Beitrag von Nünning eigentlich nicht näher auf den Krimkrieg eingeht, und diesen, wo überhaupt, nur als ein mögliches Beispiel eines Medienereignisses anführt. Für seine Perspektivierung des Themas ist es weitgehend unbedeutend, ob der Krimkrieg nun der erste Medienkrieg gewesen sein mag, oder nicht. Seine Kriterien ließen sich ebenso auf Ereignisse (und deren Darstellung) der Napoleonischen Kriege verwenden. Dies war aber auch keineswegs des Autors selbstgestecktes Erkenntnisziel und verweist vielmehr auf die eingangs angeführte Problematik der kategorialen Heterogenität der beiden Teile des Sammelbandes.

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Fazit

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Stellvertretend für zwölf durchweg interessante Aufsätze sollen die oben beschriebenen, thematisch sehr unterschiedlichen und doch eng miteinander verwobenen vier Beiträge die Qualität des Sammelbandes bezeugen. Eine der großen Stärken des Bandes ist nämlich der in fast allen Beiträgen manifeste Versuch, gemeinsame und kategorial wertvolle Ergebnisse zu erzielen und so in einen produktiven Dialog (zum Beispiel in Form von Verweisen) mit den anderen Beiträgern zu treten. An dieser Stelle sei auch die facettenreiche Auswahl der Beiträger durch die Herausgeber gelobt.

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Neben den bereits erwähnten Beiträgen befassen sich weitere Kapitel im ersten Teil des Sammelbandes mit der »Überblendung als Form historischer Erinnerung«, insbesondere anhand eines Romans von Charles Kingsley (Beitrag von Martin Windisch, S. 63), mit der »(Un)sichtbarkeit und Darstellbarkeit des Krieges« an der Schnittstelle zwischen russischer Literatur und innovativer Kriegsberichterstattung in den Pressemedien (Beitrag von Susi K. Frank, S. 101), sowie mit der Bedeutung des Krimkrieges für die europäische Militärmusik (Beirag von Didier Francfort, S. 163). Ein letzter Aufsatz nimmt den Geschichtsroman »Master Georgie« von Beryl Bainbrige von 1998 in den Blick. Für diesen ist insbesondere der photographische Umgang mit den Schrecken des Krieges bedeutsam (Beitrag von Hans Ulrich Seeber, S. 173).

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Im zweiten Teil des Sammelbandes komplettieren die Beiträge über »William Howard Russel und die britische Kriegsberichterstattung« (Beitrag von Frank Becker, S. 221), zur »Wahrnehmung und Deutung des Krimkrieges in Preußen« (Beitrag von Hans-Christof Kraus, S. 235), sowie zu den Augenzeugenberichten französischer Offiziere (Beitrag von Philippe Alexandre, S. 257) das von Nünning und Baumgart eingeleitete historisch-methodologische Panorama des Krimkrieges.

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Durch die kompromisslose Beschränkung des Objektbereichs auf die Geschehnisse des Krimkriegs und ihrer medialen Artikulationen gelingt es dem, äußerlich leider unscheinbar gestalteten Band, das altbekannten Forschungsfeld Krieg / Medien / Geschichte in seiner interdisziplinären Verschränkung mit neuer Tiefenschärfe darzustellen. Das Buch bestimmt aber nicht nur den Forschungsstand zum Krimkrieg aus einer interdisziplinären Perspektive, sondern gibt auch wichtige Impulse allgemeinerer Art für die geisteswissenschaftlichen Medienwissenschaften, die sich mit Kriegen als Medienereignisse beschäftigen:

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Durch die unterschiedlichen Beiträge wird hervorragend verdeutlicht dass die »Spanne zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Krieges, […] sowohl ein ästhetisch-mediales Formproblem, als auch ein ontologisch existentielles Dilemma darstellt« (S. 9). Medienhistorisch ist das Buch natürlich insofern wegweisend, als es hervorragend den selbstgesteckten Anspruch erfüllt, den Krimkrieg als ersten Medienkrieg der Geschichte auszuweisen.

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Etwas defizitär fällt leider – mit Ausnahme des Artikels von Ansgar Nünning – die terminologische und theoretische Bestimmung des Forschungsgegenstands aus. So wird um nur ein Beispiel zu nennen das diffuse Phänomen der ›Medienkonkurrenz‹ in der Mehrzahl der Beiträgen erwähnt und auch eingangs als grundlegend apostrophiert, jedoch nirgends systematisch untersucht oder genau definiert. Das Problem ist aber natürlich dem Format des Sammelbandes geschuldet, dem gewöhnlich kein theoretisches Kapitel vorausgestellt wird. Entsprechende bibliographische Hinweise hätten allerdings Abhilfe schaffen können.

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Formal sind, neben der etwas inselhaft anmutenden Stellung eines einzigen fremdsprachigen Beitrages (Didier Francfort, »La guerre de la Crimée: moment fondateur des musiques militaires européennes«) eigentlich nur die Qualität der Abbildungen und die unzureichende Reproduktion der besprochenen Quellen zu bemängeln: da es sich um ein dezidiert intermediales Projekt handelt und, wie Keller konstatiert, gerade die Masse der optischen Signale und Bilder […] dem Krimkrieg […] einen spektakulären Charakter verliehen» (S. 18), was ja hervorgehoben werden sollte, hätte man sich Abbildungen von besserer Qualität gewünscht. Ein etwas großformatigerer Bildband hätte zudem auch dem in jeder Hinsicht großen Wert des Buches besser Rechnung getragen.

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Ein interdisziplinärer Dialog, der in der Krimkriegsforschung der Zukunft noch unternommen werden sollte, wäre derjenige von Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Medienwissenschaft. Gerade religiöse Überzeugung, so hat sich an den politischen Ereignissen der letzten Jahrzehnte gezeigt, funktioniert immer stärker über die Macht der Bilder. Der britische Historiker und Krimspezialist Orlando Figes räumt jüngst in seinem Buch Crimea. The last Crusade 7 dem Krimkrieg, konform der hier vertretenen Ansätze, eine historische Schwellenstellung ein: er bezeichnet den Krimkrieg nicht nur als »letzten Kreuzzug« 8 sondern zugleich auch als ersten Religionskrieg moderner Prägung. Dies ließe sich hervorragend an die Argumentationen über das Funktionieren der modernen Medienrepräsentationen von Kriegen aus dem vorliegenden Band anschließen.

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Auf jeden Fall kann man sich nach der Lektüre des überzeugenden Sammelbandes von Georg Maag, Wolfram Pyta und Martin Windisch voller Überzeugung Kellers Plädoyer anschließen, mediale Repräsentationen des Krimkrieges und somit natürlich auch diejenigen anderer Kriege der Moderne in Zukunft unbedingt als historische Faktoren in Rechnung zu stellen (S. 21).

 
 

Anmerkungen

Vgl. z.B. den Sammelband: Karmasin, Matthias (Hg.): Krieg, Medien, Kultur. Neue Forschungsansätze. München: Fink 2007, oder die von Thomas F. Schneider herausgegebenen Sammelbände: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des modernen Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. The Experience of War and the Creation of Myths: The Image of »Modern« War in Literature, Theatre, Photography, and Film. 3 Bnd. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 1999: lediglich der Artikel von Miroslav Zahrádka in Band I verweist an einer Stelle auf den Krimkrieg (S. 72). Die seit 1989 von Claudia Glunz und Thomas F. Schneider herausgegebene Reihe Krieg und Literatur / War and Literature widmet das Jahrbuch 2011 explizit dem Thema Medien und Krieg vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, ohne jedoch den Krimkrieg zu berücksichtigen. (Glunz, Claudia / Schneider, Thomas F. (Hg.): Von Paraguay bis Punk. Medien und Krieg vom 19. Bis zum 21. Jahrhundert: Osnabrück: V&R Unipress 2011 [International Yearbook on War and Anti-War Literature, Vol. XVII]). Lediglich im Jahrbuch von 2009 derselben Reihe widmet sich ein Artikel der medienhistorischen Bedeutung des Krimkrieges: Emig, Rainer, »Bringing War Home: The Crimean War, the Telegraph, and Florence Nightingale«, in: Glunz, Claudia / Schneider, Thomas F. (Hg.): Wahrheitsmaschinen. Der Einfluss technischer Innovationen auf die Darstellung und das Bild des Krieges in den Medien und Künsten: Osnabrück: V&R Unipress 2009 [International Yearbook on War and Anti-War Literature, Vol. XV].   zurück
Eine wichtige Ausnahme bildet hier die Publikation von Ulrich Keller, die den Blick der Forschung auf das bedeutsame Feld der Visual History lenkt: Ulrich Keller: The Ultimate Spectacle: A Visual History of the Crimean War: Amsterdam: Gordon and Breach Publishers, 2001. Auf die Fülle der einschlägig historiographischen Literatur über den Krimkrieg, besonders in den angelsächsischen Ländern verweist Winfried Baumgart in seinem Artikel (S. 210).   zurück
Vgl. in der Einleitung der Herausgeber: »Derlei Grundfragen zum Verhältnis von technologischer und ästhetischer Moderne stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes« (S. 8).   zurück
Den Meinungsmarkt beherrschte die Times, doch der Punch galt mit einer Auflage von ca. 40.000 (vgl. Times: ca. 61.000) als ihr »weekly illustrated comic supplement« (vgl. Stenzel, S. 140).    zurück
Vgl. z.B.: » Der Krimkrieg, auch dies ist im Punsch gut nachvollziehbar, entfachte in Großbritannien eine regelrechte Kreuzzugsstimmung, […]. Dass die Grenze zwischen Satire und politischer Propaganda dabei oft zugunsten letzterer überschritten wurde, […], erscheint dabei kaum erstaunlich« (S. 141).   zurück
Forschungsprogramm des Kollegs: http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/dfgk/tme/forschungsprogramm (22.3.2012); eine wichtige Publikation von Ansgar Nünning in diesem Zusammenhang ist: Friedrich Lenger/Ansgar Nünning (Hg.): Medienereignisse der Moderne. Darmstadt 2008.   zurück
Orlando Figes: Crimea. The Last Crusade. London: Lane 2010.   zurück
Figes nennt als die eigentliche Wurzel des Krimkrieges den Jahrhunderte alten Konflikt um das Heilige Land.   zurück