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Der George-Kreis als Textkorpus

  • Gunilla Eschenbach: Imitatio im George-Kreis. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 69) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2011. IX, 402 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-11-025446-4.
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Man kann über Stefan George und seine Jünger schreiben, ihre Gedichte aber außer Acht lassen. Das liegt nicht allein an den über das bloß Literarische hinausgehenden ethischen, pädagogischen und politischen Wirkungsabsichten des Zirkels. Ein bedeutsamerer Grund für die Ausblendung der philologischen Textbasis ist in der Selbstästhetisierung der literarischen Gruppe zu suchen. Die bewusste Art ihrer sozialen Inszenierung machte sie als ästhetisches und formales Problem für Literaturwissenschaftler interessant. Sie konnte wie ein Text gelesen werden, was ihr bald legendären Status verlieh; eine eigene Topik wurde rekonstruiert: Unterwerfung der Jünger, Huldigung und Bruch mit dem Meister, Interaktion mit dem Wissenschaftsbetrieb, bildungsgeschichtlicher Ort der Mitglieder, ihr politisches Schicksal und so fort. 1

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Es sind aber nun einmal Gedichte, die den literarischen Kreis als Dichterkreis konstituieren und für die Literaturgeschichte bemerkenswert werden lassen. Die Gedichte von Stefan George, der sich als Autor fast ausschließlich auf diese Gattung konzentriert hat, sind häufig interpretiert worden. 2 Die Lyrik einzelner Jünger wurde gelegentlich behandelt, aber nicht systematisch im Zusammenhang des Kreises. Die Kreis-Lyrik blieb für die Forschung eine unbekannte Größe. Ihrer Vernachlässigung widerspricht, dass die Lyrik als primäres Verbindungsmedium der Mitglieder fungiert hatte; das Besondere der Dichtergruppe um Stefan George war, dass sie dem Gedicht als literarischer Gattung einen Wert beimaß, der von keinem der sonst noch im Kreis und seinem Umfeld entstandenen diskursiven Genres aufgewogen werden kann. Trotz zahlreicher Dichtungen innerhalb und außerhalb des Kreises hat eine konventionelle literaturgeschichtliche Auseinandersetzung, die das literarische Wechselspiel von Zentrum und Peripherie anhand der Gedichtkommunikation rekonstruierte, nicht stattgefunden. Aufgrund seiner ethischen und politischen Implikationen wurde der George-Kreis auch ohne seine Lyrik wissenschaftlich fragwürdig. Der Blick auf die Kontexte erschien wichtiger als der auf die Texte, mit der Folge, dass sich ›George und sein Kreis‹ als Gegenstand der Literatursoziologie etablierte.

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Aus Sicht einer hermeneutischen Literaturwissenschaft, die sich für poetische Texte interessiert, mutet es ungewöhnlich an, das Textkorpus, welches eine bestimmte literarische Gruppe konstituiert, zugunsten ihres Kontextes zu marginalisieren. Obzwar für die antiken Neoteriker, die französische Pléiade, den Göttinger Hainbund, die russischen Akmeisten oder Oulipo nicht spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellungen denkbar sind, wie die nach der gesellschaftspolitischen Funktion, werden diese Zusammenschlüsse als literarische Gruppen vornehmlich über ihr poetisches Textkorpus definiert. Für den George-Kreis ist das weniger selbstverständlich. Das Gedichtete wird gemeinhin ausgeklammert und die Mitglieder werden hinsichtlich ihrer Meinungen in Briefwechseln und programmatischen Schriften, ihrer Herkunft, ihres Werdegangs oder ihres speziellen Kreisverhaltens mit primärem Interesse untersucht. Einerseits geben sowohl die reiche biographische Quellenlage als auch das umfangreiche kulturtheoretische und -geschichtliche Schrifttum der Kreismitglieder dazu Anlass. Zum anderen hängen die Vernachlässigung der Jünger-Lyrik sowie die Konzentration auf ihr nicht-lyrisches, diskursiv-rhetorisches Schrifttum mit der Kreisstruktur selbst zusammen. Deren autokratische Form hat die Beschäftigung mit dem lyrischen Œuvre Georges forciert und den literarisch nach innen und außen tätigen Kreis in eine bloße Gesinnungsgemeinschaft verwandelt. Die Forschung hätte sich diesem Zwang gleichwohl entziehen müssen, um zu erörtern, inwiefern Georges Lyrik aus der Interaktion mit der restlichen Kreislyrik ermöglicht wurde. Diese Ausblendung stellt eine wissenschaftsgeschichtliche Folge dar, die ganz im Sinne des Meisters ist.

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Die Lektüre von Gunilla Eschenbachs Dissertationsschrift Imitatio im George-Kreis (2011) lohnt schon allein deshalb, weil darin jener literarturhistoriographische Mechanismus, die Werkpolitik des Autors umzusetzen, 3 durchbrochen wird. Der naheliegende, aber bislang verstellte Zugang, die Kreisphysiognomie aus ihrer textuellen Nachahmungsstruktur zu rekonstruieren, eröffnet zudem neue Perspektiven auf den George-Kreis.

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So wird Georges Autorität in ihrer Gemachtheit deutlich erkennbar. Sie entsteht aus Zuschreibungen im Innern und Abgrenzungen nach und von außen – und das geschieht oftmals im selben Medium des Autors, der Lyrik, durch textuelle Bezugnahmen in Form von stilistischen und motivischen Nachahmungen. Diese können affirmativen oder negierenden Charakter besitzen. Um Letzteren zu veranschaulichen, greift die Verfasserin auf den Parodie-Begriff zurück; für die positive Nachahmung auf den der imitatio, was notwendigerweise zu einer terminologischen Überblendung mit der rhetorischen Begrifflichkeit führt.

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Wenn die Verfasserin für die Analyse der literarischen Produktion des George-Kreises das dort entwickelte imitatio-Modell als Richtschnur wählt, dann ist das sicherlich berechtigt, weil die Texte immer irgendwie auf die Autorität in aestheticis bezogen sind und von ihr nur abweichen dürfen, solange sie nicht die implizite und die explizite Poetik des Kreises verletzen. Die imitatio bildet einen zentralen Faktor innerhalb des Kultur schaffenden Anspruchs der Kreismitglieder, wobei nicht nur als Textproduktionstheorie, sondern auch als ethische und politische Kategorie. Mit imitatio Stephani Georgii sind sprachliche Form (imitatio auctoris) und Ethos 4 des Meisters (imitatio morum) zugleich angesprochen, wobei sich das Ethos einzig in der Gedichtform artikuliert und nicht von dieser Form ablösbar ist. In vorliegender Arbeit werden zwar beide Ebenen verbunden, aber die ethische imitatio ordnet sich der literarischen unter.

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Die literarische imitatio, verstanden als imitatio auctorum oder veterae, ist ein rhetorischer Begriff, 5 der wiederum in den Bereich der rhetorischen Übung (exercitatio) gehört (S. 33–35). Die exercitatio (griechisch μελέτη) besitzt folglich auch für die Verfasserin eine heuristische Funktion. Definiert man sie allerdings rhetorisch, als Mittel, sich die copia rerum und die copia verborum durch stete Nachahmung zu vergegenwärtigen, entsteht ein Widerspruch zur Praxis des Kreises.

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Denn die einseitige Nachahmung eines einzelnen Autors ist in der Schulrhetorik unüblich. Zu wenig Gedanken, zu wenig Beispiele für Tropen und Figuren böte eine solche Beschränkung. Das Sonderbare des imitatio- Begriffes im George-Kreis wäre demnach die Verschiebung von der imitatio auctorum zur imitatio auctoris (konkret: imitatio Stephani Georgii). Somit sind die alten rhetorischen Begriffe der dichterischen Nachahmung durch die idiosynkratische Semantik des Kreises überformt; es besteht ein terminologischer Konflikt zwischen der rhetorischen Terminologie und ihrer spezifisch georgianischen Auslegung.

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Dieser Konflikt hätte durchaus im Eröffnungskapitel zum imitatio-Modell diskutiert werden können; ebenso der Begriff der contagio, der nicht unbedingt als bekannt vorauszusetzen ist. Mit der Verwendung des imitatio-Begriffs ergibt sich noch ein anderes Problem. Er firmiert sowohl als Oberbegriff aller Nachahmungsarten als auch der affirmativen Nachahmung im Besonderen. Eine Möglichkeit, diese Dopplung zu vermeiden, hätte sich mit dem Pastiche-Begriff für affirmative Nachahmungsvorgänge ergeben. Allerdings ist der Pastiche innerhalb der Germanistik kaum systematisiert, wohingegen er in der Komparatistik, in der romanischen und angelsächsischen Diskussion für die Textanalyse erschlossen ist. 6 Der Pastiche entspräche als Gegenstück eher dem seit den Arbeiten von Erwin Rotermund, Theodor Verweyen und Gunther Witting üblichen Parodiebegriff, 7 und imitatio könnte dann als Oberbegriff für beiden Formen eingesetzt werden. 8

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Um die imitatio der Jünger von der produktionsästhetischen Praxis des Meisters zu unterscheiden, führt die Verfasserin schließlich den Mimesis-Begriff ein. Es gebe eine ›Mimesis des Urgeistes‹, die sich vom Proteismus, der kein Ethos habe, und vom Naturalismus, dem die Erkenntnis mangle, unterscheide (S. 50). Abgesehen davon, dass George selbst sehr viele andere Autoren imitiert hat, ist ein solches Konzept für die Textanalyse problematisch, da eine erfolgreiche ›Mimesis des Urgeistes‹ nach literaturwissenschaftlichen Kriterien nicht zu bestimmen ist.

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Das Intertextualitätskonzept schließlich wird als methodologische Alternative von der Verfasserin abgelehnt (S. 29f.), weil das Nachahmungsmodell von Personen ausgehe.

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Die Ausführungen zum Nachahmungskonzept des Kreises sind hilfreich, vor allem rückgebunden an die wissenschaftsgeschichtlichen und ideologischen Kontexte der Zeit. In den Analysen kann die Verfasserin auf die im ersten Kapitel formulierten Ergebnisse zurückgreifen; gleichfalls werden induktiv anhand der Textanalyse weitere Erkenntnisse gewonnen, wie beispielsweise zum Formbegriff, der eine organische und eine plastische Bedeutung kennt und damit verbunden zwei verschiedene, miteinander interagierende metaphorische Felder (Gärtner vs. Bildhauer): »Je nachdem, welche Motive sie verwenden, deuten sie diesen als einen Prozess von innen nach außen (Keimen) oder als einen Prozess von außen nach innen (Formen)« (S. 118).

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Das zweite Kapitel stellt die imitatio Stephanii Georgii anhand von Arbeiten Friedrich Gundolfs, Max Kommerells, Ernst Morwitz’, Claus von Stauffenbergs und Berthold Vallentins vor. Gegenüber den nachfolgenden Kapiteln steht dieses vor der besonderen Schwierigkeit, dass die Distanz schaffende Außenperspektive fehlt: Wenn man so sein will wie der Meister, dann ist Abweichung nicht vorgesehen beziehungsweise kann die affirmative Nachahmung des Stils schnell als Parodie gelesen werden wie im Fall von Berthold Vallentins Die Lieder des Landenden und von Neuer Fahrt / Die Krypte der Tieferen Ergiessungen / Die Strenge Feier (1903): »Ohne Kontextwissen ist nicht zu entscheiden, ob der Text seinen Prätext imitiert oder parodiert.« (S. 93) Neben der latenten Parodie bestehen noch andere Gefahren: Ästhetizismus, Eklektizismus, Epigonalität und Dilettantismus (S. 50). Doch auch für solche Verfehlungen wird es schwierig werden, sie in der Praxis objektiv zu erkennen. Es bleibt letztlich der Willkür Georges vorbehalten, darüber Auskunft zu geben. Sein Urteil zieht auch Publikationsverbote nach sich, zum Beispiel kontrollierte er nicht nur die Nachahmung seines Werkes, sondern bestimmte zugleich, was publiziert werden darf und was nicht (S. 92). Gundolfs Gedichtzyklus Caesar und Cleopatra blieb daher ungedruckt.

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Die Kapitel drei und fünf behandeln Autoren, die nicht dem Kreis angehört haben, aber in einem positiven Spannungsverhältnis oder wie im fünften Kapitel in einem Ablehnungsverhältnis zu George standen. Die positiven Bezugnahmen des dritten Kapitels sind ›dilettantisch‹, ›ästhetizistisch‹ oder ›erotisch‹ motiviert. Im Fall Albrecht Schaeffers konstatiert die Verfasserin eine emanzipierte imitatio der Formensprache und Motive Georges, wobei eine umfassende Analyse von Albrecht Schaeffers und Ludwig Strauß’ Parodie Die Opfer des Kaisers. Kremserfahrten und die Abgesänge der hallenden Korridore (1918) weiterhin Desiderat bleibt. Der Fall Schaeffer wirft aber noch eine andere Frage auf: Ob man nicht auch die produktive Auseinandersetzung des Nachahmenden dialogisch verstehen kann. Sicherlich kamen Konzepte des dialogischen Dichtens erst in der Lyrik der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Tragen; aber jede Nachahmung impliziert mit dem hermeneutischen und kritischen Vorgang, den sie darstellt, eine Kommunikation mit dem Vorbild. Ein literarischer Kreis kann auch in seiner kommunikativen Textstruktur beschrieben werden. Zudem hat Schaeffer für seinen Band Dichter und Dichtung (1923) eine weitschweifige Kritik Georges verfasst, die ihm gleichfalls Medium seiner eigenen Poetik ist. Im Helianth (1920), der als Roman die poetische Anti-Gattung des Kreises schlechthin darstellt, ist der Held Georg [sic!] ein Verehrer des Meisters, und man irrt sicherlich nicht über die Absicht Schaeffers, mit dem Helianth dennoch ein exemplum für einen von George inspirierten Roman schaffen zu wollen.

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Anregungen dieser Art bietet auch das fünfte Kapitel. Die darin vorgestellten negativen parodistischen Bezugnahmen 9 bilden die Basis für eine künftige Geschichte der literarischen Fehde in der Moderne. Neben der Formulierung konzeptioneller Kritik, etwa derjenigen in Rilkes George-Parodien, gibt es seitens der Gegner des Kreises Invektiven, die unter die Gürtellinie gehen, wobei sich hierbei Rudolf Alexander Schröder und Rudolf Borchardt hervorgetan haben.

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Ein weiteres Kapitel (Nr. 4) geht der negativen imitatio im Kreis nach, womit Abgrenzungen von anderen Dichtern gemeint sind. Die Verfasserin rekonstruiert die einzelnen Standpunkte sehr genau, wobei sich eine einheitliche Position nicht finden lässt. George halte Hofmannsthal für einen ›Urgeist‹ (also einen Mimetiker, keinen Imitator), Gundolf hingegen sehe in ihm ein abgeleitetes Wesen (S. 241). Konkret ablesbar wird die negative imitatio, die im imitatio-Modell des Kreises begründet ist, zum Beispiel in Gundolfs Parodie in Terzinen Sehr grausam ward ich da ich viele Kinder (1900), die von der Verfasserin erstmals publiziert wird. Ihr Durchgang durch den Text (S. 252–257) beweist große inhaltliche, kontextuelle und formale Sachkenntnis. Entscheidend für das Gelingen der Stilparodie sind nicht nur semantische Bezugnahmen, sondern die metrisch-prosodischen. Hofmannsthal liebte die Terzinen. Der Germanist Gundolf hätte deren ›Geist‹ (wie er gesagt haben würde) in einer stilistisch-rhetorischen Gedichtanalyse nicht präziser treffen können als in dieser Parodie, von der zur Probe die erste Strophe mitgeteilt sei:

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Sehr grausam ward ich da ich viele Kinder
Voll Rausch und manche auch mit Klugheit zeugte
Im Anfang mit Bedacht, doch bald geschwinder (S. 252)
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Die Terzinenform verweist zugleich auf den gemeinsamen weltliterarischen Imitationspunkt Dante. Aus dieser Perspektive hätte Gundolf Recht, dass Hofmannsthal ein abgeleiteter Geist sei. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob es nicht im Rahmen der Arbeit notwendig gewesen wäre, die positiven Bezugnahmen auf andere Dichter wie Dante oder Hölderlin miteinzubeziehen, sogar Georges eigenen Traditionsbezug zu reflektieren. Was ist mit der imitatio Stephanii Georgii, verstanden als genitivus subiectivus? George war –›Urgeist‹ hin oder her – ein großer Imitator.

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In der Typologie, die sich vier Bezugsformen widmet – einer kreisinternen (Teil 2), einer nach außen sich abgrenzenden (Teil 4), einer von außen angreifenden (5) und einer von außen imitierenden und parodieren (3) –, vermisst man das Naheliegende: die traditionelle Aneignung nachahmungswürdiger Dichter (imitatio auctorum). Andererseits kommt durch diese Aussparung das Anliegen der Studie besser zum Ausdruck, die literarische Gruppe anhand der von ihren Mitgliedern, Sympathisanten und Gegnern geschriebenen Texte zu rekonstruieren.

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Die verdienstvolle Studie demonstriert, dass die Rede vom George-Kreis nicht nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einem sozialen Netzwerk, das bestimmte ethische, politische und ästhetische Überzeugungen teilt, gerechtfertigt ist, sondern ein philologisch überprüfbares Fundament besitzt. Dessen produktionsästhetisches Zentrum bildet die Nachahmung, deren Praxis wiederum der autokratischen Struktur des Kreises gehorcht.

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Darüber hinaus eröffnet die Verfasserin rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen: Untersuchungen zu George, die unbedingt auch international ausgeweitet werden müssten, indem das George’sche Werke in Übersetzung mitberücksichtigt wird. Für die komparatistische Parodie- und Pasticheforschung leistet sie einen wichtigen Erschließungsbeitrag, da viele der behandelten Gedichte kaum aus sich selbst verständlich sind und wegen ihres geringen Bekanntheitsgrads keine Deutungstradition entwickelt haben. Der reichhaltige Bild- und Textanhang (S. 329–661), aber auch die vielen bislang ungedruckten Quellen, die von der Verfasserin interpretiert werden, vermehren deutlich das Korpus des bislang Bekannten und sind damit auch eine Bestätigung für die Relevanz der Arbeit.

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Eine weitere Perspektive für eine künftige Analyse des Korpus eröffnet die ästhetische Theorie des Spiels, wie sie Johan Huizinga (Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur, Amsterdam 1939) entworfen hat. Auf den ersten Blick steht der spielerische Zug im Widerspruch zum hohen Pathos der Kreismitglieder. Weil der Ernst des George-Kreises zu seinem Hauptmerkmal geworden ist, liegt der Scherz nicht auf der Hand; auch deshalb, weil sich der Kreis selbst von wohlgesonnenen Parodien wie Schaeffers und Strauß’ Die Opfer des Kaisers keinesfalls amüsiert zeigte. Dennoch ließe sich der humoreske und spielerische Charakter des Imitierens und Parodierens prinzipieller fassen. Anregung dazu geben Gundolf (S. 140–157, bes. 141, 149) und Wolfskehl, die ihre spielerische Seite (S. 170) mit Vorliebe in der Parodie des Gegners zur Schau stellten. Ein Witz ihrer, in der Tradition Martials verfassten Epigramme Ein und funfzig auf den ARSCH liege darin, dass sie Rudolf Alexander »Schröders Nationalheiligen Goethe dort imitieren, wo er nicht klassisch (und nicht besonders sauber) ist« (S. 262).

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Das Spielerische bleibt meines Erachtens nicht bloß auf die Parodie bezogen. Wenn »Gundolf spielt« (S. 141), unterläuft er die ethischen Implikationen und die Autorität, auf der die Nachahmung beruht. Der spielerische Umgang mit dem poetologischen Modell George kündigt bereits die Ablösung vom Vorbild an und lässt ein Nachahmungskonzept vorrücken, das man im George-Kreis nicht vermutet: die wetteifernde aemulatio.

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Als Ausblick sei die Frage gestattet, ob nicht der Kreis eine Form der Geselligkeit darstellt, die sich durch speziell literarische Unterhaltungsspiele formiert, von denen die photographisch festgehaltenen Maskeraden die anschaulichsten sind. Das Spiel unterhält, solange seine Regeln als bekannt gelten dürfen; sind die Texte unverständlich geworden, ist auch ihr spielerischer Charakter verdeckt. Imitatio, Pastiche oder Parodie werden erst dann, wenn man sie zu lesen versteht, eine buchstäbliche Quelle des Vergnügens – vorliegende Studie lässt sie wieder sprudeln.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998; Ders., Art. George-Kreis, in: Wulf Wülfing (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart 1998, S. 141–155. – Zur Bildungsgeschichte s. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln 1997. – Zu George im Kontext des Antimodernismus s. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995. – Zum Nachwirken s. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.   zurück
Diese Interpretation ist voraussetzungsreich, weil George alles, was er sagt, im Medium der Lyrik sagt; er also den Interpreten keine (scheinbar) hilfreichen Selbstaussagen an die Hand gibt. Trotz dieser Schwierigkeit gibt es in der nicht selten ins Biographische oder Tautologische ausweichenden George-Forschung erhellende Textanalysen und Interpretationen, wie jüngst zum Spätwerk von Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010. – Das Gesamtwerk nimmt in den Blick Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln 2005.   zurück
Zu Georges Werkpolitik s. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin 2007.   zurück
Zur imitatio morum s. Dina De Rentiis, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 285–303.   zurück
Seine historische Entwicklung wird ausführlich vorgestellt von Nikola Kaminski (Gert Ueding [Hg.]: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen 1998, Sp. 235–285).   zurück
Für die Bedeutung innerhalb der französischen Literaturwissenschaft s. die Bibliographie von Paul Aron: Répertoire des pastiches et parodies littéraires des XIXe et XXe siècles, Paris 2009; für die italienische: Paola Mildonian (Hg.): Parodia, pastiche, mimetismo. Atti del Convegno internazionale di letterature comparate, Roma 1997; für die US-amerikanische: Ingeborg Hoesterey: Pastiche. Cultural Memory in Art, Film, Literature, Bloomington 2001.   zurück
Erwin Rotermund: Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik, München 1963; Theodor Verweyen/Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979.   zurück
Erstaunlich ist, nebenbei bemerkt, dass die Verfasserin kaum Kontrafakturen verzeichnen kann (nur einmal S. 192).   zurück
Auch hier leistet die Verfasserin Grundlagenarbeit; Vorarbeiten und Anregungen gibt es kaum. Zu den George-Parodien s. Sigrid Hubert: George-Parodien. Untersuchungen zu Gegenformen literarischer Produktion und Rezeption, Diss. Trier 1982; Erwin Rotermund: George-Parodien, in: E.R.: Artistik und Engagement. Aufsätze zur deutschen Literatur, hrsg. v. Bernhard Spies, Würzburg 1994, S. 150–161; Sandra Pott: Parodistische Praktiken und anti-parodistische Poetik. Friedrich Gundolf über Goethe, Hölderlin, Platen, Heredia und Hofmannsthal (mit einem Abdruck unveröffentlichter Texte), in: Euphorion 100 (2006), H. 1, S. 29–77.   zurück