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Der achtfache Ehrendoktor

Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann in Amerika, erzählt von Hans Rudolf Vaget

  • Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938-1952. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2011. 545 S. Gebunden. EUR (D) 24,95.
    ISBN: 978-3-10-087004-9.
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Auch ein Drei-Zeilen-Plan

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»Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me«, erklärt Thomas Mann bei seiner Ankunft in New York am 21. Februar 1938 (vgl. S. 63 f.) und fährt fort: »I have contact with the world and I do not consider myself fallen.« 1

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Ist es übertrieben, wenn man diese Worte als einen zweiten, gewissermaßen als den amerikanischen Drei-Zeilen-Plan des Doktor Faustus versteht? 2 Ein Künstler, der das Deutsche nicht nur verkörpert, sondern repräsentiert; sein schwieriges Verhältnis zur »Welt«, die nach ihm verlangt, ihm aber auch ein fremdes und unangenehmes Idiom aufzwängt; 3 schließlich der Gedanke an einen »Fall« aus größter künstlerischer Höhe und Anerkennung: 4 all das sind zentrale Motive des Doktor Faustus. Und sehnt sich nicht Adrian Leverkühn, wenn auch vergebens, nach einem »Durchbruch« zu einem post- beziehungsweise supranationalen Zustand, 5 wie ihn Thomas Mann 1945 als sein im Exil erworbenes »Weltdeutschtum« 6 (vgl. S. 16, 466) für sich reklamiert hat?

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So gesehen, ist der Doktor Faustus nicht nur ein sehr deutscher, sondern auch ein sehr amerikanischer Roman. Und wie sollte er es als Thomas Manns »radikale Autobiographie« 7 auch nicht sein? Thomas Mann stellt 1938 seinen Einbürgerungsantrag. 1940 gibt er in einem Radio-Interview kund: »I Am an American« 8 , 1944 wird er Amerikaner (vgl. S. 62). Im März 1943 beginnt er mit dem Roman, Ende Januar 1947 beendet er ihn. Ja, es ist viel ›Amerika‹ im späten Thomas Mann, und er hat diese interkulturelle Öffnung nicht nur zugelassen, sondern willkommen geheißen. 9 Lapidar sagt der im fortgeschrittenen Alter von 63 Jahren ins Exil Getriebene 1945: »Mir hat die Fremde wohlgetan.« 10 (S. 14)

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Kein Heimweh: der verfremdende Deutsche

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Man muss sich klarmachen, wie diametral eine solche interkulturelle Offen- und Gelassenheit zur topischen Diaspora-Erfahrung der Deutschen stehen, wie sie sich etwa in Wilhelm Müllers Sehnsuchts- und Heimweh-Formel »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus« niedergeschlagen hat, in Heinrich Heines Klagen aus dem Pariser Exil oder in der kalifornischen Verlassenheit Heinrich Manns und vieler anderer Emigranten. Sie alle hatten Heimweh nach Deutschland. Nicht so Thomas Mann, der am 1. Juli 1950 aus dem Dolder Grand Hotel in Zürich an Theodor W. Adorno schreibt: »Nach Deutschland bringen mich keine zehn Pferde. Der Geist des Landes ist mir widerwärtig.« (S. 483) Tatsächlich stellt er sogar die Logik des von Marcel Reich-Ranicki auf die deutsche Literatur umgemünzten Heine-Wortes von der Literatur als »portative[m] Vaterland« 11 auf den Kopf, indem er nicht nur deutsche Literatur mit in die Fremde nimmt, sondern vielmehr aus der Fremde in ihr entstandene, gewissermaßen verfremdete deutsche Literatur nach Deutschland zurückliefert und so sein portatives Vaterland neu schreibt und umschreibt.

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Nicht dem Deutschen entfremdet, sondern das Deutsche im Fort- und Umschreiben verfremdend: das ist Thomas Mann, der Amerikaner. Kein Wunder also, dass der Teufel im Doktor Faustus, interkulturell und tongue in cheek, vom Spiel mit der »Zunge im Mundwinkel« spricht: das englische Idiom als teuflische deutsche Metapher.

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Aufbau und Methode des Buches

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Bis heute, das zeigt ein Blick in die Thomas-Mann-Forschung, versteht sich das Gesagte nicht von selbst, und ohne Hans Rudolf Vaget verstünde es sich vielleicht gar nicht – ganz sicher jedenfalls nicht im Sinne jenes umfassenden und lebendigen Bildes von Thomas Mann, dem Amerikaner, das Vaget jetzt mit seiner jüngsten gleichnamigen Monografie von knapp 600 Seiten vorgelegt hat.

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Im Umfang überbietet Vaget damit sogar noch sein 2006 erschienenes Buch Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Methodisch und erzählerisch knüpft er an dieses Buch von herausragender, wenn nicht einmaliger Bedeutung für sein Forschungsfeld an, 12 und das ist eine gute Entscheidung. Hier wie dort geht es um die »seismographische[] Erfassung der das politische Leben steuernden Mentalitäten« (S. 496, ähnlich S. 500), hier wie dort wahrt Vaget vorsichtig Distanz zu den grands récits und erzählt Geschichte in Geschichten. Am Ende wird dann, wie auch bei Thomas Mann selbst, doch ›Geschichte erzählt‹, aber das geschieht in »prismatische[r]« Brechung (S. 20) und mit einem feinen Sinn für ihre Widersprüche und Fragen, die offen bleiben.

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Das Buch gliedert sich in eine Einführung zu den »Vierzehn Jahre[n] Exil in den USA« (S. 11–26) und drei große Abschnitte mit den Überschriften »Annäherungen an Amerika« (S. 27–215), »Amerika – ›die große Verführung‹« (S. 217–411) und »Die ›heimatliche Ferne‹« (413–502).

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Das längste Kapitel von mehr als 80 Seiten heißt »Die Meyer« (S. 157–215). Seine Geschichte, hervorgegangen aus Vagets Kommentar des Briefwechsels von Agnes E. Meyer und Thomas Mann, bildet die Keimzelle des gesamten Buches (S. 503) und zugleich so etwas wie eine novellistische Einlage: es verhält sich zum gesamten Buch in etwa wie der erste Aufzug der Walküre zu Wagners Ring des Nibelungen oder, genauer, wie die von Thomas Mann so genannte »Thamar-Novelle« (S. 210) zu den Joseph-Romanen. Wer zunächst nur ein Kapitel des Buches lesen mag, der lese dieses.

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Gegen die alten Vorurteile: Vagets Anspruch

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Offiziell begegnet die Bundesrepublik Deutschland Thomas Mann, wenn das Wort des Bundespräsidenten dafür als Indikator gelten darf, erst seit Horst Köhlers Rede zu Thomas Manns fünfzigstem Todestag im Jahr 2005 ohne – zumindest latente – Ressentiments (vgl. S. 12 f.). Vom »Tiefpunkt« der »Reputationskurve in Deutschland« im Gedenkjahr 1975 bis zu Köhlers pathosbeladener, im Bendlerblock-Ton gehaltener Gedenk-Adresse an Thomas Mann – »Wir verneigen uns in Dankbarkeit« (S. 13) – ist es ein weiter Weg. Vielleicht mussten noch die letzten Zeitzeugen der Hitler-Zeit sterben, bevor man Thomas Manns Auffassung erträglich finden konnte, die Deutschen verdienten die Bombardierung durch die Alliierten und ihre Zerstörungen (S. 416).

[15] 

So oder so ist erst in jüngster Zeit diejenige unheilige Allianz der Thomas-Mann-Verächter zu einem Ende gekommen, in der Hitler-Diener, Innere Emigration, Linkes Establishment der 1970er und -80er Jahre und die Verächter Thomas Manns als »Inbegriff der Unehrlichkeit und der Feigheit« 13 zusammenkamen – eine Allianz, der sogar noch die von Joachim Fest vertretene Auffassung zuneigt, Thomas Mann sei politisch ignorant gewesen (S. 496–498).

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Gerade hier setzt Vaget an, um mit dem alten »von Mutmaßungen, Klatsch und Ressentiments überwucherte[n] Phantom« des amerikanischen Thomas Mann aufzuräumen, dessen Verständnis noch zusätzlich durch die »in der deutschen Kultur« – und in der Tat auch bei Thomas Mann selbst – 14 »tief verwurzelten Vorurteile gegen Amerika und seine Kultur« erschwert wird (S. 18). Vagets Credo lautet:

[17] 
[Thomas Mann] ist den Weg der Selbsterkenntnis und Verantwortlichkeit früher und entschlossener gegangen als die große Mehrheit der Deutschen, auch als die große Mehrheit der deutschen Historiker. (S. 26)
[18] 
Eine der herausragenden Eigenschaften von Thomas Manns Deutschlandroman [Doktor Faustus] ist die Tiefenschärfe seiner historischen Perspektive. (S. 455)
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Das zu zeigen, ist der Anspruch des Buches. Er ist gewaltig, handelt es sich doch, genau betrachtet, um die Totalrevision eines über Jahrzehnte zwar aus den unterschiedlichsten Wurzeln hervor-, dann aber doch zusammengewachsenen Konsenses.

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Dinner beim Präsidenten

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Thomas Manns »lange[r] Weg nach Westen« ist begleitet von Sprachfrustration. Als Thomas Stearns Eliot 1948 der Nobelpreis für Literatur verliehen wird, notiert Thomas Mann im Tagebuch: »Neid auf den Vorteil in die englische Kultur u. Sprache hineingeboren zu sein.« (S. 29, Tb. 16.11.1948) Was heute den Studierenden im ersten Bachelor-Semester gepredigt wird, sieht schon Thomas Mann: Englisch ist »das unentbehrliche Fenster zur Welt« (S. 32). Und so bemüht er sich um sein Englisch, bis er es ganz leidlich beherrscht (S. 33–37) und sich gar über Ludwig Marcuses »[s]chlimme Berliner Aussprache« des Englischen mokieren kann (S. 35 f., Tb. 25.4.1952).

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Katia und Erika Mann bleiben ihm dennoch immer im Englischen überlegen (vgl. S. 84 f., 165), und selten wird es Thomas Mann so bedauert haben wie bei seinen Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, den er Vaget zufolge aus »Sympathie und Kalkül« zugleich (S. 19) »liebte« und »idolisierte« (S. 67) – Josephs ägyptischer »New Deal« (S. 151) zeugt davon (vgl. S. 68, 143–145, 149–156). Sicher, Thomas Mann wird sich nicht nur bei seiner Kniebeuge vor Pius XII, sondern auch bei seiner Roosevelt-»Heldenverehrung« von seinem »tief sitzenden Schriftstellerinstinkt« haben leiten lassen (S. 81) – faszinierend ist sie deshalb nicht weniger. Was hätte es zu besprechen gegeben! Sogar einen Ring des Nibelungen hatte Roosevelt in Bayreuth gesehen (vgl. S. 85). Im Gedächtnis bleiben Thomas Mann jedoch nach dem ersten Roosevelt-Besuch sein deutsches »Auf Wiedersehen«, das »amerikanische[] Lachen« (Tb. 29.6.1935) und das unerwartet »[m]äßige[] Essen« (S. 83 f.).

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Dennoch ließ man einen zweiten Besuch arrangieren, und dieses Mal gab es sogar zwei Übernachtungen im Weißen Haus – wohlgemerkt, nicht in seinem Gästehaus, sondern im Weißen Haus (S. 109). Was Vaget rund um diesen Aufenthalt erzählt, ist Thomas-Mann-Biografie und US-amerikanische Historiografie zugleich. Hochinteressant das Portrait des Schriftstellers Hendrik Willem Van Loon (S. 76–82), der den Kontakt zur Präsidentengattin Eleanor Roosevelt über ein erstmals von Vaget publiziertes Telegramm herstellte (S. 79, abgedruckt S. 553 f.), faszinierend das Portrait des – mit den Worten Thomas Manns – »Rollstuhl-Cäsar[en]« Roosevelt selbst (S. 89–95), in dem Thomas Mann »eine Künstlernatur« sah: und zwar eine so anziehende, dass der von Vaget aus dem Tod in Venedig für diesen tragisch geschwächten und vielleicht gerade dadurch erst recht körperlich anziehenden »Heldentyp« herbeizitierte Vergleich mit der »Sebastian-Gestalt« kaum treffender gewählt sein könnte (S. 94). Über dem Sebastian kommt in Thomas Manns erotischer Privatmythologie nur noch der Hermes, und siehe da: Joseph trägt die »Maske [...] eines amerikanischen Hermes« (S. 151) – das ist der höchste Orden, den Thomas Mann Roosevelt verleihen konnte.

[24] 

All diese Geschichten sind, wie gesagt, deutsche, amerikanische und Welt-Geschichte zugleich, und Vaget entrollt sie vor dem Hintergrund von Monroe-Doktrin (S. 107), Morgenthau-Plan (S. 133, 424) und Dreimächtekonferenz in Teheran (S. 132).

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»Die Meyer«

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Ja, Weltgeschichte und Privates gehen hier Hand in Hand, und da ist es mehr als praktisch, wenn sich eine so listige Helferin der weltgeschichtlichen Vernunft einfindet, wie es Agnes E. Meyer für Thomas Mann ist. Als dea ex machina immer zur Stelle, wenn finanzielle oder organisatorische Not am Mann war, wird sie zu einer – schwierigen (S. 188, 192 f.) – Freundin Thomas Manns, die ihm mehr Gutes tut, als in der Literatur jeder noch so laxe Umgang mit dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit zuließe. Sie schreibt eine enthusiastische Rezension des Joseph in Egypt, die gleichzeitig in New York Times und Washington Post erscheint (S. 169 f.), besorgt ihm eine Sinekure bei der Library of Congress (S. 178) und eine Lecturer-Stelle an der Universität Princeton (S. 182 f.) und lässt auch sonst ihre Beziehungen spielen (S. 181).

[27] 

Er liefert ihr Vorabinformationen aus seinen entstehenden Werken (S. 194) und schreibt ihr mehr Briefe als irgendeinem Menschen sonst (S. 168). Dabei liebt sie ihn offenbar heftig und er sie gar nicht – und so hat er mit ihr zwar keine Ehe, aber die Ehe-Probleme, die er mit seiner Ehefrau Katia gerade nicht hat.

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Agnes Meyer jedenfalls hat nach ihren eigenen Worten »an absorbing, if unrequited passion« für Thomas Mann (S. 164), und die Blüten und Stilblüten dieser – einer sehr merkwürdigen Ring-Geschichte zum Trotze (S. 190–194) – in eroticis kategorisch unerwiderten Passion muten manchmal geradezu boccaccio- oder auch kafkaesk an. So schreibt Agnes Meyer allen Ernstes an Thomas Mann von ihrem »intensivsten Lesen[]« des Joseph in Ägypten:

[29] 
Jeden Tag kletterte ich stundenlang (nackt bis zur Taille [...]) und sass auf manchem Gipfel in Gedanken versunken die so peinlich wie rettend waren. [...] Mit Dankbarkeit gingen meine Gedanken auch dem unbekannten Autor entgegen der jetzt in einem fremden Lande leben musste. Mit dem Fuss stiess ich im Gehen lose Steine ins Tal hinab und sagte mir ›Genau so kann ich ihm Steine aus dem Weg räumen.‹ Das war der Anfang, lieber Freund; das ist heute noch das Leitmotif, trotz aller momentane Verwirrung und Selbstbeschäftigung. (S. 169)
[30] 

Und diese vulgärfreudianische Phantasie vom Lostreten einer Steinlawine ist kein Einzelfall gegenüber dem Geliebten, den »zu lieben«, so Agnes Meyer in einem Brief an ihn, »ein komplizierter Solo-Tanz« ist (S. 208). Dennoch lässt sie nichts unversucht. Edward Fitzgerald zitierend, schreibt Agnes Meyer ihrem Thomas Mann die anzüglichen Liebesverse »Ah! My beloved, fill the cup that clears / Today of past regrets and future fears« (S. 171), und mitunter nähert sie sich ihm bei einem Vier-Augen-Treffen, wie soll man sagen: unsittlich? Er jedenfalls beschwert sich im Tagebuch über ihre »[b]edrückende Fixierung auf meine Person«, und dann: »Schrecklich. Will da noch das Weib in mein Leben treten, allen Ernstes.« (S. 207 f., Tb. 2.3.1942) Und das nicht nur einmal: »Madame zum Abschied in mein Zimmer, schlimme Innigkeit. Fort, fort.« (S. 240, Tb. 22.11.1942)

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Vieles von diesen Begebenheiten ist in den Doktor Faustus eingegangen. So nimmt etwa Vagets These von der in den theologischen Gnadendiskurs eingebetteten »geheimen Identität Frau von Tolnas«, der Gönnerin Adrian Leverkühns, mit der Prostituierten Hetaera Esmeralda hier ihren Ausgang (S. 206). Und auch die Thamar des Joseph ist ohne Agnes Meyer kaum denkbar, ist Thamar doch Thomas Mann zufolge ein »merkwürdiges Frauenzimmer, das keine Mittel scheut, sich in die Heilsgeschichte einzuschalten« (S. 212) – ganz ähnlich also, wie es Agnes Meyer in dem Brief mit der nackten Taille schreibt (S. 169, vgl. S. 214 f.) und mit Blick auf die Geschichte ihres Heilands Thomas Mann immer wieder versucht hat.

[32] 

Hinreißend sind die hier nur knapp umrissenen Lektüren Vagets. Besser lässt sich historischer Kontext nicht in literarische Interpretation ummünzen. Überzeugender lässt sich nicht zeigen, wie aus ohnehin schon mehr als erzählenswerten Fakten noch raffiniertere Fiktionen werden –»Geschichten nur, und doch Geschichte«: dieses Versprechen löst Vaget in idealtypischer Weise ein. Und so folgen im Register einander Einträge wie »Hofmannsthal«, »Hölderlin«, »Hollywood Anti-Nazi League« und »Homer«, gleich darauf J. Edgar »Hoover« und Max »Horkheimer« (S. 570).

[33] 

Dry Counties, Stadthallen, Universitäten.
Und die Ehrendoktorhüte

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An das Meyer-Kapitel schließt eine Art Alltagsgeschichte der Reise- und Vortragstätigkeit Thomas Manns an. Sie ist detailliert und lebhaft. In einer verschlossenen Karteikarten-Kiste transportieren die Manns Whisky in »dry counties« – denn auf Alkohol will man genauso wenig verzichten wie auf die familienintern »Heiterlein« genannten »Ermutigungs-Tabletten« (S. 228). Die amerikanische Fragekultur stört Thomas Mann: »Dickhäutige Ausnutzung mit Questions bis zum Letzten. Sollte es nicht dulden. Gequält und übermüdet um 1 Uhr ins Bett«, schreibt Thomas Mann nach einem Vortrag in Birmingham, Alabama, am 21.10.1941 ins Tagebuch (S. 257).

[35] 

Solche Vorträge sind allerdings der Preis für jene öffentliche Beachtung, die Thomas Mann nicht nur viel Geld (S. 185, 220, 268, 282 und 326) bringen – etwa das »fürstliche Honorar von 15000 Dollar für fünfzehn Auftritte« in der Vortragssaison 1937/38, das »dreifache[] Jahresgehalt eines amerikanischen Professors« (S. 241). Außerdem bringen sie ihm am Ende acht Ehrendoktor-Titel ein (S. 267, 297), die sich – so Vaget – zwar nicht mit Thomas Manns mangelnder Neigung zu Lehre und Studentengespräch (vgl. S. 284), wohl aber mit seinem quasi-wissenschaftlichen »Geiste der Genauigkeit« (S. 267) vertragen. Dennoch »fürchte[t]« sich Thomas Mann »vor der Gelehrten-Atmosphäre, und das Movie-Gesindel« von Hollywood ist ihm »im Grunde lieber.« (S. 288)

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Noch weniger lieb als die Gelehrten im Allgemeinen sind ihm die Germanisten – Hermann Weigand halb ausgenommen und halb eingeschlossen, 15 den – so Vaget – »bedeutendsten amerikanischen Germanisten des 20. Jahrhunderts« (S. 290). Sein 1933 veröffentlichtes Buch über den Zauberberg war

[37] 
maßgeblich dafür verantwortlich [...], dass Thomas Mann in den einschlägigen Lehrveranstaltungen auf lange Zeit, neben Proust und Joyce, als einer der drei Hauptrepräsentanten des modernen Romans gehandelt wurde. (Ebd.)
[38] 

Damit war Weigand der bundesrepublikanischen Germanistik mehr als ein halbes Jahrhundert voraus. Und auch seinen amerikanischen Kollegen war er voraus, indem er sich als »Fürsprecher des prominenten Exilanten« hervortat, als dies die anderen »Gaufürsten der amerikanischen Germanistik« (S. 290) aus Loyalität mit Deutschland, das zum ›Dritten Reich‹ geworden war, peinlich vermieden. Differenziert, aber im Ergebnis hart ist Vagets Urteil:

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Die große Mehrheit [der amerikanischen Deutschlehrer und Germanisten], für die die Frage der angemessenen Reaktion auf Hitler und das Dritte Reich ideologisch und psychologisch gesprochen eine Zerreißprobe war, übte Zurückhaltung, jedenfalls bis 1939 oder gar bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Man zog sich auf die vermeintlich unanstößige Position des Verstehen- und Vermittelnwollens zurück und zählte dabei auf den ausgeprägten Sinn der meisten Amerikaner für Fairness. Die Zunft als Ganzes, nicht frei von antisemitischen Vorurteilen und Ressentiments, tat sich nicht mit Kritik und Verwerfung hervor. So versagte sie vor einer Aufgabe, die eigentlich ihre Domäne hätte sein sollen, nämlich zu erklären, was in Deutschland vorging und wie es zur Herrschaft des Nationalsozialismus hatte kommen können. (S. 291)
[40] 

Diese Aufgabe aber, so Vaget im Anschluss an Henry Hatfield, Joan Merrick und Frank Trommler, nahm Thomas Mann wahr, indem er »mit seiner beinahe flächendeckenden Vortragstätigkeit« zur »national authority in interpreting the German mind for Americans« wurde (S. 296).

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Dafür, beziehungsweise offiziell für seine literarischen Verdienste, »heimst[]«Thomas Mann »insgesamt acht ›honorary degrees‹ ein«: »Harvard (1935), Columbia (1938), Yale (1938), Princeton (1939), Rutgers (1939), Hobart College (1939), University of California, Berkeley und das Hebrew Union College (1945).« (S. 297) Damit ist die Schmach der 1936 durch die Nationalsozialisten veranlassten Aberkennung des 1919 von der Universität Bonn verliehenen Dr. phil. h.c. mehr als wettgemacht (S. 298).

[42] 

Nicht alles, was Vaget im Detail über die Promotionsverfahren und ihre Umstände berichtet, ist schmeichelhaft für die Universitäten oder sogar für Thomas Mann. Ausgerechnet die Harvard University, die »einen beträchtlichen Teil dazu beigetragen hatte, das Prestige des Hitler-Regimes zu stärken« und »[w]ie anderswo auch [...] inoffiziell eine Judenquote« hatte (S. 304), beginnt mit dem Ehrenpromotionsreigen – und zwar aus politischen Gründen, hatte sich doch der Universitäts-Präsident James Bryant Conant mit seiner von Vaget ausführlich erläuterten »nazifreundlichen Haltung [...] ein blaues Auge geholt«. Zwei Studentinnen hatten 1934 seine Commencement-Rede mit »›Down-with-Hitler‹-Schreien unterbrochen«, ein »unerhörte[r] Eklat«. Um diese Scharte auszuwetzen, verleiht Harvard den beiden prominenten Hitler-Gegnern Albert Einstein und Thomas Mann 1935 die Ehrendoktorwürde: man weiß, dass man damit »auf einhellige Akklamation treffen« wird (S. 306). Im Ergebnis »ehrte« also »nicht nur Harvard den deutschen Exilanten«, sondern »erwies« »umgekehrt auch Thomas Mann durch sein Erscheinen in Cambridge unwissentlich Harvard einen Dienst« (S. 302).

[43] 

Bezwingender Sex appeal:
Hollywood und die amerikanischen Literaten

[44] 

Erholung vom Akademischen fand Thomas Mann, wie gesagt, beim »Movie-Gesindel« von Hollywood, und es kann ihm nicht ganz unangenehm gewesen sein, dass Janet Flanner 1941 im von Thomas Mann geschätzten und gelesenen New Yorker einen Artikel über ihn publiziert, der den auf den ersten Blick apotheotischen Titel Goethe in Hollywood trägt – wenngleich es sich, näher betrachtet, dabei um ein »dubioses Kompliment« handelt (S. 323). In Hollywood jedenfalls trifft sich Thomas Mann mit dem Who’s who der Filmindustrie, mitunter zu Privatvorführungen, die auch Marlene Dietrich mit ihrem Freund Erich Maria Remarque besucht (S. 359–362), und man lässt Thomas Mann von einer Verfilmung seines Joseph mit dem hübschen Robert Montgomery träumen (S. 353, 356).

[45] 

Eingeschoben in das Hollywood-Kapitel ist ein siebenseitiger Abschnitt mit dem Titel »Der Kinogänger oder die ›Gabe des Schauens‹« (S. 363–369), und was Vaget darin über Schaulust, Blick und Begehren sowie die, wie Thomas Mann allerdings fand, »deutsche[]›Homosexualität‹« (S. 367) schreibt, gehört zum Anschaulichsten und Überzeugendsten, was man zu diesem Thema findet: Wer bisher Laura Mulveys Blick-Theorie 16 nicht glauben mochte, der lese Thomas Mann über die »Gabe des Schauens« (S. 363) beziehungsweise Thomas Mann, wie ihn Vaget betrachtet. Geradezu Gender-Theorie-lehrbuchmäßig trägt Thomas Mann über Elia Kazans Tennessee-Williams-Verfilmung A Streetcar Named Desire mit Marlon Brando in der männlichen Hauptrolle in sein Tagebuch ein:

[46] 
[...] die Sinnlichkeit recht lebhaft ansprechend, besonders durch den immerfort exponierten prachtvollen Torso eines jungen Ehemannes, primitiv und von bezwingendem Sex appeal. (S. 365, Tb. 14.11.1951)
[47] 

Sex appeal war mitunter auch bei literarischen Verbindungen Thomas Manns im Spiel, wie Vaget in einem Kapitel über sein Verhältnis zu »[z]eitgenössischen amerikanische[n] Autoren« beschreibt – einem Kapitel, das in der Tat, so auch im jüngsten Thomas-Mann-Handbuch (vgl. S. 328), bisher dramatisch unterbelichtet geblieben ist. Sei es, dass Thomas Mann Hemingways A Farewell to Arms 1930 als »ein wahrhaft männliches Buch, ein Meisterwerk neuen Typs« bezeichnet (S. 330), sei es, dass der übrigens von William Faulkner als zweiter Fixstern neben Joyce bewunderte Thomas Mann (S. 334f.) mit Begeisterung Gore Vidals The City and the Pillar liest, eine »éducation érotique« und einen »pikaresken Bildungsroman, der heute als unumstrittener Klassiker der ›gay literature‹ hohes Ansehen genießt« (S. 344). Als der Roman nicht beworben und nicht besprochen wird, schickt ihn Vidal »an die beiden Autoren«, die ihm »am meisten bedeuteten«: Christopher Isherwood und Thomas Mann (S. 345).

[48] 

Thomas Mann hat bei der Lektüre – auch – Vorbehalte. Ins Tagebuch schreibt er den mittlerweile fast schon zum Thomas-Mann-Bonmot (oder auch mauvais mot) gewordenen Satz »Das Sexuelle, die Affairen mit den diversen Herren mir eben doch unbegreiflich. Wie kann man mit Herren schlafen« (S. 346). Und doch hat ihn Vidals Roman mit seinem Protagonisten Jim Willard tief beeindruckt, denn, so Vaget: »Bei Lichte besehen war das doch Tonio Kröger im Körper des Hans Hansen – gleichsam ein Hans Hansen mit vertauschtem Kopf!« (S. 346) So verwundert es auch nicht, dass die Vidal-Lektüre, ohnehin schon nach der Franz-Westermeier-Episode und ihrer literarischen Ausschlachtung im Michelangelo-Essay »in erotisch erfrischtem Geist« angegangen (S. 345 f.), »in die Entscheidung, das Felix-Krull-Projekt wiederaufzunehmen, beziehungsreich hineinspielte« (S. 347). »Erweiterung des Schauplatzes nach Amerika?«, fragt Thomas Mann sogar im Tagebuch – so weit wäre es beinahe mit Krull gekommen (S. 347, Tb. 25.11.1950).

[49] 

Dunkle Kapitel: FBI, Vansittart

[50] 

Grob chronologisch aufgebaut, verdüstert sich Vagets Buch zum Ende hin atmosphärisch. Mit einem von Thomas Mann aufgegriffenen Zitat: das Klima in Amerika ist weiterhin gut, aber das Wetter schlecht. 17 Im Kapitel »Unamerikanische Umtriebe« (S. 376–411) geht es um die Verdächtigungen und Verfolgungen der McCarthy-Ära, denen auch Thomas Mann ausgesetzt ist. Am Ende muss er zwar weder vor dem »gefürchtete[n] HUAC« (House Un-American Activities Committee) aussagen (S. 410, 376), noch ist er so schweren Repressionen ausgesetzt wie viele andere Künstler (S. 376–387); dennoch sieht er von Neuem die Bedrohung des Faschismus aufziehen: »Schauerlich berührt von dem schwindenden Rechtssinn in diesem Lande, der Herrschaft fascistischer Gewalt.« (S. 380, Tb. 3.10.1947, vgl. S. 381) Thomas Mann äußert sich öffentlich und zeigt eine »Zivilcourage« (S. 386), die sich auch in den Vaget nach dem Freedom of Information Act ausgehändigten 153 Blättern von FBI-Dokumenten niedergeschlagen hat. Sie sind zwar in Teilen geschwärzt, aber lassen doch erkennen, dass das FBI seit 1937 »weit über tausend mehr oder weniger nützliche ›reports‹« über Thomas Mann »angesammelt hatte« (S. 391–393). Sogar J. Edgar Hoover, der mächtige Boss des FBI, hat sich persönlich über Thomas Mann ausgelassen (S. 389, 398) – schaden konnte er ihm jedoch nicht. Nur Thomas Manns Sinekure bei der Library of Congress wurde 1950 nach Thomas Manns Weimar-Besuch auf Veranlassung des FBI beendet (S. 409–411, 186).

[51] 

Die drei letzten Kapitel von Vaget beschäftigen sich mit Deutschland und ›dem Deutschen‹. Ausführlich skizziert Vaget den »Vansittartismus« (S. 415–442), jene nach ihrem Urheber Sir Robert Gilbert Vansittart benannte Theorie, derzufolge die Deutschen wesensmäßig aggressiv, brutal und gefährlich seien. Nicht nur Thomas Mann stand unter dem Einfluss dieser Theorie, sondern noch Margaret Thatcher, als ihr 1990 Bedenken gegen die deutsche Wiedervereinigung kamen (S. 417), und sogar Willy Brandt (S. 439–442), dem Vaget eine ähnlich »besonnene[] Reaktion« auf die – so Brandts Formulierung –»der Hitlerschen Rassenlehre nahe verwandt[e]« Theorie bescheinigt wie Thomas Mann (S. 440, 442).

[52] 

Dr. Jekyll und Mr. Hyde: das Ein-Deutschland-Theorem

[53] 

Eine ganz andere Theorie des Deutschen, und zwar mit Blick auf sein Verhältnis zum Judentum, entwickelte der von Vaget als »Thomas Manns Wunschjude« bezeichnete (S. 448) Erich Kahler. Sein Buch Israel unter den Völkern hat, so Vaget, Eingang in den Doktor Faustus gefunden – unter anderem mit der Konsequenz, dass der Roman durchaus kein »kurioses antisemitenreines Deutschlandbild« zeichne, wie Ruth Klüger behauptet hat (S. 451). So schreibt Vaget:

[54] 
Israel unter den Völkern war für Thomas Manns Deutschlandbild vermutlich ebenso bedeutsam wie Kahlers Hauptwerk [Der Deutsche Charakter in der Geschichte Europas] über den deutschen Charakter. Jene Schrift bot ihm eine Art Nachhilfestunde über den deutschen Antisemitismus, den er lange unterschätzte, auch an sich selber, und über die deutsch-jüdische Geschichte. Erich Kahler war der einzige unter seinen Bekannten und Gewährsmännern, dem er eine solche Belehrung abzunehmen bereit war, weil, so darf man vermuten, seine Kritik des Deutschtums einherging mit seiner Verherrlichung (S. 452)[,]
[55] 

also mit dem auch hier von Thomas Mann – wie etwa in seinem eigenen Verhältnis zu Richard Wagner – geschätzten »doppelten Blick[]«, der bei Kahler – Thomas Mann zufolge – zu einer »kritisch gebrochenen, verhängnisschweren Liebe« zum ›Deutschen‹ geführt hat, »in welcher das Negative und Positive in schmerzlicher Ambivalenz verschwimmen« (S. 453).

[56] 

Eine ähnliche »Dualität von Gut und Böse« (S. 463), zeigt Vaget, findet Thomas Mann auch in Robert Louis Stevensons Erzählung Dr. Jekyll and Mr. Hyde, die wiederum namengebend war für das 1940 erschienene Buch Germany: Jekyll and Hyde des Thomas-Mann-Bewunderers Sebastian Haffner (S. 467), »eine bedeutende Quelle« des Doktor Faustus (S. 459–470, hier S. 470). Haffner wie Thomas Mann, argumentiert Vaget, bedienen sich des »Jekyll-and-Hyde-Mythologem[s]«, und beide setzen dabei »das ›gute‹ Deutschland als das originale [...], gleichsam als seine Urschrift« (S. 468 f.) – ohne jedoch den, mit Stevenson, »horror of the other self« zu verleugnen (S. 468).

[57] 

Mit dieser »Ein-Deutschland-Theorie« (S. 470, 475) unterscheidet sich Thomas Mann, so Vaget, von der »Zwei-Deutschland-Theorie« der meisten Emigranten (S. 474). Das wie auch »die erste und gewichtigste Würdigung der Geschwister Scholl und ihrer Freunde in der deutschen Literatur« (S. 474), also der symbolischen Bedeutung des deutschen Widerstandes (S. 471 f.), rechnet ihm Vaget als historische Klugheit und ›Weitsicht‹ (S. 474) an.

[58] 

Manifest gegen Fest

[59] 

Als Konsequenz daraus wendet sich Vaget scharf gegen Joachim Fests 1985 veröffentlichtes Buch Der unwissende Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, das sich in methodologisch unsauberer Weise auf ein ohnehin später von diesem zurückgenommenes Zitat Golo Manns stütze (S. 496 f.). Vor allem aber, so Vaget, werde »der ›amerikanische‹ Thomas Mann von Fest kaum beachtet« (S. 497). Die daraus resultierende »Abwehrhaltung gegenüber dem politischen Thomas Mann verbindet Joachim Fest mit der Einstellung der Inneren Emigration«, schreibt Vaget und fährt fort:

[60] 
Die Entschlossenheit [...] eines Joachim Fest, Thomas Mann keine Herrschaft einzuräumen über die Deutung der jüngsten deutschen Geschichte, ist keineswegs Vergangenheit. Sie kennzeichnet auch die Bemühungen gewisser Hüter des kulturellen Gedächtnisses, wie das Beispiel der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann erkennen lässt. In ihrem 1999 erschienenen Essay Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit mustert Assmann den »Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945« und beschreibt eine große »demokratische Erfolgsgeschichte«, an deren Ende ein politisch reifes, mit seiner Vergangenheit in Frieden lebendes Land steht. Zu dieser Erfolgsgeschichte habe Thomas Mann [...] nicht nur nichts beigetragen; seine Ansichten zur deutschen Katastrophe seien sogar hinderlich gewesen, und zwar auf Grund der angeblich bedrückenden »psychischen Wirkung der Kollektivschuldthese« 18 . Thomas Mann [...] sei »nicht bereit« gewesen, »sich mit dem Gedanken eines verborgenen besseren Deutschland zu trösten«; stattdessen habe er die angeblich »amerikanische Perspektive der Kollektivschuld übernommen und sich selbst mit der Verurteilung von außen identifiziert«. (S. 498)
[61] 

Das aber sei, so Vaget, »immer noch derselbe Abwehrreflex gegen Thomas Mann, den Amerikaner, wie der der Inneren Emigration, nur diskreter und intellektuell versierter vorgetragen« (S. 498 f.).

[62] 

Fazit. Und Interview mit Gott

[63] 

Gegen diesen Reflex also richtet sich Vagets Buch, und dies mit vollkommen überzeugendem Erfolg. Thomas Mann ist kein »unwissender Magier« (S. 496), im Gegenteil: viele seiner Analysen und Voraussagen haben sich bestätigt – so auch der traurige Satz, dass die Krematorien der Vernichtungslager als »das Denkmal des Dritten Reiches« 19 im Gedächtnis der Menschheit fortleben werden (vgl. S. 501).

[64] 

Die Revision des genannten Vorurteils gegen Thomas Mann ist ein Ertrag von Vagets Buch. Seine historiografische wie philologische Leistung insgesamt ist jedoch viel höher und reicht viel weiter. Allein schon der historiografische Informationsgehalt des Buches ist unübertroffen – sofern es denn einen solchen Bestand von aufzunehmenden Fakten vor dem Geschichtenerzählen und -interpretieren überhaupt gibt.

[65] 

Falls nicht – auch gut. Denn Vaget ist ein glänzender Erzähler, genau, unprätentiös, fair und witzig. Manchmal stilistisch von ›amerikanischer‹ Nonchalance: auch er dann unterwegs auf der »Überholspur der Geschichte« (S. 16); sehr selten mit Thomas Mann’schem Pathos – oder mit seiner Ironie? –: Thomas Mann als »Meister der mächtigsten Prosa-Epopöen der deutschen Literatur« (S. 52); immer aber treffsicher. Phantastisch sein Gespür für kleine erzählerische Vignetten, in denen sich die große Geschichte spiegelt: so etwa das Unglück mit der von Agnes Meyer als Geschenk empfangenen seidenen Hausjacke, die Thomas Mann mit dem Grund – oder auch unter dem Vorwand – gegen ein Modell mit anderem Schnitt umtauschen will, sie sei ein paar Zentimeter zu kurz, die allerdings eine Maßanfertigung ist und außerdem noch das gleiche Modell, das schon Arturo Toscanini bekommen hat (S. 189). Oder die Anekdote, wie sich Thomas Mann ausgerechnet am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, zum Golfspiel überreden lässt – mit der Folge, dass es sich »unrichtig« anfühlt, und zwar nicht nur, weil er »im Bade-Anzug« zu spielen versucht (S. 86, Tb. 5.7.1935).

[66] 

Nein, Thomas Mann spielt nicht Golf, trinkt nur vorübergehend einmal, dann aber »in Mengen« und »zu jeder Mahlzeit [...] Coca Cola«, 20 und er gehört auch nicht zu den Typen, die »Mittwest-Slang reden u. es verstehen, dabei die Beine auf den Tisch zu legen« (S. 380, Tb. 27.9.1947). Aber auch die allermeisten Amerikaner tun das nicht. Thomas Mann weiß das nach vielen Jahren und Zehntausenden von Bahnkilometern:

[67] 
Thomas Mann hat mehr von Amerika gesehen und zu mehr Amerikanern gesprochen als jeder andere deutsche Emigrant. [...] Deshalb war Thomas Mann mit Pauschalurteilen über Amerika und die Amerikaner weniger rasch zur Hand als die meisten seiner Schicksalsgenossen. Wie sie alle war er mit massiven Vorurteilen und Klischeevorstellungen gekommen. Je länger er im Land lebte, desto mehr Vorurteile warf er über Bord. Er warf sie sozusagen aus dem fahrenden Zug. (S. 266)
[68] 

Am 29. Dezember 1949 empfängt der, wie er zu Lebzeiten in den Vereinigten Staaten gelegentlich apostrophiert wird, »greatest living man of letters« (S. 14) in weißen Schuhen und kastanienbrauner Krawatte, einen schwarzen Riesenpudel zwischen den Knien, die sechzehnjährige Susan Sontag zum Interview. Nicht, dass sie darüber gleich ihre Spottlust verloren hätte. Aber Eindruck macht er ihr doch: »I interrogated God this evening at six«, notiert sie später (S. 342).

[69] 

Der deutsche Schriftsteller, der sich ihren Questions stellt, ist Thomas Mann, der Amerikaner.

 
 

Anmerkungen

»Mann Finds US Sole Peace Hope«, in: New York Times, 22.2.1938, S. 13. Zit. nach dem Reprint bei Volkmar Hansen: »Where I am, there is Germany«. Thomas Manns Interview vom 21. Februar 1938 in New York, in: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung, Tübingen 1991, S. 176–188, hier S. 177.   zurück
»›Vormittags in alten Notizbüchern‹, heißt es unterm 27.[3.1943]. ›Machte den Drei-Zeilen-Plan des Dr. Faust vom Jahre 1901 ausfindig. [...]‹« Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, in: ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt/M. 2/1972 (im Folgenden ›GW‹ mit Bandnummer), Bd. XI, S. 145–301, hier S. 115.   zurück
Vgl. zum »Kapitel ›Welt‹«, wie der Doktor-Faustus-Erzähler Serenus Zeitblom in Anführungszeichen schreibt, das Kapitel XXXVII des Doktor Faustus mit dem Auftritt des – wiederum in Anführung so genannten –»›Weltmann[s]‹ « Saul Fitelberg, der den in seiner Aussprache zu »Le Vercune« verballhornten Leverkühn »auf [s]einem Mantel durch die Lüfte [...] führen« und ihn so zur »Welt« verführen will. Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 10.1), Frankfurt/M. 2007, S. 576 f., 579. Fitelberg bietet Leverkühn als deutschem Künstler –»›Ah, ça c’est bien allemand, par exemple!‹ « (ebd., S. 583) – jenen Durchbruch zur Welt, an dem Deutschland in den Jahren nach 1914 militärisch gescheitert ist. Die Formel für den »deutschen Durchbruch zur Welt« beziehungsweise »Durchbruch zur Weltmacht« (ebd., S. 448 und 447) lautet »Kaisersaschern [möchte] Weltstadt werden« (ebd., S. 448). Leverkühn, dessen Kunst diese Formel ästhetisch repräsentiert, lehnt sie politisch ab. 1914 sagt er zu Zeitblom: »[V]orderhand wenigsten wird das krude Geschehen [der Kriegsausbruch 1914] unsere Ab- und Eingesperrtheit erst recht vollkommen machen, und wenn ihr Kriegsvolk noch so weit vorschwärmt ins Europäische. Du siehst ja: ich kann nicht nach Paris gehen. Ihr geht statt meiner.« Ebd., S. 448. Allerdings sagt Leverkühn auch: »[W]er leugnet es denn, daß so ein rechter Durchbruch das schon wert ist, was die zahme Welt ein Verbrechen nennt!« Ebd., S. 449 (Kapitel XXX). Später schlägt Leverkühn Fitelbergs Angebot aus, nach Paris zu gehen und als Künstler in der »Welt« zu reüssieren.   zurück
So schon der erste Satz des Doktor Faustus, in dem von der »Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers« Leverkühn die Rede ist. Mann, Doktor Faustus, S. 11.   zurück

Diese Kunst soll, nachdem sie »auf der Höhe des Geistes« bleibend »die gesiebtesten Ergebnisse europäischer Musikentwicklung ins Selbstverständliche« aufgelöst hat, »mit der Menschheit auf Du und Du [sein] ...« Ebd., S. 467 und 469. Vgl. außerdem Anm. 3.

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Thomas Mann: Deutsche Hörer! [30.12.1945], GW XIII, S. 743–747, hier S. 747.   zurück
Vgl. Eckhard Heftrich: ›Doktor Faustus‹: Die radikale Autobiographie, in: Beatrix Bludau, Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann (Hg.): Thomas Mann 1875–1975. Vorträge in München – Zürich – Lübeck, Frankfurt/M. 1977, S. 135–154.   zurück
Thomas Mann: I Am an American, in: Thomas Mann: Essays. Nach den Erstdrucken, textkritisch durchgesehen, kommentiert und hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, 6 Bde., Frankfurt 1993–1997, Bd. 5, S. 132–135.   zurück
»Der Niederschlag der angloamerikanischen Literatur im Werk Thomas Manns fand im Doktor Faustus – unerwarteterweise angesichts der Deutschlandthematik dieses Romans – seinen Höhepunkt. Kein anderer Erzählteppich dieses Autors ist in so hohem Maße von englischer Literatur durchwirkt und weist eine so hohe Wertschätzung der amerikanischen Kultur auf wie dieser.« (S. 46)   zurück
10 
S. Anm. 6.   zurück
11 
Heinrich Heine: Geständnisse, in: Heinrich Heines Sämtliche Werke. 7 Bände, hg. von Ernst Elster, Bd. 6: Leipzig, Wien o.J, S. 15–74, hier S. 57. Vgl. zu Marcel Reich-Ranicki Wolfgang Frühwald: Das »portative Vaterland«, in: Thomas Anz (Hg.): Die Literatur, eine Heimat. Reden von und über Marcel Reich-Ranicki, München 2008, S. 51–64.   zurück
12 
Vgl. hierzu Stefan Börnchen: Die alarmierende Kunst. Musik und Politik bei Thomas Mann: Eine glänzende Studie von Hans Rudolf Vaget. (Rezension über: Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt/M.: S. Fischer 2006.) In: IASLonline [29.02.2008] URL: www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2579› (16.07.2012).   zurück
13 
Hans Erich Nossack: »Der Inbegriff der Unehrlichkeit und der Feigheit«, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Was halten Sie von Thomas Mann? Achtzehn Autoren antworten, Frankfurt/M. 1994, S. 67 f., hier S. 67.   zurück
14 
So etwa, wenn Thomas Mann davon spricht, »aus dem schönen, energischen und zivilisierten Kindervolk der Amerikaner erwachsene und reife Menschen von Kultur zu machen« (S. 39, Thomas Mann: Vorwort zu Ludwig Lewisohns Roman ›Der Fall Herbert Crump‹, GW X, S. 700–703, hier S. 703). Vgl. zu den Kindern auch Anm. 19.   zurück
15 
»Lange zu lesen an Prof. Weigands ungeheuer eingehender Analyse des ›Erwählten‹ in der Germanic Review. Peinliche Ehre: Torheiten über das Sprachliche, aufgefaßt als Emigrantendeutsch. [...] Die Weigand’sche Philologie doch eigentlich ein Ärgernis.« Thomas Mann: Tagebücher 1951–1952, hg. von Inge Jens, Frankfurt/M. 1993, S. 206 f. (26.4. und 27.4.1952).   zurück
16 
Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Screen 16/3 (1975), S. 6–18.   zurück
17 
»Schlechtes Wetter, gutes Klima: Thomas Mann in Amerika« heißt im Anschluss an ein von Thomas Mann zitiertes Bonmot Harold Nicolsons schon Vagets Kapitel im Thomas-Mann-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann, Frankfurt/M. 3/2005, S. 68–77.   zurück
18 
Vgl. hierzu die Differenzierung Vagets S. 482.   zurück
19 
Thomas Mann: Deutsche Hörer! [14.1.1945], GW XI, S. 1106–1108, hier S. 1107.   zurück
20 

In der Entstehung des Doktor Faustus berichtet Thomas Mann, wie er »in Mengen, zu jeder Mahlzeit, [...] Coca Cola [trinkt], – dies populäre, aber freilich auch von Kindern bevorzugte Gebräu, an dem ich weder vorher noch nachher je Geschmack gefunden habe, das nun aber plötzlich mein ein und alles war.« Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 266. Vaget erwähnt diese kompensatorisch durch vorübergehende Alkohol-Abneigung bedingte Vorliebe nicht, wie auch nicht ihre Ursache: nämlich Thomas Manns Lungenkrebs-Operation von 1946. In dem Verweis auf die Kinder klingt möglicherweise noch einmal das Klischee der Amerikaner als »Kindervolk« an (vgl. Anm. 14).

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