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Banalitäten erzählen

Werte im Bann der Literatur

  • Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. München: Wilhelm Fink 2011. 381 S. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-5055-5.
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In ihrer Habilitationsschrift Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch nimmt Julia Genz einen blinden Fleck der (Literatur-)Wissenschaft in den Blick: Jenen, der gemeinhin die Mechanismen von Zugänglichkeit in wertenden Diskursen, insbesondere die eigenen, verbirgt. Die hier ausgeführte »Theorie der Zugänglichkeitsdiskurse« (S. 66) erübrigt mühselige Legitimationsdebatten darüber, ob beispielsweise George Batailles Das obszöne Werk der Weihen einer ›exklusiven‹ akademischen Würdigung würdig ist oder eben hauptsächlich, um Bataille mit Jean Améry zu lesen, durch die »schreckliche[] Banalität« (S. 14) seiner ›veralltäglichenden‹ Sprache befremdet. Vielmehr würde interessieren, wie im Allgemeinen Zuschreibungen von Banalität, Trivialität oder Kitsch motiviert und theoretisch beschreibbar sind und welche Strategien ihrer Diskursivierung insbesondere in literarischen Texten reflektiert werden. Beides leistet die Untersuchung in einer überzeugenden Verbindung eines anschlussfähigen theoretischen sowie komparatistischen textanalytischen Teils.

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Die Arbeit geht von der Beobachtung aus, dass die Argumentationsstrukturen für die Bewertung eines Objekts über die Zeit einer Kontinuität unterliegen und das mit ihnen verknüpfte zentrale Motiv wiederkehrend das rezeptionstheoretische Problem der ›Teilhabe‹ ist: Der Wert eines kulturellen Gegenstands steht immer in Relation zu seiner Zugänglichkeit. Daran anschließend versteht Genz Banalität, Trivialität und Kitsch als Elemente von Zugänglichkeitsdiskursen. So wird die Trias losgelöst von der Ebene der Objekte und der damit verbundenen Suche nach den phänomenalen Qualitäten der Dinge. Denn offensichtlich ist die Begründung für beispielsweise die Trivialität eines Gegenstandes, so sie sich an dessen Objektcharakter orientiert, nur begrenzt tragfähig, ohne pejorativ zu werden. Die hier bezogene Position beobachtet hingegen aus einer Art Metaperspektive die Ebene des Diskurses und rückt so das damit einhergehende Problem der Bewertung der Dinge in den Fokus. Es ist nicht länger die Frage, ob etwas banal, trivial oder kitschig ist, sondern vielmehr, warum und wie etwas als banal, trivial oder kitschig bewertet wird.

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Teil 1: Eine Theorie der Zugänglichkeitsdiskurse

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Zwischen Allzugänglichkeit und Allzu-Zugänglichkeit

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Zentral für die Beantwortung dieser Frage ist ein genauerer Blick auf die spezifischen Ausprägungen von Zugänglichkeitsdiskursen und damit auf die von Genz im ersten Teil des Bandes entwickelte theoretische Basis. Zwei Formen von Zugänglichkeit differenziert die Studie auf einer ersten Ebene: Die »zumeist unsichtbare Allzugänglichkeit« (S. 64) steht einer »bewusst assoziierten und kommunizierten Allzu-Zugänglichkeit« (S. 65) gegenüber. Dinge, die der ersten Gruppe angehören, sind im wörtlichen Sinne allen zugänglich und »(noch) nicht kommerzialisiert« (S. 64) und damit für das weitere Vorgehen von nur bedingtem Interesse. Zur zweiten Gruppe zählen Dinge, deren Zugänglichkeit bestimmten Regeln unterliegt »und in denen daher eine Wahlmöglichkeit gegeben ist« (ebd.). Damit verbunden ist immer auch eine Beurteilung eben jener Zugänglichkeit, die im Präfix allzu durch seine »inhärente Verächtlichkeit« (S. 65) bildhaft zum Ausdruck kommt. Obwohl sich die Begriffe auf den ersten Blick zuweilen als etwas sperrig in der Handhabung erweisen, überzeugen sie dennoch in ihrer semantischen und strukturellen Anschlussfähigkeit als theoretische Elemente.

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Zwischen Wertung und Werbung

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Der Diskurs der Allzu-Zugänglichkeit eröffnet eine zweite Ebene und umfasst nach Genz zwei Formen der Beurteilung mit je unterschiedlichen Zielsetzungen und Interessenvertretern. Hat die Beurteilung normativen Charakter, so ist sie dem Wertungsdiskurs zuzurechnen. Die innerhalb des Diskurses getroffenen Urteile können positiv oder negativ ausfallen, entscheidend ist, dass sie im Anschluss an Foucault als »durch Ausschlusspraktiken organisiert« (S. 18) verstanden werden. Zum Geltungsbereich des Wertungsdiskurses zählen vor allem Kultur und Ästhetik und damit auch der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Studie, namentlich Banalität, Trivialität und Kitsch. Ist die Beurteilung hingegen affirmativer Natur, ist sie konstitutiv für den Integrationsdiskurs und dessen Subkategorie, den Werbediskurs. Zeichnet sich ersterer durch eine neutrale Position, also vor allem Akzeptanz und Toleranz gegenüber (leichter) Zugänglichkeit im Sinne eines »Identifikationsangebot[s]« aus, so bemüht sich letzterer in der Bedienung »von kommerziellen, ideologischen oder pädagogischen« Interessen »aktiv um die Erweiterung von Zugänglichkeit« (S. 20).

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Die Beziehung zwischen dem exklusivem Wertungsdiskurs und dem inklusiven Integrations-/ Werbediskurs ist eine wechselseitige. Das hat einen funktionalen Grund, denn »man achtet auf das, worauf man Wert legt ebenso wie man Wert durch Beachtung erst verleiht« (S. 210). Weiterhin kommt noch ein strategischer (kommerzieller) Grund hinzu, denn insbesondere der Werbediskurs »imitiert die positiven Urteile des Wertungsdiskurses« (S. 20).

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Drei Diskursmodelle von Banalität, Trivialität und Kitsch

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Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Grundgerüsts gilt das Interesse der Untersuchung der Beziehung zwischen Rezipienten und kulturellem Gegenstand im Wertungsdiskurs. Die leitende These unterscheidet drei Ausprägungen dieses Verhältnisses:

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Kulturerzeugnisse können demnach abgewertet werden, wenn
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1. ihre Rezeption in ihrer sozialen Reichweite als unangemessen empfunden wird, wenn also ›zu viele‹ Menschen etwas rezipieren,

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2. die Komplexität des behandelten Problems in intellektueller Hinsicht als unangemessen vereinfacht beurteilt wird,

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3. sie auf eingängige Sinnlichkeit und automatisierte Emotionsprozesse abzielen oder diese zumindest im Rezipienten hervorrufen, was von den Kritikern als zu ›stereotyp‹ empfunden wird.

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[...] Abgewertet wird eine vermeintlich zu leichte Zugänglichkeit in sozialer, kognitiver und emotionaler Hinsicht. (S. 10)
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Jede der drei Zugänglichkeitsdimensionen entspricht mit Genz einem spezifischen Diskursmodell und ist konstitutiv für je ein diskursives Spannungsfeld, das zwischen zwei Polen angesiedelt ist: (1) Soziale Zugänglichkeit, selbst immer schon medial vermittelt, entscheidet über die Position eines Kulturerzeugnisses zwischen Banalität und Exklusivität (S. 66–73); (2) kognitive, intellektuelle, Zugänglichkeit verweist es in den Bereich zwischen Trivialität und Komplexität (S. 73–77); (3) emotionale Zugänglichkeit schließlich verortet in ihrer ästhetischen Spielart einen Gegenstand zwischen Kitsch und Kunst (S. 78–82), während ihre an den ›Basisemotionen‹ orientierte moralische Ausprägung ihn zwischen Schmutz/Schund und Reinheit einordnet (S. 82–86, diese letztere Dimension wird jedoch nur am Rande diskutiert). Die Spannungsfelder sind Orte komplexer diskursiver Prozesse, die Genz mit den »dynamischen Paare[n] Banalisierung und Entbanalisierung, Trivialisierung und Enttrivialisierung sowie Verkitschung und Entkitschung« (S. 23) beschreibbar macht und als individuelle Diskursmodelle sowohl in ihrer historischen Genese als auch in ihren systematischen Implikationen ausdifferenziert.

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Die Diskursmodelle von Banalität, Trivialität und Kitsch unterscheiden damit drei Begriffe, die bisher in der Forschung häufig deckungsgleich oder zu unsystematisch und in verschiedenen Disziplinen zudem in sehr unterschiedlicher Gewichtung gebraucht wurden. Gleichzeitig ermöglichen sie die Darstellung von Wechselwirkungen und Mischungen zwischen den einzelnen Diskursen, »die sich dann in ihrer Wertungsstrategie gegenseitig verstärken oder auch aufheben können« (S. 89). Abgesehen von historisch und kulturell bedingten Spezifika lassen sich so beispielsweise strukturell bedingte Affinitäten zwischen den Diskursen beobachten: »Häufig integrieren der Trivialitäts- und der Kitschdiskurs die soziale, technik- und mediengestützte Zugänglichkeit des Banalitätsdiskurses (zum Beispiel in Ritualen wie Quizshows oder Prominentenhochzeiten [...], aber auch in der industriellen Herstellung und dem massenhaften Vertrieb von Souvenirs)« (S. 90). Diese Beziehung spiegelt später auch die Gliederung der Textanalysen wider, indem sie den Banalitätsdiskurs zu einem konstitutiven Element der Makrostruktur macht, während Trivialitäts- und Kitschdiskurs vornehmlich auf mikrostruktureller Ebene eine Rolle spielen (vgl. S. 27 f).

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Durch den Perspektivwechsel vom phänomenalen Werturteil zum diskursiven Wertungsproblem zeichnet sich die hier entwickelte »Theorie der Zugänglichkeitsdiskurse« durch ihre Anschlussfähigkeit an stärker kulturtheoretisch oder medienwissenschaftlich ausgerichtete Zugänge zum Gegenstand aus und bietet eine differenzierte Grundlage für weiterführende theoretische Diskussionen: So ist beispielsweise denkbar, die dynamische Beziehung zwischen Allzugänglichkeit und Allzu-Zugänglichkeit zu spezifizieren, das Verhältnis zwischen Wertungs- und Werbediskurs weiter zu verhandeln oder die medienspezifischen und intermedialen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Diskursmodellen näher zu beleuchten.

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Zur literarischen Darstellung von Zugänglichkeitsdiskursen

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In ihrem zweiten Teil widmet sich die Studie dann hauptsächlich dem literarischen Umgang mit den drei Diskursmodellen. Im Fokus des Interesses stehen die »spezifischen Möglichkeiten der Literatur [...], diese Diskurse einerseits sichtbar zu machen und andererseits bestimmte Zugänglichkeitsstrategien zu nutzen, fortzuschreiben oder ihnen eine eigene mediale, intellektuelle und ästhetische Qualität zu verleihen« (S. 22). Dies bedarf gewisser literaturtheoretischer Ergänzungen. Als Indikatoren für die Problematisierung von Zugänglichkeit dienen Genz im Anschluss an Roland Barthes und Michel Foucault die Autorfunktion, das literarische Sprechen als semiotisches System sowie charakteristische Marker für Banalität/Exklusivität, Trivialität/Komplexität und Kitsch/Kunst.

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Eine starke Präsenz des Autors etwa ist mit Genz als literarische »Exklusivitätsstrategie« zu deuten, wohingegen »Banalität, Trivialität und Kitsch [...] im Wertungsdiskurs nicht mit Autorschaft in Verbindung gebracht« (S. 102) werden. Dementsprechend stellt die Bedeutung der Autorfunktion ein direktes Ergebnis »diskursive[r] Zuschreibung[en]« (S. 24) dar und bildet folglich für die weiteren Untersuchungen eine leitende Analysekategorie.

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Weiterhin lassen sich die Zugänglichkeitsdiskurse als solche bereits als sekundäres semiotisches System lesen, das in stetiger Wechselwirkung mit dem primären semiotischen System der Sprache steht. Konstituieren im linguistischen System Signifikat und Signifikant das sprachliche Zeichen, so wird dieses im sekundären semiotischen System selbst zum Signifikanten, der gemeinsam mit dem Signifikat der Wertung ein Zeichen bildet. Dementsprechend ist ein Zugänglichkeitsdiskurs immer schon »eine Metasprache, da er eine zweite Sprache darstellt, die von der ersten spricht« (S. 104). Werden Zugänglichkeitsdiskurse Gegenstand der Literatur, wird dieser Prozess auf einer anderen Ebene erneuert: Nun ist der Zugänglichkeitsdiskurs als primäres semiotisches System zu verstehen, dessen sich der literarische Text als sekundäres semiotisches System bedient. Dies geschieht, indem die Literatur entweder »den Wertungs- und Werbediskurs im Sinne einer Objektsprache affirmativ fortschreib[t] oder abwerte[t]« (S. 106) oder aber indem sie auf metasprachlicher Ebene »die Wertungen des Banalitäts-, Trivialitäts- oder Kitschdiskurses als solche sichtbar mach[t]« (S. 104). Derart kann beispielsweise Banalität zum »Formproblem in der Kunst« (S. 105) werden und so innerdiskursive Spannungen sichtbar machen.

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In einem solchen Fall ist Literatur als Metadiskurs auf ›Zugänglichkeitsmarkierungen‹ angewiesen, die Genz »als Sonderfälle der Intertextualitätsmarkierungen« (S. 106) versteht und im Anschluss an Pfister in aller notwendigen Kürze insbesondere auf Systemreferenzen fokussiert. So macht beispielsweise in Kurt Schwitters Gedicht Banalitäten der »intertextuelle Verweis [...] aus dem Werturteil ›Banalitäten‹ ein Wertungsproblem« (S. 107).

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Die literaturtheoretischen Implikationen von Zugänglichkeit ermöglichen damit sowohl methodisch als auch theoretisch einen Zugang zu literarischen Texten, die sich dem Fachgebiet bisher häufig durch eben ihren ›banalen‹, ›trivialen‹ oder ›kitschigen‹ Gegenstand verschlossen haben. Die willkürliche und artifizielle »Trennung zwischen ›Hoch-‹ und ›Trivialliteratur‹« (S. 12) weicht einer Perspektive, die den Umgang der Literatur mit diesem Gegenstand in den Blick nimmt und kritisch jenen neuralgischen Punkt beleuchtet, an dem Literaturwissenschaft in ihrem Bestreben um Kanonisierung oft allzu bereitwillig in Literaturkritik umschlägt. Das ermöglicht auch das Sprechen über Literaturen und Genres, die bisher wenig Eingang in akademische Diskussionen fanden.

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Auch eine weiterführende literaturtheoretische Ausführung der Thematik in sehr unterschiedliche Richtungen kann hier ihren Ausgangspunkt finden. So ließe sich nach den verschiedenartigen Ausprägungen und Variationen von innertextlichen in Verbindung mit intermedialen Exklusivierungsstrategien fragen. Dies umso mehr in einer Zeit, die schon mit den ihr zur Verfügung stehenden technologischen Mitteln wie dem digitalen Raum konventionelle Modelle von Autorschaft kontinuierlich hinterfragt. Auch wäre in einem stärker rezeptionstheoretisch verankerten Rahmen an dieser Stelle die theoretische Formulierung der Rückwirkung der Literatur auf die Zugänglichkeitsdiskurse von Interesse – für welche freilich die im folgenden vorgenommene Diskussion und Erarbeitung der innerliterarischen Strategien zur Sichtbarmachung dieser Diskurse unverzichtbar und vorgängig ist.

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Teil 2: Literarisches Sprechen von Banalität, Trivialität und Kitsch

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Die systematische Gliederung des untersuchten Textkorpus soll der in einem historischen Vorgehen gegebenen Gefahr vorbeugen, »den Wertungsdiskurs weiterzuschreiben« (S. 25). Sie verbindet daher die inhaltliche Thematisierung von Zugänglichkeit mit der Rolle von Autorschaft im und für den jeweiligen Text. Derart werden im typologischen Vergleich diskursive Beziehungen und Spannungen zwischen Texten sichtbar, deren Vergleichbarkeit für Genz in den verwendeten Diskursivierungsstrategien begründet ist. Die Studie bewegt sich so vom Text zwischen Autorfunktion und Urheberlosigkeit (»Banalitätensammler«, S. 115–150) über die Autorfunktion in Beziehung zu Erzählerfiguren und Erzählinhalten (»Erzählungen der Zugänglichkeit«, S. 151–243) hin zur Exklusivierung und Banalisierung der Autorfunktion (»Die Selbstdarsteller«, S. 243–338). Sie vollzieht damit in drei Kapiteln eine Bewegung von innerliterarischen Strategien des Erzählens von Zugänglichkeit zur Veränderung der Zugänglichkeit von Autorschaft: die Poetisierung des Banalen und die Banalisierung des Poeten treten so in Dialog miteinander.

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I. Erzählungen von Wert(ungen) und ihre Verwerter

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Unter der Überschrift der »Banalitätensammler« fasst Genz Texte zusammen, in denen Autorfunktion und Urheberlosigkeit eine folgenreiche Verbindung eingehen. In der Tradition der Genieästhetik sind Autorfunktion und Exklusivität diskursiv miteinander verbunden (vgl. auch S. 242). Entsprechend dient fehlende Autorschaft dem Wertungsdiskurs als Signum von Banalität. Wird der Autor nun zum Kompilator urheberloser Textfragmente, so entsteht aus produktionsästhetischer Perspektive ein Spannungsfeld zwischen Exklusivem und Banalem, zu dem sich der Autor unterschiedlich positionieren kann. Er kann erstens den Wertungsdiskurs fortschreiben, indem er entweder bestehende Wertungen beleuchtet und kommentiert (»Roger Alexandres Le musée de la conversation«, S. 125–128) oder aber um deren innerdiskursive Umwertung (»Georg Büchmanns Sammlung der Geflügelten Worte«, S. 117–125) bemüht ist. Zweitens kann er aber auch auf der Meta-Ebene den Wertungsdiskurs und dessen Strukturen überhaupt erst aufzeigen (»Gustave Flauberts Le dictionnaire des idées reçues«, S. 128–138). Drittens schließlich kann er, gewissermaßen als Meta-Literatur, die diskursive Fortschreibung selbst kommentieren und umwerten (»Kurt Schwitters’ Banalitätensammlungen«, S. 138–149). Durch diese Anordnung gelingt es der Studie, in einer spiralartigen Bewegung die interdependente Beziehung zwischen (alltagssprachlichen) Zugänglichkeitsdiskursen und Literatur zu verdichten. Der Text wird hier zum diskursiven Grenzgänger, der gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Wertungsdiskurses steht. Einerseits kann und muss jede Literatur immer schon auf Textfragmente ohne Autor zurückgreifen, andererseits jedoch kann sie sich auf verschiedene Weisen dazu verhalten.

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II. Ohne Ideologie von Ideologien erzählen?

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Daran anschließend problematisieren die »Erzählungen der Zugänglichkeit« die Beziehung zwischen Autorfunktion, Erzähler und Erzählinhalt. Im Fokus stehen innerliterarische Strategien, Wertungsdiskurse sichtbar zu machen, ohne in ihnen aufzugehen. Hier gilt es für den Autor folgende Frage zu klären: Wenn »urheberlose Versatzstücke in der Narration« (S. 151) unvermeidlich, aber gleichzeitig immer schon dem Verdacht der Banalität ausgesetzt sind, wie können sie dann in den Text eingebunden werden, ohne dass sich dieser damit bewertend selbst in den Diskurs einschreibt? Die Beantwortung dieser Frage liegt für Genz im Anschluss an Foucault in der Unterscheidung zwischen Diskurs und Ideologie. Diskurse sind urheberlos, was das beschriebene Problem allererst hervorbringt. Ideologien hingegen sind subjektgebunden und »positionieren sich immer schon im Hinblick auf kognitive und soziale Zugänglichkeit, indem sie besondere Interessen als allgemeine darstellen« (ebd.). Dementsprechend dienen dem Autor die »inhaltlich ähnlichen Ideologien« (ebd.) des je thematisierten Wertungsdiskurses als Referenzfolie, um dessen Strukturen offen zu legen.

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Die Textanalysen widmen sich dabei drei sehr unterschiedlichen Beispielen: Wissenschaft, Nationalsozialismus und Konsum repräsentieren nicht nur Ideologien, die exemplarisch die thematische Spannweite und das theoretische Integrationspotential der Arbeit widerspiegeln. Die drei Bereiche setzen zudem an unterschiedlichen Punkten der Theorie der Zugänglichkeitsdiskurse an und lassen so den analytischen Gewinn verschiedener Ebenen des Modells am Text selbst deutlich werden: Das Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie beleuchtet in der Verhandlung von Prozessen der Erweiterung von Zugänglichkeit nicht zuletzt auch die Schnittstelle zwischen Allzu-Zugänglichkeit und Allzugänglichkeit. Verschiedene literarische Annäherungen an die Ideologie des Nationalsozialismus lassen Mechanismen des Einschlusses und Ausschlusses innerhalb des Wertungsdiskurses und deren innerliterarische Reflektionsebenen transparent werden. Die Beziehung von Konsum und Ideologie schließlich betrifft die Schnittstelle zwischen Wertungs- und Werbediskurs.

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II.1. Wissenschaft, die Zugang schafft

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Die Beziehung zwischen Ideologie und Diskurs im Hinblick auf den Bereich der Wissenschaft diskutiert die Untersuchung von »Gustave Flauberts Bouvard et Pécuchet« (S. 152–167). Genz veranschaulicht daran, warum der integrative Anspruch des positivistischen Bildungsprojekts zum Scheitern verurteilt ist: Eine gleichzeitige Erweiterung sozialer und kognitiver Zugänglichkeit geht mit einer durch Komplexitätsreduktion bedingten (strukturellen) Veränderung des Gegenstandes wissenschaftlichen Interesses einher und muss daher in dessen Trivialisierung enden. »In einer ironisierenden Lösung [...] wird als einziges Mittel der Erkenntnis von Welt die Kopie vorgeschlagen: Sie gewährleistet innerhalb eines jederzeit zu vergrößernden Rahmens Komplexität und Integration« (S. 167). Dies führt auch vor Augen, dass das Verhältnis zwischen Allzu-Zugänglichkeit und Allzugänglichkeit nicht allein quantitativen Regeln untersteht, sondern kategorialer Natur ist.

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II.2. »An der Grenze des Sagbaren« – den Holocaust darstellen

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Die »Darstellungen des Holocaust« (S. 168–209) hingegen setzen sich mit einer nationalsozialistischen Ideologie auseinander, »die als ›allgemeiner Diskurs des Volkes‹ erscheinen will« (S. 152) und darüber Banalisierung und Trivialisierung als Diskursstrategien instrumentalisiert. Doch das Unsagbare sagbar zu machen führt die Literatur in ein Dilemma: »Zum einen muss sie der Banalisierungsstrategie der NS-Täter entgegenwirken, die auf eine Entindividualisierung der Opfer setzt, zum anderen ist sie an einer möglichst breiten Rezeption interessiert und darf aus diesem Grund die sozialen und kognitiven Zugänglichkeitskriterien nicht ganz außer Acht lassen« (S. 171). Drei mögliche Formen des Umgangs mit Zugänglichkeitsdiskursen in der literarischen Reflektion des Nationalsozialismus zeigen die Analysen auf: Zugänglichkeit wird entweder integrativ aus Perspektive der Metaebene, exklusiv aus Perspektive der Objektebene oder integrativ aus Perspektive der Objektebene problematisiert. In Imre Kertész’ Roman eines Schicksalslosen frappiert der »Metadiskurs über Banalität und Trivialität« (S. 173–189) insbesondere durch die Imitation von nationalsozialistischem Diskurs und Ideologie. Die verschiedenen Integrationsstrategien führen jedoch auch zu einer Verwischung von Grenzziehungen und »permanente[n] Schwellenerfahrungen, [die] das Sprechen über Auschwitz« (S. 186) noch erschweren. »Der Geheimnis- und Kitschdiskurs« (S. 189–201) in Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend wirkt im Unterschied dazu jedweder Zugänglichkeitserweiterung kontrapunktisch entgegen. Im Gegensatz zu Kertész problematisiert Klügers Autobiografie Banalität, Trivialität und Kitsch als Elemente der Objektebene und vermittels Exklusivierungsstrategien. Roberto Benignis La vita è bella schließlich nutzt aus Perspektive der Objektebene als einziges (exklusives) filmisches Beispiel »Kitsch und Komik« (S. 201–209), deren narrativen Verfahren Integrationsstrategien der Zugänglichkeit immanent sind.

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II.3. Werten und Werben in Konsum und Pop

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Die Analysen der dritten Gruppe der Zugänglichkeitserzählungen untersuchen Ideologie und Diskurs in ihren Verbindungen zu sozioökonomischen Fragestellungen in der Literatur. Im Anschluss an die Überlegungen zum »Konsum als Domäne des Integrations- und Werbediskurses« (S. 209–242) steht dementsprechend die dialektische Beziehung zwischen Werbe- und Wertungsdiskurs im Mittelpunkt der Analysen. Deren Schnittstelle reflektiert gleich doppelt das Genre der Pop-Literatur: zum einen indem sie Konstituenten des Pop(ulären) im Spannungsfeld zwischen Exklusivität und Zugänglichkeit identifiziert und reflektiert; zum anderen, weil sie zwischen Affirmation und Reflektion selbst Teil beider Diskurse ist. Genz zieht »Bret Easton Ellis’ American Psycho« (S. 213–225) und »Christian Krachts Faserland« (S. 225–239) als geeignete Beispiele zur Veranschaulichung dieser Vielschichtigkeit heran. Wie der Werbediskurs den Wertungsdiskurs imitiert und dabei »achtet, worauf andere achten« (S. 210), so achten auch die Romane »auf das, worauf andere (in diesem Fall der Erzähler und die Figuren) achten« (S. 242). Integration erfährt auf diesem Wege zwei Bedeutungen: Dem Werbediskurs dient sie der Manipulation unter dem Mantel eines Versprechens an Orientierungs- und Identitätsgewinn. Der Pop-Literatur hingegen dient sie zur Reflexion und zur Markierung von Orientierungs- und Identitätsverlust.

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III. Die Autorfunktion zwischen Demokratisierung und Verabsolutierung

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Im Anschluss an das Verschwinden der (tradierten) Autorfunktion und die (reflexive) Emanzipation der Autorfunktion von Erzähler und Erzählinhalt führt der dritte Abschnitt der Analysen zu einer (exponierten) Autorfunktion unter neuen Vorzeichen. Derart verweist Genz mit diesem letzten Kapitel auf die ersten Textanalysen zurück und rückt sie in ein neues Licht: »Die Autorfunktion grenzt gewissermaßen an die Urheberlosigkeit anonymer sprachlicher Äußerungen (Sprichwörter, Redewendungen etc.) einerseits und an die Autoritätsfunktion anderer Diskurse wie Religion, Politik, Militär etc. andererseits« (S. 272). Um diese zweite Grenze geht es an dieser Stelle. Denn standen bisher Banalität, Trivialität und Kitsch als poetische Prinzipien und Formen literarischer Präsentation im Vordergrund, so geht es nun um die Position und Funktion dessen, der da präsentiert. Gegenstand der Diskussion ist die Analyse von Problemen der Zugänglichkeit von Autorschaft. Insbesondere Fragen des Umgangs mit der diskursiven Verknüpfung von Autorschaft und Exklusivität und gar deren Dekonstruktion interessieren hier. Aus welchen Motiven heraus und mit welchen Mitteln und Erfolgen setzen künstlerische Projekte eine »Banalisierung der Autorfunktion« (S. 243) um, die den Rücktritt des individuellen Künstlers zugunsten eines Künstlerkollektivs bedeutet? Als Beispiel und Ausgangspunkt dienen die »Dadaistische[n] Autorenkollektive« (S. 244–250) in ihrem Bemühen um eine diskursübergreifende Dekonstruktion der Autorfunktion in der Kunst wie der Politik und dem Militär. Auf das Scheitern dieser Ideologisierung der Ästhetik reagiert »Schwitters’ Merz als Ein-Mann-Bewegung« (S. 251–268): »Schwitters greift das Experiment der Banalisierung von Autorschaft auf, allerdings lässt das Merzprinzip grundsätzlich Gegenteiliges, also sowohl Autorschaftsansprüche als auch deren Aufhebung, zu« (S. 269). Zeitigten die Banalisierungsversuche keine Erfolge, so erweist sich die diskursübergreifende »Exklusivierung der Autorfunktion« (S. 270–273) und die Verabsolutierung ihrer Souveränität als gleichermaßen problematisch. Das wird abschließend in der vergleichenden Gegenüberstellung von »Stefan Georges Autorfunktion als Kreis-Politik« (S. 273–304) und »Gabriele d’Annunzio: Autorfunktion in Politik und Militär« (S. 305–337) deutlich.

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Fazit

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Zugänglichkeit ist damit nicht nur das theoretische und textanalytische Leitmotiv der Studie, sondern gleichermaßen ihr Strukturprinzip: Sie entwirft eine ebenso verständliche wie komplexe Verweisstruktur, die sowohl ihre argumentative Kohärenz als auch (inter)disziplinäre Anschlussfähigkeit unterstützen. Der von Genz angeregte Perspektivwechsel von der phänomenologischen zur diskursiven Ebene von Banalität, Trivialität und Kitsch ermöglicht so einen neuen und systematischen Zugang zu Problemen der Wertigkeit und legt gleichzeitig die ureigensten Mechanismen der Wertung in der (Literatur-)Wissenschaft offen.