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Thomas Manns Konnex von Musik und Nation im Nebel der Rekonstruktion

  • Tim Lörke: Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 308 S. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8260-3934-8.
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Fruchtbarer Ansatz beim Musikdiskurs

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Der alte Streit um die politische Wandlung oder »Kehre« Thomas Manns wurde immer wieder an der Entwicklung seines Kulturbegriffs festgemacht. Lörke verknüpft diese Frage sinnvoll mit zeitgenössischen Debatten um den »Fortschritt« in der Musik. Er rekonstruiert hier die Kontroverse zwischen Busoni und Pfitzner und positioniert Thomas Mann in diesem Feld. Manns politische Wandlung erscheint dann auch als zunehmende Entfremdung und Distanzierung von Pfitzner. Grundsätzlich betrachtet er Mann als einen Autor der »Synthese«: der Zwischenstellung zwischen Busoni und Pfitzner, Vermittlung des »Dionysischen« mit dem »Apollinischen«, der Bewahrung von Kultur in der endzeitlichen »Zivilisation«. Epilogisch erörtert er auch die Antwort von Hanns Eisler auf Manns Doktor Faustus.

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Darüber hinaus schließt Lörke seine entwicklungsgeschichtliche Studie zu Manns Werk einleitend an die historische Bürgertumsforschung an. Dabei leitet ihn die Überlegung, dass die Musik ein zentrales Medium bürgerlicher Identitätssuche und Sinnstiftung war. Richtig sieht er, dass Mann Identitätsfragen der deutschen Nationalgeschichte und Bürgerlichkeit im Medium der Musikgeschichte und des Musikdiskurses verhandelte. Manns Musikdiskurs war ein reflexiver Kern seines Kulturdiskurses. Lörke wählt damit einen guten Zugang zu einer tiefenscharfen Diskussion der Entwicklung von Manns Kulturkonzept und, damit eng verbunden, Manns »Politik«. Er gliedert seine Arbeit auch sinnvoll in fünf Kapitel, verknappt gesagt: ein einführendes Kapitel zur deutschen »Unvereinbarkeit von Kultur und Politik«, ein zweites Kapitel zur Kontroverse zwischen Busoni und Pfitzner, ein Kapitel zu Manns »Modell einer sozialreligiösen Republik«, dann ein Kapitel zum Doktor Faustus und schließlich ein epilogisches Schlusskapitel zu »Hanns Eislers Johann Faustus und die DDR«.

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HoherDeutungsanspruch

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Das alles ist plausibel und konsequent. Die Arbeit ist auch kundig geschrieben, etwas breit und vage, doch in vielen Aspekten zutreffend und anregend. Eine Archivarbeit, die mit neuen Quellenfunden aufwartet, ist sie nicht. Insbesondere die Ausführungen zur Debatte zwischen Busoni, Pfitzner und auch Paul Bekker um den »Musikbolschewismus« sowie deren Folgen für Mann sind instruktiv. Starke Bedenken und Einwände richten sich dagegen gegen den allzu hohen Deutungsanspruch. Lörke will mehr bieten als eine Entwicklungsgeschichte von Manns Kulturbegriff in der Engführung des Musikdiskurses. Er zielt auf Gesamtdeutung. Dabei verliert er sich ohne hinreichende Kenntnisse der philosophischen und staatstheoretischen Debatten in der Komplexität des Themas und dem Dickicht von Manns weitausgreifender und vieldeutiger Semantik. Die Arbeit gelangt leider nicht zur begrifflichen Klarheit, weil sie mit viel Fleiß, Ehrgeiz und polemischen Voreiligkeiten letzte Fragen bewegt, für die sie kategorial nicht hinreichend gerüstet ist. Grundsätzlich meint Lörke, dass Mann in den Spuren der Romantik auf eine »neue Mythologie« der »Integration der Zivilisation in einen umfassenden Kulturbegriff« (S. 121) zielte. Er deutet Manns Unterscheidung von Kultur und Zivilisation in einen Primat der Kultur und ein geschichtsphilosophisches Synthesekonzept um. Seine Rekonstruktion ist aber viel zu einfach. So fehlt Manns Individualisierungsgeschichte und der Begriff der Nation. Den politischen Kern von Manns Kulturbegriff erfasst Lörke nicht, weil er mit der zentralen Unterscheidung von Politik und Demokratie nichts anzufangen weiß. Manns Stellung zum Bildungsbürgertum verzeichnet er, Manns Option für die Monarchie bleibt deshalb nebulös (S. 142 ff.). Schlagworte von der »neuen Mythologie« und »ganzheitlichen Anthropologie« gehen am philosophischen Gehalt vorbei.

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Nur alltagssprachlich redet Lörke beispielsweise von »Demokratie«, ohne Manns Konzept historisch und systematisch irgendwie zu erfassen. Das klingt dann etwa folgendermaßen: »Es ist deutlich geworden, daß Mann keineswegs Vertreter einer konservativen Revolution ist, dafür ist sein Wille zur Demokratie zu stark, den er unermüdlich durch die Strategie verfolgt, die Demokratie durch ihre Verbindung mit der Musik, dem Irrationalismus und der Romantik zu etwas genuin Deutschem zu machen. Und der linke Liberalismus? Auch daran bleibt zu zweifeln, weil Manns Eintreten für die Republik auf dem Boden eines irrationalen Kulturkonzepts steht, dem er weiterhin die Überlegenheit über die Politik zuspricht« (S. 184). Viele ähnliche Stellen ließen sich anführen, die Manns geschwungene Rhetorik eher verschlimmbessern. Dass Mann »Mythos« und »Aufklärung« irgendwie zusammendachte, wissen wir von ihm selbst. Wie er aber die symbolische Form des Mythos als Medium politisch-theologischer Rationalisierung begriff, rekonstruiert Lörke nicht. Ein Verweis auf Spaemanns »Notwendigkeit« (S. 207) der Religionen bringt nichts. Mann und Spaemann trennen metaphysische Welten. Nicht einmal eine Auseinandersetzung mit Jan Assmann 1 findet sich aber in den einschlägigen Zusammenhängen. Lörke weiß schon mit Manns Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität nichts anzufangen. Ohne eine genauere Diskussion von Manns »Kulturprotestantismus« bleibt auch der Anschluss an die historische Bürgertumsforschung wenig ergiebig.

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Leverkühn ohne Zeitblom

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Die Grenzen von Lörkes kategorialer Erfassung zeigen sich dort besonders deutlich, wo sein Ansatz wirklich fruchtbar sein kann: bei der Interpretation des Doktor Faustus. Hier nimmt Lörke die Kontroverse zwischen Busoni, Paul Bekker und Pfitzner sinnvoll wieder auf und betont auch wichtige Aspekte: so Manns Distanz zu Adorno und den geschichtsphilosophischen Anspruch von Leverkühns Kunst. Lörke wirft sich aber ganz einseitig auf die Seite Leverkühns und kanzelt Zeitblom ohne genaues Ohr für Manns Ironien als »Bildungsbürger« schnell ab (S. 240 f.). Die Grenzen von Leverkühns »Durchbruch« (S. 249) und das Verhältnis des politischen Humanisten zum Medium der Musik sieht er nicht, weil er die »dionysische« Macht der Musik nicht als die zerstörende Kraft erfasst, die sie für Mann seit dem kleinen Herrn Friedemann und den Buddenbrooks war. Leverkühns »Klage« war nicht Manns letztes Wort, so richtig es ist, dass Leverkühn die Krise der Zeit artikulierte und Mann eine geschichtsphilosophische Antwort geben wollte.

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Fazit

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Die Last der großen Worte zeigt sich schon im überladenen Titel, bei dem Mann merkwürdig abgeschlagen erst im zweiten Untertitel auftaucht. Der Sache nach hat Lörke eine entwicklungsgeschichtliche Mann-Studie geschrieben. Von »Gegenmoderne« war dabei nicht die Rede. Warum dieses große Wort? Eine stärkere Beschränkung der Arbeit auf den soliden historischen Kern wäre ratsam gewesen. Lörkes Arbeit ließe sich in ihrem ernsten Bemühen und fruchtbaren Ansatz beim Musikdiskurs freundlich beurteilen. Die Grenzen der Arbeit sollten aber nicht verschwiegen werden. Manns Werk hat es in der germanistischen Forschung schwer genug, im »humanistischen« Geltungsanspruch ernst genommen zu werden. Wer sich auf die Scholastik von Manns Werk einlässt, geht ein hohes Risiko ein. Nicht nur Manns »Dreigestirn« müsste auf heutigem Stand einigermaßen sitzen. Lörke nimmt Manns Konnex von Musikgeschichte und Nationalgeschichte gedanklich ernst. Das Wagestück, eine Dissertation auf die Schultern des »Zauberers« zu setzen, ist ihm aber nicht rundum gelungen. Um pädagogisch mit Goethe und Thomas Mann aufzumuntern: »Mach’s einer nach und breche nicht den Hals«.

 
 

Anmerkungen

Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München: Beck 2006.   zurück