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Ein guter Fang ... mit Pfeil und Bogen:
eine überlieferungsgeschichtliche Aufarbeitung von Christus und die minnende Seele

  • Amy Gebauer: 'Christus und die minnende Seele'. An Analysis of Circulation, Text, and Iconography. (Imagines Medii Aevi, Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 26) Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert 2010. 288 S. 92 Abb. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 978-3-89500-757-6.
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Das allegorische Gedicht Christus und die minnende Seele beschreibt die Erwählung der Seele als Braut Christi und ihr gemeinsames Werben bis hin zur unio mystica. Als konzeptionelle Grundlage diente bereits im späten 14. Jahrhundert ein Bilderbogen. Er umfasst je nach Fassung 20 bis 24 Szenen, der Text mitunter über zweitausend Verse, und ist nicht nur in Handschriften, sondern auch in Einzelblattdrucken sowie einem Frühdruck der Jahre um 1500 auf uns gekommen.

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Nun hat die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Amy Gebauer eine umfassende Aufbereitung dieser diversifizierten Überlieferung vorgelegt. Ihre Studie gliedert sich in fünf Großkapitel, deren erste beiden Katalogcharakter tragen, während die darauffolgenden beiden Kapitel überlieferungsgeschichtliche Analysen, das fünfte und letzte eine inhaltliche Auseinandersetzung bieten. Die wichtigsten Ergebnisse werden überdies in einer knappen deutschsprachigen Zusammenfassung (S. 255–258) konzise rekapituliert. Begleitet wird das Buch von insgesamt 92, zum Teil farbigen, durchweg jedenfalls qualitativ ansprechenden Abbildungen.

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Ein mystisches Gedicht in Handschrift und Frühdruck

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Insgesamt bespricht Gebauer acht Handschriften, vier Einblattdrucke und einen Frühdruck. Das stellt eine merkliche – und wie Gebauer zeigen kann: eine wichtige – Erweiterung gegenüber früheren Forschungen dar, die in der Hauptsache auf die handschriftliche Überlieferung fokussiert hatten.

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Gebauer unterscheidet dabei vier Überlieferungsgruppen: zunächst den Einblattdruck mit Text und Bild (»Broadsheet«), der in vier unterschiedlichen Fassungen zwischen der Mitte des 15. und dem späten 18. Jahrhundert auf uns gekommen ist. Er besteht aus zwanzig Bildern in fünf Reihen, die von jeweils vier Zeilen Text begleitet sind. Der nur fragmentarisch erhaltene, spannende chronologische Ausreißer freilich, der von der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe (in: Cod. Donaueschingen 106) verwahrt wird, ist eigentlich kaum dorthin zu zählen, weil es sich dabei ausweislich einer beigefügten Notiz um ein »Facsimile altdeutscher Zeichnungen« (S. 18) handelt, das offenbar im Auftrag von Joseph von Laßberg angefertigt wurde, also einer ganz anderen Produktions- und Nutzungsintention folgt als die anderen drei Einblattdrucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Hier hätte mancher sich angesichts der sonst sehr eingehenden Untersuchungen der Entstehungs- und Besitzergeschichte vielleicht einige Zeilen mehr gewünscht, zumal der Laßberg’sche Nachlass, zu dem auch dieses Stück gehört, in der Landesbibliothek zur Verfügung steht und vergleichsweise gut erschlossen ist. Aber man wird natürlich zugestehen müssen, dass nähere Ausführungen zu diesem Thema nicht mehr in den eigentlichen Fragenbereich einer mediävistischen Arbeit fallen.

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Die zweite Gruppe machen vier Handschriften aus, die eine vorsichtig erweiterte Textfassung ohne Bildbeiwerk bieten (»Broadsheet Text Version«). Zu dieser Gruppe gehört auch das Mainzer Exemplar aus dem späten 14. Jahrhundert als das älteste Zeugnis der Stofftradition; es ist erst 1989 durch Werner Williams-Krapp bekannt gemacht worden. 1 Die ehemals Berliner, jetzt Krakauer Handschrift (Bibloteka Jagiellońska, Berlin Ms. germ. qu. 1303/2), die im Nürnberger Katharinenkloster von Katharina Tucher geschrieben wurde, gibt aber kurze Textbeschreibungen der Bilder. Gebauer deutet das dahingehend, dass der Text aus dem Gedächtnis kopiert wurde – und zwar mit »no means of providing it with illustrations« (S. 87 f.); sie sollten dabei helfen, das Bild vor dem inneren Auge des Lesers wieder entstehen zu lassen. Die ja auch nicht völlig unplausible Deutung, hier seien für einen späteren, dann aber letztlich ausgebliebenen Illustrator beziehungsweise eine Illustratorin Hinweise gegeben worden, zieht Gebauer dagegen nicht in Betracht.

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Auch die dritte Gruppe umfasst ausschließlich handschriftliche Zeugnisse; insgesamt sind es vier, sämtlich, wie auch diejenigen der vorhergehenden Gruppe, Sammelhandschriften. Sie überliefern einen deutlich erweiterten Text.

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Die vierte Gruppe besteht nur aus einem einzigen Textzeugen, einem Frühdruck des Textes in erheblich erweiterter Fassung mit 24 Holzschnitten zuzüglich Titelbild, der um 1500 in der Erfurter Offizin Wolfgang Schenck produziert wurde. 2 Neben die gereimten Verse tritt hier auch Prosatext.

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Wenn die Erschließung dieser vier Überlieferungsgruppen eingangs als ›Katalog‹ bezeichnet wird, so darf nicht der Eindruck entstehen, es würden nur äußerlich-formale Rahmendaten zusammengetragen. Im Gegenteil: Gebauer geht gerade bei der Frage der Schreiber(innen) und Provenienz sehr ins Detail, rekonstruiert Familienbeziehungen und beschreibt Konventskulturen, was später in der Arbeit immer wieder aufgegriffen wird. Auch der ikonographische Katalog lässt an Beschreibungsdichte kaum etwas zu wünschen übrig. Fraglich bleibt, ob nicht eine Anordnung nach Ikonographien sinnvoller gewesen wäre als die letztlich praktizierte Anordnung nach Überlieferungszeugen. So jedenfalls entstehen eine Reihe von Redundanzen und muss der Leser für eigene Vergleiche sehr viel blättern.

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Überlieferungsgeschichtliche Befunde

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Das dritte und vierte Kapitel unternehmen solche Vergleiche, um die Migration von Text und Bild zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern zu rekonstruieren. Sie tun aber noch mehr, denn das allein macht noch keine Überlieferungsgeschichte aus. Vielmehr versucht Gebauer mit viel Feingefühl, die erhaltenen Zeugnisse in ihre Entstehungs-, Verwahrungs- und Rezeptionszusammenhänge einzuordnen. Dabei spielt auch die Vergesellschaftung mit anderen Texten in den Sammelcodices der handschriftlichen Überlieferungsgruppen eine große Rolle. Daraus kann Gebauer überzeugend auf die unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen Überlieferungsgruppen schließen. Zwar ist Christus und die minnende Seele nicht nur in Frauenbesitz belegt. Es sind dann aber doch vor allem die Frauen, zu denen Gebauer viele interessante Details zu rekonstruieren vermag, sei es die Nürnberger Schreiberin Katharina Tucher oder seien es die beiden vermögenden Konstanzerinnen Margaretha Ehigner und Anna Muntprat. Diese beiden Kapitel zeigen sehr schön, dass Handschriften nicht bloße Trägermedien für Texte und Bilder sind, sondern selbst eine spannende und für die Interpretation des Überlieferten wichtige Geschichte haben.

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Interpretative Befunde

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Das fünfte, letzte Kapitel unternimmt schließlich eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gedicht, wobei jene Elemente, die der gesamten Überlieferung eigen sind, nachvollziehbarerweise im Mittelpunkt stehen. Sehr einleuchtend zeichnet Gebauer das Fortschreiten entlang der drei Stufen des mystischen Wegs (der via purgativa, illuminativa und unitiva) nach und bringt sie mit dem in der Mehrzahl klösterlichen Alltagsleben der RezipientInnen in Zusammenhang. Dabei beobachtet sie, dass mit dem Fortschreiten der Bilderzählung die Bilder sich mehr und mehr dem Alltagsleben entziehen und dabei auch zunehmend komplexer werden, der Aufstieg der Seele und die stetig wachsende Verinnerlichung also auch von Betrachter und Betrachterin in sehr direkter Weise mit nachvollzogen wurden. Sie widerspricht damit der älteren Deutung solcher Bildsujets als bloße Abbildung von Visionen und spricht ihnen vielmehr einen eigenständigen Charakter als sinnstiftende Werke zu.

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Fazit

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Insgesamt bietet dieses Buch dreierlei: zum einen eine saubere Aufarbeitung der Überlieferung eines wichtigen mystischen Texts aus der Übergangszeit zwischen Handschrift und Buchdruck, zum anderen einige spannende Detaildarlegungen zur Geschichte einzelner Handschriften und ihrem sozialen Kontext, drittens eine überzeugende Deutung von Ikonographie und Text. Was darüber ein wenig (wenn auch nicht gänzlich) verloren geht, ist die Einbettung von Text und Bild in ihre frömmigkeitsgeschichtlichen Traditionen. Das ist unter der überlieferungsgeschichtlichen Perspektive, die Gebauer gewählt hat, im Grunde nur konsequent. Schließlich liefert das letzte Kapitel eine überzeugende Interpretation – aber immer sehr eng an der konkreten Überlieferung entlang. Da muss die reiche Tradition zum Teil eng verwandter mystischer Texte, die sich des gleichen Bildrepertoires bedienen, ohne ersichtlich auf denselben Grundtext aufzubauen, beinahe zwangsläufig außen vor bleiben. 3 Trotzdem hätte man sich – gerade mit Blick auf ein weiteres, vielleicht sogar interdisziplinäres, an Fragen mittelalterlicher Frömmigkeitsgeschichte interessiertes Publikum – zumindest ein paar Zeilen zur Einordnung gewünscht, zumal manche dieser Texte in der älteren Handbuchliteratur von Gödeke bis Wackernagel noch unter ähnlichen oder gar demselben Titel firmieren. Das hätte man in der Einleitung leicht unterbringen können. Dass es unterblieben ist, tut aber der Qualität dieser Arbeit keinen wesentlichen Abbruch.

 
 

Anmerkungen

Mainz, Stadtbibliothek, Hs. I 221. Werner Williams-Krapp: Bilderbogen-Mystik: Zu ›Christus und die minnende Seele‹ mit Edition der Mainzer Überlieferung, in: Konrad Kunze u.a. (Hg.): Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. Kurt Ruh zum 75. Geburtstag. (Texte und Textgeschichte, 31) Tübingen 1989, S. 350–364.   zurück
ISTC is00357350. Manfred von Arnim: Katalog der Bibliothek Otto Schäfer Schweinfurt. Teil I: Drucke, Manuskripte und Einbände des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 1984, Nr. 31 (mit Abb.). Zu letzterem bliebe zu ergänzen, dass der Katalog der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, dessen Exemplar Gebauer als »lost in war« (S. 73) angibt, als neuen Standort die Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka Moskva nennt – was sich natürlich auch nicht zu widersprechen braucht.   zurück
Einiges dazu bereits bei Romuald Banz: Christus und die Minnende Seele. Zwei spätmittelhochdeutsche mystische Gedichte. (Germanistische Abhandlungen, 29) Breslau 1908, S. 47 ff.   zurück