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Memoria im Mittelalter - aktiv, passiv oder manipuliert?

  • Lucie Dolezalová (Hg.): The making of memory in the Middle Ages. (Later medieval Europe 4) Leiden: Brill 2010. XXI, 499 S. 22 s/w Abb. EUR (D) 152,00.
    ISBN: 978-90-04-17925-7.
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Inhaltsübersicht

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(1) Slavica Ranković, Communal Memory of the Distributed Author: Applicability of the Connectionist Model of Memory to the Study of Traditional Narratives (S. 9–26)

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I. Storing and Recuperating Knowledge

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Der erste Teil des Tagungsbandes (Beiträge 2–10) widmet sich dem Speichern und Abrufen von Wissen, behandelt also mnemotechnische Aspekte. Die Beiträge 2–5 beschäftigen sich mit der Praxis der Gedächtniskunst, die Beiträge 6–10 mit Gedächtnishilfen, womit in diesem Fall spezielle Texte oder Strategien gemeint sind, die als mnemotechnisch interpretiert werden können.

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A. The Art of Memory in Practice

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(2) Kimberly Rivers, Writing the Memory of the Virtues and Vices in Johannes Sintram’s (d. 1450) Preaching Aids (S. 31–48)

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(3) Farkas Gábor Kiss, Memory, Meditation and Preaching: A Fifteenth-Century Memory Machine in Central Europe (The Text Nota hanc figuram composuerunt doctores… / Pro aliquali intelligentia…) (S. 49–78)

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(4) Rafał Wójcik, The Staging of Memory: Ars memorativa and the Spectacle of Imagination in Late Medieval Preaching in Poland (S. 79–94)

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(5) Lucie Doležalová, On Mistake and Meaning: Scinderationes Fonorum in Medieval Artes Memoriae, Mnemonic Verses, and Manuscripts (S. 95–111)

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B. Mnemonic Aids

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(6) Greti Dinkova-Bruun, The Verse Bible as Aide-mémoire (S. 115–131)

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(7) Laura Iseppi De Filippis, Exhibete membra vestra: Verbal and Visual Enthymeme as Late Medieval Mnemotechnics (S. 133–147)

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(8) Rüdiger Lorenz, The Late Medieval Summa Iovis as a Case Study for the Use of Poems as Mnemonic Aids (S. 149–159)

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(9) Péter Tóth, Pseudo-Apocryphal Dialogue as a Tool for the Memorization of Scholastic Wisdom: The Farwell of Christ to Mary and the Liber de vita Christi by Jacobus (S. 161–197)

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(10) Bergsveinn Birgisson, The Old Norse Kenning as a Mnemonic Figure (S. 199–213)

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II. Remembering and Forgetting the Past

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Der zweite Teil des Tagungsbandes (Beiträge 11–24) beschäftigt sich mit der memoria als Erinnerung der Vergangenheit, ob nun real oder imaginiert, und eröffnet einen weiter gesteckten Kontext, in dem sich memoria beispielsweise auf Identität, Ethik oder Politik bezieht. Die Beiträge 11–13 konzentrieren sich auf die Analyse konkreter Aspekte der memoria in literarischen Quellen und präsentieren literarische Strategien, die die Vergangenheit in die Gegenwart (und Zukunft) projizieren. Die Studien 14–16 behandeln soziale Kontexte: Individuelle Erinnerungen verquicken sich mit denjenigen einer Gemeinschaft, wodurch sich die Verbindung zu den Folgebeiträgen (17–19) ergibt, die sich der Gegenüberstellung von individuellen und kollektiven Gedächtnissen bzw. dem Transfer von persönlichen zu kollektiven Erinnerungen widmen. Die Beiträge 20–24 beschäftigen sich mit den Problemen, die sich bei der (Re-)Konstruktion der Vergangenheit selbst ergeben; dabei sind speziell die Studien 20 und 21 dem contrarium des Erinnerns, dem Vergessen, gewidmet.

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A. Literary Strategies

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(11) Francesco Stella, The Landscape as a Memory Construction in the Latin Petrarch (S. 219–239)

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(12) Jon Whitman, Posthumous Messages: Memory, Romance, and the Morte Darthur (S. 241–252)

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(13) Victoria Smirnova, »And nothing will be wasted«: Actualization of the Past in Caesarius of Heisterbach’s Dialogus Miraculorum (S. 253–265)

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B. Social Contexts

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(14) Előd Nemerkényi, The Latin Vocabulary of Memory in Medieval Hungary (S. 269–282)

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(15) Carmen Florea, The Construction of Memory and the Display of Social Bonds in the Life of the Corpus Christi Fraternity from Sibiu (Hermannstadt, Nagyszeben) (S. 283–308)

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(16) Lucia Raspe, Props of Memory, Triggers of Narration: Time and Space in Medieval Jewish Hagiography (S. 309–327)

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C. Individual Versus Collective Memories

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(17) Cédric Giraud, Anselm of Laon in the Twelfth-Century Schools: Between fama and memoria (S. 331–345)

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(18) Dávid Falvay, Memory and Hagiography: The Formation of the Memory of Three Thirteenth-Century Female Saints (S. 347–364)

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(19) Irene Bueno, Dixit quod non recordatur: Memory as Proof in Inquisitorial Trials (Early 14th Century France) (S. 365–393)

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D. Forgetting

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(20) Vincent Challet, Peasants’ Revolts Memories: Damnatio memoriae or Hidden Memories? (S. 397–414)

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(21) Tamás Visi, Remembering and Forgetting Idolatry: Moses Maimonides, Moses Narboni, and Eliezer Eilenburg on the Biblical Past 1 (S. 415–437)

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E. Constructing the past

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(22) William J. Purkis, The Past as a Precedent: Crusade, Reconquest and Twelfth-Century Memories of a Christian Iberia (S. 441–461)

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(23) Else Mundal, Memory of the Past and Old Norse Identity (S. 463–472)

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(24) Milena Bartlová, In memoriam defunctorum: Visual Arts as Devices of Memory (S. 473–486)

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Weit gespannter Horizont

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Der durchgehend englischsprachige Tagungsband The Making of Memory in the Middle Ages basiert auf dem internationalen und interdisziplinären Workshop Medieval Memories: Case Studies, Definitions, Contexts, den das »Center for Theoretical Study« (CTS), eine gemeinschaftliche Institution der Karls-Universität Prag und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, im September 2007 in der Prager »Vila Lanna« veranstaltet hat. Sowohl die Organisation dieses Workshops als auch die Herausgabe des Tagungsbandes wurden von Lucie Doležalová, Assistenzprofessorin an der Karls-Universität Prag in den Bereichen Altphilologie und Geisteswissenschaften, geleistet, die zudem einen Tagungsbandbeitrag (5) verfasste und gemeinsam mit Tamás Visi (siehe auch Beitrag 21) die Einleitung des Bandes gestaltete.

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Der umfangreiche Band versammelt 24 Fallstudien zur christlichen und jüdischen Memorialkultur des europäischen Mittelalters und richtet sich an all diejenigen, die an mittelalterlicher Kultur, Literatur und Geschichte interessiert sind.

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Bemerkenswert ist die internationale Riege von Autorinnen und Autoren, die sich aus den unterschiedlichsten geisteswissenschaftlichen Disziplinen rekrutieren. Es konnten meist relativ junge Forscherinnen und Forscher aus zwölf Ländern gewonnen werden, wobei der Osten (Polen, Rumänien, Russland, Tschechien, Ungarn) erfreulich stark vertreten ist. Darüber hinaus stammen die Autorinnen und Autoren aus Deutschland, England, Frankreich, Israel, Italien, Norwegen sowie aus Kanada und den USA. Die Beitragenden sind in den Gebieten Geschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Judaistik, Mediävistik, Philosophie, Kulturwissenschaft, Bibliothekarswesen und Philologie (altnordische Philologie, alt‑ und mittellateinische Philologie, Hungarologie, Anglistik, Italianistik, Slavistik) tätig – dementsprechend vielfältig sind die Blickwinkel und Ansätze, unter denen die mittelalterliche memoria betrachtet und untersucht wird.

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Was den zeitlichen Rahmen betrifft, so behandelt die Mehrzahl der Beiträge das Spätmittelalter. Geographisch gesehen, werden vor allem der lateinische Westen und Mitteleuropa abgedeckt.

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Das Vorwort wurde von Patrick J. Geary, einem bekannten Historiker der University of California, Los Angeles, mit dem Forschungsschwerpunkt mittelalterliche Kultur und Gesellschaft (500–1200), beigesteuert. Geary betont, dass der Tagungsband der memoria Nord‑ und Südeuropas die gebührende Aufmerksamkeit schenkt und damit der mehr oder weniger bewussten Privilegierung französischer und englischer Themen in Mittelalter-Studien entgegenwirkt. Damit werde ein Beitrag zum Bild eines komplexen, dynamischen und »ganzheitlichen« lateinischen Mittelalters geleistet.

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Sehr konzis ist die – wie bereits erwähnt – aus der Feder von Lucie Doležalová und Tamás Visi stammende Einleitung (mit dem Titel »Revisiting Memory in the Middle Ages«, S. 1–7), die eine resümierende Übersicht über die Struktur des Bandes und die Inhalte der einzelnen Beiträge liefert und ohne Umschweife in die Materie und die Charakteristika des Tagungsbandes einführt. Nachfolgend stütze ich mich in vielen Punkten auf diese Einleitung.

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Perspektivenwechsel

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The Making of Memory in the Middle Ages nähert sich der mittelalterlichen memoria nicht in erster Linie von der Seite der Gedächtniskunst bzw. Mnemotechnik an, wie dies viele vorangegangene Studien getan haben. Zwar wird die ars memorativa, d.h. erlern‑ und trainierbare Strategien, die das Gedächtnis in seiner Eigenschaft als »Speichermedium« schulen und verbessern sollten, durchaus behandelt (wie z.B. von Farkas Gábor Kiss (3) und Rafał Wójcik (4), die sich beide mit predigtbezogener Mnemotechnik beschäftigen: Kiss präsentiert ein aus dem monastischen Umfeld stammendes Zwölferschema, das die Bereiche der Heilsgeschichte, der irdischen Lebensumstände und der Vier Letzten Dinge abdeckt, und Wójcik untersucht die Imagination von Jan Szklareks Opusculum de arte memorativa, wobei er Predigtschauspiele, die von polnischen Observantenpredigern aufgeführt wurden, als Vergleiche heranzieht), doch das Gros der Beiträge beschäftigt sich mit der memoria als Erinnerung bzw. Rekonstruktion der Vergangenheit und als Realisierung ethischer Normen.

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Die drei Aspekte »Wiedererinnern von Merkinhalten«, »Rekonstruktion der Vergangenheit« und »Realisierung einer ethischen Norm« haben laut Doležalová und Visi ein Charakteristikum gemeinsam: Die memoria strebt danach, eine virtuelle Realität für ein Individuum oder eine Gemeinschaft präsent zu machen, wobei die einfließenden Erinnerungen konstruiert, erfunden oder in unterschiedlicher Weise verzerrt sind.

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Der vorliegende Tagungsband will einen Beitrag zu einem Perspektivenwechsel leisten, für den die im Tagungsband immer wieder zitierten Meilensteine der jüngeren memoria-Forschung aus der Feder von Aleida und Jan Assmann, Mary Carruthers, Janet Coleman und Patrick J. Geary grundlegende Ansätze liefern: 2 Von der abwertenden Sicht auf das Mittelalter als einer Epoche, in der Erziehung und Bildung – und damit die gesamte Kultur – durch mnemotechnische Praktiken und Strategien mechanisiert wurden (hier kommt der im Begriff der Mnemotechnik enthaltene Anteil der »Technik« zum Tragen) und somit individuelle Begabung, reine Verstandesarbeit und Innovationen weniger galten als ererbte und passiv akzeptierte Werte, soll zu einer Sichtweise des Mittelalters als einer Zeit geführt werden, in der memoria als aktiv(er)er und kreativ(er)er Prozess verstanden wurde. Zu diesem Perspektivenwechsel tragen die anregenden Studien von Lucie Doležalová (5) und Laura Iseppi De Filippis (7) bei: Folgediskussionen dürfte Doležalovás These auslösen, dass ein Teil der Korrumpierungen, die in der mittelalterlichen Textüberlieferung häufig zu konstatieren sind, auf die mnemotechnische Strategie der scinderatio fonorum (in etwa: das Aufbrechen der Wörter) zurückzuführen sein könnten (S. 107). Mit solchen Strategien wurde die Wahrnehmungsfähigkeit der Rezipienten geschärft, die wie die Schreiber mit dieser Art der Kodierung bzw. Dekodierung vertraut waren und die »obskuren« Wortschöpfungen entschlüsseln sollten und konnten. Iseppi De Filippis, die annimmt, dass bei der visuell-mnemotechnischen Umsetzung von Predigtpassagen über die Sünde, auf die Gliedmaßen Christi zu schwören, in die Wandmalerei »Mahnung für Schwörende« (Broughton, frühes 15. Jahrhundert, Abb. 7) Enthymeme – das sind rhetorische bzw. dialektische Schlüsse mit nicht ausgesprochenen Prämissen – als Strukturierungsmittel verwendet wurden, geht ebenfalls von aktiven und mit mnemotechnischen Strukturen wie z.B. imagines agentes vertrauten Rezipienten aus, die in der Lage waren, die mehrschichtige Komplexität derartiger Schemata zu verstehen (S. 147).

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Andere Aspekte der memoria

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Aktiv und kreativ meint aber auch, dass memoria manipuliert wurde. Dieser Aspekt wird in rezenten Untersuchungen über mittelalterliche memoria wiederholt herausgestellt und auch im vorliegenden Tagungsband durchgehend angesprochen. Im historischen Kontext wurde von der memoria-Forschung der letzten Jahrzehnte betont, dass Erinnerung an die Vergangenheit nicht objektiv sei (bzw. nicht sein könne), sondern stets eine Konstruktion, die oft einem ganz bestimmten Zweck diene (hierzu siehe z.B. die soliden Beiträge von Lucia Raspe (16) und Cédric Giraud (17), die sich mit Hagiographie und Topographieverknüpfungen als Ersatzvehikel jüdischer memoria bzw. mit der Steuerung scholastischer Debatten durch die memoria des Anselm von Laon beschäftigen). In diesem Zusammenhang hätte man nach meinem Dafürhalten auf ein Gegensatzpaar zurückgreifen können, das allerdings durch seine Verankerung in der Mnemotechnik obsolet geworden zu sein scheint: die Gegenüberstellung von natürlichem und künstlichem Gedächtnis (memoria naturalis versus memoria artificialis bzw. artificiosa), wie sie schon in der Rhetorica ad Herennium im ersten vorchristlichen Jahrhundert formuliert wurde. Von den drei unterschiedlichen, aber miteinander verquickten memoria-Aspekten, die im Tagungsband behandelt werden, kann nur das »Wiedererinnern von Merkinhalten« zum Bereich der memoria artificialis gerechnet werden, die beiden anderen Aspekte, »Rekonstruktion der Vergangenheit« und »Realisierung einer ethischen Norm«, gehören eher zur memoria naturalis. Daher kann man nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass auch die künstlich-mnemotechnische memoria Erinnerungen manipuliert; denn gerade durch »Technik« und »Mechanik« garantiert sie eine gewisse Objektivität.

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Dies ist bei den beiden anderen Aspekten nicht der Fall. Dient die memoria als Hilfsmittel, um Vergangenes zu rekonstruieren, dann bedeutet dies, dass die noch auffindbaren Spuren der Vergangenheit oft zugunsten der Gegenwart oder der Zukunft aktualisiert und darüber hinaus kontrolliert und instrumentalisiert werden. Diesem Vorgang begegnet man sowohl in der Propaganda von Machtapparaten als auch im Totengedenken (siehe z.B. die aufschlussreichen Beiträge von Vincent Challet (20) und Milena Bartlová (24), die sich mit der Kontrolle und Verdammung der memoria der Bauernaufstände bzw. mit der Funktion der visuellen Künste bei der Etablierung persönlicher religiöser memoria nach dem Tode befassen). Wird die memoria eingesetzt, um ethische Normen zu realisieren, dann wird sie zu einer Kraft, die den Menschen auf dem rechten Pfad hält oder ihn wieder auf diesen zurückführt. Dies kann ganz konkret durch das Erinnern an korrekte soziale Verhaltensweisen geschehen, in weiterem Sinne durch Beispiel gebende Werke aus Literatur und Kunst oder durch die memoria vorbildhafter Personen. Letzteres wird von Dávid Falvay in seinem fundierten Artikel über die memoria-Bildung der Elisabeth von Ungarn, der Margarete von Ungarn und der Guglielma von Mailand (alle drei 13. Jahrhundert) demonstriert (18). Da Guglielma von ihren Anhängern zwar als göttliche Persönlichkeit verehrt, von der Kirche jedoch als Ketzerin verdammt wurde, kann der Autor darüber hinaus sowohl Einblicke in die Mechanismen von Inquisitionsprozessen als auch von Kanonisierungsverfahren (im Fall von Elisabeth und Margarete von Ungarn) liefern, womit er wertvolle Informationen zur Quellenarbeit mit mittelalterlichen Gerichtsakten an die Hand gibt.

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Doležalová und Visi stützen sich in ihrer Einleitung zudem auf Maurice Merleau-Ponty, der das Gedächtnis im Kontext der Passivität des menschlichen Geistes betrachtet hat: 3 Die memoria gehört demnach zu den passiven Geistesstrukturen, d.h. sie wird nicht direkt vom Bewusstsein kontrolliert und kann daher den Geist wirkungsvoll beeinflussen. Dies gilt erstaunlicherweise sowohl für die individuelle als auch für die kollektive (soziale) memoria, die von der jüngeren Forschung nicht mehr als streng getrennte Phänomene betrachtet werden. Slavica Ranković verdeutlicht in ihrem Beitrag (1), der über den mittelalterlichen Rahmen hinausgreift und daher den anderen Studien vorangestellt wurde, auf der Basis rezenter neurobiologischer, kognitionspsychologischer, philosophischer und sozialwissenschaftlicher Forschungsliteratur, dass das persönliche Gedächtnis immer auch sozial ist bzw. dass zwischen individueller und kollektiver memoria keine klare Grenzziehung möglich ist.

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Ein weiterer anregender Aspekt des Bandes ist die Tatsache, dass auch der Gegenpart des Erinnerns, das Vergessen, als wichtiger Bestandteil der mittelalterlichen Memorialkultur Beachtung findet (siehe auch das Vorwort von Patrick J. Geary). Zur oblivio als Bedrohung und/oder Strategie siehe neben dem bereits erwähnten Artikel von Vincent Challet über die damnatio memoriae der Bauernaufstände (20) die hochinteressanten Beiträge von Irene Bueno (19) und Tamás Visi (21) über die »Formel des Vergessens« in den Inquisitionsprozessen, die im Frankreich des 14. Jahrhunderts gegen die Ketzer geführt wurden, bzw. über das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen in den Theorien des Moses Maimonides (12. Jahrhundert), das bei deren späterer Rezeption erstaunliche Wirkung entfaltete.

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Resümee 4

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Summa summarum ist The Making of Memory in the Middle Ages ein sehr empfehlenswerter Tagungsband – vorrangig für Historiker, aber auch für Kultur-, Sozial- und Sprachwissenschaftler.

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Enttäuschend ist in diesem Band allein der Abschnitt über literarische Strategien, insbesondere der gehaltlose Beitrag von Jon Whitman über die Fair Maiden of Ascolat aus der Morte Darthur (12). Francesco Stella liefert zwar eine hervorragende literarische Studie über die lateinische Landschaftslyrik Petrarcas (11), doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er das Déjà-vu-Phänomen vor allem deshalb so sehr bemüht, um seinen Beitrag in den memoria-Kontext einzufügen. Lediglich der Artikel von Victoria Smirnova über die Aktualisierung der Vergangenheit im Dialogus Miraculorum des Caesarius Heisterbachensis (13), in dem die Strategie der Exemplarisierung als mnemotechnische Prozedur charakterisiert wird, vermag in diesem Abschnitt zu überzeugen.

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Dagegen bieten die anderen Kapitel des zweiten Teils in der Regel fundierte und inspirierende Studien, so der Abschnitt über soziale Kontexte (mit den Beiträgen von Lucia Raspe (16) und Carmen Florea (15), die die Rolle der memoria in der Corpus-Christi-Bruderschaft im transsilvanischen Hermannstadt beleuchtet und dabei einen informativen Einblick in das religiös-soziale Gefüge einer spätmittelalterlichen Stadt liefert; die Vokabularstudie von Előd Nemerkényi (14) fällt dagegen etwas ab), das Kapitel über individuelle versus kollektive memoria (mit den Studien von Cédric Giraud (17), Dávid Falvay (18) und Irene Bueno (19) und der Passus über das Vergessen (mit den Beiträgen von Vincent Challet (20) und Tamás Visi (21)).

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Doch die Stärken des Tagungsbandes liegen gerade in seinem ersten Teil, der sich mit dem Abspeichern und Wiedererinnern von Wissen befasst, obwohl man sich der mittelalterlichen memoria gerade nicht von der mnemotechnischen Seite annähern wollte. Allem voran sind hier die Beiträge von Lucie Doležalová (5, siehe oben) und Laura Iseppi De Filippis (7, siehe oben) zu nennen, aber auch die Artikel von Farkás Gábor Kiss (3, siehe oben) und Rafał Wójcik (4, siehe oben) sowie die Beiträge von Péter Tóth (9), der den pseudo-apokryphen Dialogen in Passionserzählungen mnemotechnisch-didaktischen Charakter zuschreibt, und Bergsveinn Birgisson (10), der das altnordische Stilmittel der Kenning sowohl auf der Basis der antiken memoria-Tradition als auch im Rahmen der kognitiven Psychologie als mnemotechnisches Element festmacht.

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Dem sorgfältig redigierten Band ist ein Register (S. 487–499) beigegeben, das das Verzeichnis der zitierten Handschriften (S. 492–494) einschließt. Insgesamt hätte man sich das Register etwas ausführlicher gewünscht. Die 22 Schwarzweiß-Abbildungen und -Figuren sind in der Regel von guter Qualität und wurden jeweils in die zugehörigen Texte eingefügt.

 
 

Anmerkungen

So die Titelformulierung auf S. 415; im Inhaltsverzeichnis: »Remembering and Forgetting the Sabians: Moses Maimonides, Moses Narboni, and Eleazar Eilenburg«.   zurück

Die nachfolgend genannten Werke sind nur als Auswahl zu verstehen: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen kulturellen Gedächtnisses. München 1999. – Jan Assmann: diverse Publikationen zum kulturellen Gedächtnis, u.a. in Zusammenarbeit mit seiner Frau Aleida. – Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990. – Janet Coleman: Ancient and Medieval Memories. Studies in the Reconstruction of the Past. Cambridge 1992. – Patrick J. Geary: Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the First Millenium. Princeton 1996.

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Maurice Merleau-Ponty: L’Institution dans l’histoire personnelle et publique – Le Problème de la passivité: Le sommeil, l’inconscient, la mémoire. Notes de Cours au Collège de France (1954–1955), hg. von Dominique Darmaillacq, Claude Lefort und Stéphanie Ménasé (Paris 2003), S. 157–258, insbes. S. 200–204 und S. 249–258.   zurück
Aufgrund des Umfanges des Tagungsbandes kann in diesem Resümee leider nicht jeder einzelne Beitrag berücksichtigt werden.   zurück