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Wie der ‚ganze Tieck‘ funktioniert - oder: Kritik und Dichtung im Zeichen fortschreitender „Selbsthistorisierung“

  • Claudia Stockinger / Stefan Scherer (Hg.): Ludwig Tieck. Leben - Werk - Wirkung. (De Gruyter Lexikon) Berlin: Walter de Gruyter September 2011. 845 S. EUR (D) 159,95.
    ISBN: 978-3-11-021747-6.
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Deutungslust und Werkmisere

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Seit Achim Hölters Klage über das die Tieck-Forschung kennzeichnende Missverhältnis von Deutungslust und philologischer Deutungsgrundlage hat sich bis heute nur wenig geändert. 1 Lässt man die beim Deutschen Klassiker Verlag in Angriff genommene, jedoch nicht beendete kritische Ausgabe seines Werks beiseite, so stellen die maßgebliche Grundlage die 1966 als Reprint veröffentlichten Schriften in 28 Bänden (1828‑1854) dar. Im 19. und vor allen Dingen im 20. und 21. Jahrhundert erschienen zudem zwar Auswahl-Editionen, Briefwechsel, ein Briefrepertorium und eine Nachlasssichtung, 2 jedoch erhärtet sich Hölters Deutung insofern, als nicht nur für die Jahre von 1817‑1833, sondern auch – sieht man von Studienausgaben ab – für die Zeit zwischen 1795 und 1811, auf die sich die literaturwissenschaftliche Interpretationslust von jeher besonders kapriziert, keine editionsphilologisch verlässlichen Textgrundlagen vorliegen. Sich innerhalb von Tiecks Werk zu orientieren, fällt also nicht ganz leicht oder kostet zumindest Zeit. Einem Handbuch kommt in einer solchen Situation ein besonderer Wert zu – verspricht es doch neben fundierten Informationen zu Autor, Textentstehung und Werkausgaben auch Einsichten in die verschlungenen Pfade der Rezeption und Forschungsgeschichte.

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Das von Claudia Stockinger und Stefan Scherer herausgegebene de Gruyter-Lexikon Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung erfüllt diese Versprechen. Auf der Grundlage von über fünfzig Einzelexpertisen zu Biographie und den literaturgeschichtlich maßgeblichen Kontexten (Kap. 1), den Tiecks Arbeiten prägenden Diskursen (Kap. 2), zu Kunsttheorie, Poetologie und Literaturkritik (Kap. 3) und schließlich natürlich zum poetischen Werk (Kap. 4) sowie dessen Rezeption (Kap. 5), gewinnt der Leser ein umfassendes Bild des Autors. Abgerundet wird dieses durch eine informative Zeittafel (Kap. 6) und eine Tieckbibliographie (Kap. 7), die sowohl mit Blick auf die Arbeiten Tiecks als auch hinsichtlich der Forschungsliteratur keine Wünsche offen lassen dürfte.

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Tieck – Zeitgenosse vieler Epochen?

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Bereits ein Blick in das erste Kapitel, das Tiecks Wirken von der Berliner Spätaufklärung bis in das »Junge Deutschland« hinein thematisiert und epochentypologisch kommentiert, lässt die Frage nach der Einheit des Werks, oder – wenn man so will – nach dem Typischen, die Textproduktion der 1790er Jahre mit der der 1830er und 1840er Jahre Verbindenden laut werden. Gustav Franks Beitrag zur »Epochalität Tiecks« (S. 131‑147) widmet sich dieser topographisch (vgl. Roger Paulin: »Tieck in Berlin«, S. 13‑22; Jochen Strobel: »Dresden, Berlin und Potsdam«, S. 108‑119) und poetologisch-epochenspezifisch (vgl. Albert Meier: »Poetik der Spätaufklärung«, S. 23‑25; Claudia Stockinger: »Der Jenaer Kreis und die frühromantische Theorie«, S. 50‑68; Kristina Hasenpflug: »Die Weimarer Klassik«, S. 69‑83) akzentuierten Fragestellung. Vor allen Dingen der Wechsel von der spätaufklärerischen zur frühromantischen Produktion und von der Phantasus-Sammlung (1812‑1816) zu den Dresdner Novellen der 1820er und frühen 1830er Jahre verweist auf die diskontinuierliche Entwicklung von Tiecks Werk – eine Entwicklung, die einer auf Ganzheitlichkeit abzielenden und unter die Vorzeichen der Romantik gestellten Rezeption zuwider zulaufen scheint.

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Nun hat die seit jeher stark ausgeprägte Romantikforschung gegenüber der Erforschung des Zeitraums zwischen Romantik und Realismus – wie immer man diesen nennen mag – zu einer Akzentuierung des Tieckschen Œuvres im Zeichen der ästhetischen Modernität und das heißt des frühen 20. Jahrhunderts geführt (vgl. S. 134). Das aufklärerische Früh- und postromantisch-biedermeierliche Mittel- und Spätwerk erscheint demgegenüber als uninteressanter, weil konventioneller. Im Gegensatz zu einer derartigen Lesart insistiert Frank sowohl auf der Verbindung von spätaufklärerischer Anthropologie und romantischer Textur (S. 137) als auch auf einer Werkbetrachtung, die für das zeitdiagnostische und zeitkritische Potential offen sein müsse (S. 141) – und sich deshalb nicht an der Normativität des literaturkritischen Diskurses orientieren könne. Dieses Potential gilt es nach Frank vor allen Dingen für das Werk der 1820er und 1830er Jahre zu erschließen, welches die Aporien eines Wilhelm Meisterlichen Selbstausbildungsnarrativs aufzeige und kritisiere: Bildung werde auf diesem Weg als

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[…] ein so vorraussetzungsreiches wie unzureichendes Konzept des Ausgleichs von Fremd- und Selbstbestimmung entlarvt. Tieck arbeitet daran, dieses Konzept durch andere, Individualität und Vergesellschaftung sicherstellende und soziale und ideologische Konflikte ausgleichende Modelle zu ersetzen. (S. 141)
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Zu Franks Versuch, die frühromantische Selbstreflexivität von Tiecks Theaterstücken in der Tradition aufklärerischer Subjektivitätsprobleme zu verorten und damit nicht nur als Spiel, sondern als durchaus ethisch relevante Aktualisierungsmöglichkeit gelten zu lassen, kommt hier die Bemühung hinzu, das Verhältnis von Subjekt und Gemeinschaft in den Texten der 1820er und der 1830er Jahre neu zu lesen. Grundsätzlich jedoch ist Frank von der Diskontinuität der Werkentwicklung überzeugt; jede eindimensionale Fixierung auf einen romantischen Kern erscheint demgegenüber problematisch.

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Auch wenn diese Perspektive von einem primär literaturgeschichtlichen Standpunkt – zumal von einem, der an der Rehabilitation der postromantischen und prärealistischen Literatur interessiert ist – plausibel erscheint, so bedarf sie doch einer rezeptionsgeschichtlichen Ergänzung. Denn wenn man – im Gegensatz zu Frank – unter Epochalität mehr verstehen will als eine von der literaturhistorischen Rexflexion induzierte epochenspezifische Zeitgenossenschaft, lässt sich das Romantische durchaus als Matrix der Wirkung Tiecks und – wie wir noch genauer sehen werden – seiner selbstinszenierten Historizität verstehen. Sowohl für jene frühe germanistische Literaturwissenschaft, die Hegels Innerlichkeitsschelte als Subjektivismuskritik variiert und noch der geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung eines Friedrich Gundolf die Kritikblaupause bietet wie auch für die öffentliche populäre Wahrnehmung bis heute gilt: Sie beziehen sich hauptsächlich auf den ›Romantiker‹ Tieck, weniger den biedermeierlichen Novellisten oder den Autor historischer Erzählungen. Tieck – also ein romantischer Zeitgenosse vieler Epochen.

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Dieser Befund wird von der Analyse der »Traditionen und zeitgenössische[n] Diskurse« (Kap. 2) insofern gestützt, als diese sich vornehmlich jenen Bezugslinien widmet, die sich innerhalb der Epochenschwelle ›um 1800‹ situieren lassen. Sowohl mit Blick auf Tiecks »Antike-Rezeption« (Gilbert Heß, S. 193‑206), die »›Altdeutsche‹ Literatur« (Uwe Meves, S. 207‑218), die »Englische Dramatik« (Christian Sinn, S. 219‑233) oder die maßgeblich von Tieck mitbeförderte Entdeckung und Anverwandlung der »Romanische[n] Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit« (Antonie Magen, S. 234‑246) und des »Italienische[n] und dänische[n] Theater[s] des 18. Jahrhunderts« (Stefan Scherer, S. 247‑260) erhärtet sich dieser Befund. Ob nun seine Fragment gebliebene Abhandlung Über das Erhabene, Die Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter, Ulrich von Lichtensteins Frauendienst-Bearbeitung, Die Kupferstiche nach der Shakespeare-Gallerie oder der besonders seine romantischen Dramen prägende Einfluss von Calderón oder Gozzi: Keimzelle – auch für spätere literaturkritische und editorische Projekte – bleiben die Arbeiten der Jahrhundertwende.

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Vollends gilt dies für sein Verhältnis zu »Religion« (Daniel Lutz, S. 291‑302) und »Philosophie« (Martin Götze, S. 303‑313). Der verspielte Nihilismus der frühen Jahre, den Martin Götze bei seiner Analyse des William Lovell im Blick hat, ist genau so ein Kind der spätaufklärerischen Zeit wie die nicht weniger verspielte frühromantische Religiosität der Herzensergießungen und des Sternbald-Romans.

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Poetik und Kritik

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Nach der Analyse diskursiver Verflechtungen rücken Tiecks »Beiträge zur Poetik und Literaturkritik« (Kap. 3) in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zu Schiller etwa trägt Tiecks Poetik jedoch einen eher impliziten Charakter. Ästhetiktheoretische Großessays oder ambitionierte Grundsatzreflexionen zu kunstphilosophischen Problemen sucht man bei ihm vergebens. Seine Arbeiten zu »Kunsttheorie, Kunstgeschichte, Kunstbeschreibung, Kunstgespräche[n] und poetisierte[r] Kunst« (Helmut Pfotenhauer, S. 342‑352) lassen demgegenüber einen praktischen Zugriff erkennen, der von Anfang an auf die poetischen Mittel der Literatur setzt, um kunstgeschichtliches Wissen inszenieren und Kritik betreiben oder Emphase äußern zu können. Dabei bleiben die Spielarten des Kritischen und Affirmativen bei Tieck keineswegs auf die bildenden Künste beschränkt.

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Es ist vielmehr so, dass Tieck zunächst durch den Bezug auf spanische und italienische Autoren die Rezeption seines Werks in einen Zusammenhang stellt, der in geschichtlicher Hinsicht als traditionsbildende Maßnahme in eigener Sache verstanden werden kann. Indem Tieck zudem literaturhistoriographische Absichten nicht fremd sind – genannt seien hier nur seine lebenslangen Bemühungen um Shakespeare –, rückt die Rolle der Kritik bei der Etablierung literaturgeschichtlicher Standards in den Mittelpunkt. »Der Übersetzer« (Ruth Neubauer-Petzoldt, S. 377‑388), »Der Literaturkritiker« (Steffen Martus, S. 389‑400) und »Der Theaterkritiker« (Jochen Strobel, S. 401‑407) Tieck ziehen also gleichsam an einem Strang, wenn es darum geht, die Relativität ästhetischer Deutungsmaßstäbe als produktiven Faktor der Kritik zu verteidigen und gleichzeitig dabei das eigene Werk in seiner Zeitgebundenheit nicht allzu schlecht aussehen zu lassen: Denn, wie Steffen Martus mit Blick auf die Herausgabe der gesammelten Kritischen Schriften (1848‑1852) formuliert: Die »programmatischen und kritischen Beiträge sind nicht ihrer Urteile wegen an sich ›interessant‹, sondern als Quellen für Symptomstudien, die die Entwicklung Tiecks analysieren wollen« (S. 399). 3

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Tieck – so kann man hinzufügen – liefert also nicht nur jene literaturkritischen Maßstäbe, an denen seine eigenen Werke gemessen werden wollen. Er bereitet gleich noch die Quellen, das heißt die kritisch-poetologischen Wertungen und Selbstauskünfte mit auf, die man argumentativ nutzen möge, wenn man sein ›Werk‹ bespricht. Auf diesem Weg droht der Literaturkritik keine Gefahr, zu einer starren normativen Poetik zu werden. Demgegenüber formuliert sie vielmehr eine implizite Poetologie: Im Spiegel der besprochenen Literatur gewinnt die eigene also jene traditionsgeschichtlichen Konturen, die jeder wertungsästhetischen Auseinandersetzung mit Tieck als Kanonisierungsgebot gleichsam mit auf den Weg gegeben ist.

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Von der Literatur über die Poesie der Poesie zur Novelle

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Tiecks poetisches Werk reicht von den »Schülerarbeiten« (Claudia Stockinger, S. 443‑457) der späten 1780er Jahre bis zur »Späte[n] Prosa« (Detlef Kremer, S. 568‑586), die den früheren romantischen Ton des Autors kommentierend und relativierend aufnimmt, ohne diesen dabei jedoch – epochentypologisch durchaus möglich – eindeutig in einem spätromantischen Wehmutsklang aufgehen zu lassen. Detlef Kremer spricht mit Blick auf Teile des Spätwerks von einer »Re-Lektüre« (S. 575) frühromantischer Positionen. Diese Lektüreform begleitet jenen Prozess einer Historisierung in eigener Sache, an dem Tieck auch als Literaturkritiker aktiv mitwirkt. Mit Waldeinsamkeit schließt der Autor 1840 jenen Kreis, den er ganz maßgeblich mit seiner Naturlyrik (zur »Lyrik« vgl.: Stefan Scherer, S. 476‑495) der späten 1790er Jahre eröffnet hat.

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Einen guten Überblick über die Entwicklung von Tiecks umfangreichem dramatischem Schaffen liefert Stefan Scherer (S. 458‑475). Indem Tieck, so wird in dem Beitrag deutlich, sein im engeren Sinne frühromantisches Drama zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einen Prozess der »Selbsthistorisierung« (S. 469) einbindet und – von da ausgehend – die Romantik und das Romantische immer mehr erinnernd imaginiert und theatralisch inszeniert, verbindet er Gattungsentwicklung und epochentypologisches Bewusstsein unmittelbar miteinander. Letztendlich geht es, wie Scherer schreibt, um die »Archivierung einer Poetologie, die aufgrund der sozialgeschichtlichen Umbrüche seit Beginn des 19. Jahrhunderts obsolet erscheint« (S. 470).

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Was es bedeutet, wenn die Romantik aus der Erinnerung (re-)konstruiert wird, zeigt Thomas Meißner auf eindrucksvolle Weise in seiner Lektüre von Tiecks Phantasus (S. 533‑550). Der Phantasus besteht aus auch heute noch beliebten Märchennovellen (unter anderen Der Runenberg, Der blonde Eckbert) und Märchendramen (unter anderen Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens, Der gestiefelte Kater), die in den Gesprächen der inszenierten Rahmengesellschaft besprochen werden. Auch wenn diese Gespräche keineswegs dem Leser die Deutung der Texte abnehmen, so passt es doch in das bisher skizzierte Bild der Tieckschen »Selbsthistorisierung« (S. 469) und Rezeptionsbeeinflussung, wenn in geselliger Runde »kontroverse Reaktionsmöglichkeiten« auf die phantastischen Geschichten erprobt und »Hintergrundinformationen zum entstehungsgeschichtlichen Kontext« sowie Erörterungen zu möglichen »literaturgeschichtliche[n] Traditionslinien« (S. 548) geliefert werden.

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Dass Tiecks wohl buntestes Phantasus-Märchen, Die Elfen, keine Bearbeitung eines frühromantischen Textes ist, sondern eine Erstveröffentlichung des Jahres 1812, weist jedoch im Gegensatz zu jedem literaturgeschichtlichem Historismus darauf hin, dass der Autor es auch versteht, mit der Tradition und den traditionsbildenden Maßnahmen, die er doch selbst so wirksam zu nutzen weiß, zu spielen: Ganz ungeschichtlich wieder-holt Tieck in dem Märchen jenen Erzählton, von dem er sich über weite Strecken des Phantasus durch die Inszenierung gemeinschaftlicher Reflexion doch eigentlich distanziert. Es ist nicht zuletzt diese Ambivalenz, die eine erneute Lektüre des Phantasus äußerst interessant machen dürfte.

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Manfred Engels Deutung der frühen großen Romane Tiecks, William Lovell und Franz Sternbalds Wanderungen, stellt hingegen die epochentypologischen Zuordnungsprobleme in den Mittelpunkt (S. 515‑532). Engel betont zum einen den Prozesscharakter, der der Entwicklung von spätaufklärerischem zu frühromantischem Erzählen bei Tieck zukomme und wohl – inklusive Inkubationszeit romantischer Imagination – den Zeitraum von 1792‑1798 umfasse; andererseits – so Engel – lassen sich vom Lovell zum Sternbald »Verlauf wie Ursachen des Epochenwandels in nuce studieren« (S. 515). Vom psychologischen Roman in der Tradition Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) zum romantischen »Transzendentalroman« (S. 529‑531), der eine Poesie der Poesie formuliert, ist es sozusagen ein großer Schritt in der Geistesgeschichte – jedoch nur ein kleiner (der Lovell erscheint 1795/96, der Sternbald 1798) für Tieck.

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Engel referiert bündig und präzise entstehungs- und textgeschichtliche Hintergründe beider Romane, skizziert Handlungsabläufe und Problemkonstellationen; er geht jedoch kaum auf (divergierende) Forschungspositionen ein. Seine apodiktische Deutung der Funktion des Allegorischen im Sternbald-Roman etwa – man müsse den Begriff der Allegorie »natürlich in seinem (früh-)romantischen, nicht in seinem rhetorischen Sinne« als Hinweiszeichen auf ein Absolutes verstehen – lässt weder etwas von den begriffsgeschichtlich nachweisbaren Unübersichtlichkeiten, die das Diskursfeld Allegorie vor und nach 1800 kennzeichnen, erahnen, noch von der lebhaften Forschungsdiskussion, die sich diesem Problem widmet. Doch gerade auch mit Blick auf epochentypologische Zuordnungsbemühungen, die daran arbeiten, Konzepte des Allegorischen zwischen Spätaufklärung und Romantik genauer zu taxieren, hätte sich ein vielgestaltigeres Bild zeichnen lassen.

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Als die beiden Romane verbindend erweist sich jedenfalls der unterschiedlich motivierte (und unterschiedlich bewertete) Bezug auf den Bereich des Wunderbaren. Es mag zunächst überraschen, die Gestaltung des Wunderbaren zu einer Konstante in Tiecks Werk überhaupt erklären zu wollen – besonders das Spätwerk scheint dem entgegenzustehen. Und doch – das zeigen Michael Neumanns Einlassungen zu den »Dresdner Novellen« (S. 551‑567) – kommt das Wunderbare bei Tieck nie so richtig aus der Mode. Ergibt sich der Wechsel vom Lovell zum Sternbald mit Blick auf eine Gestaltung des Wunderbaren vor allen Dingen dadurch, dass das vormals als Täuschung und Blendung anthropologischer Selbstreferenz entlarvte nun im Gewand göttlicher oder gefährdender Geistigkeit eine lediglich poetisch legitimierte Relevanz erhält, so deuten die späteren Erzählungen Tiecks »auf einen neuen Begriff des Wunderbaren«:

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Die Novelle der zeitgenössischen Realität zeigt das Wunderbare nicht in Bildern einer zweiten, göttlichen oder dämonischen Wirklichkeit, sondern im überraschenden Umschlag, der mitten in Beschränkung und Zwiespalt des alltäglichen Lebens eine zuvor unausdenkbare Lösung bewirkt. (S. 553)
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Unangemessen – das macht Neumann deutlich – ist mithin ein Verständnis der Novelle, wie es das spätere 19. Jahrhundert ausgebildet hat und heute noch häufig als gattungstypologischer Maßstab gilt. Als charakteristisch für Tiecks Novellen erweist sich demgegenüber zum einen »die Aneignung bestimmter Gattungstraditionen des 18. Jahrhunderts« (S. 554): »Dialog, Unterhaltung, Essay, Betrachtung, Rede und Brief« (S. 555). Zum anderen stehen die Erzählungen dieses Zeitraumes unverkennbar in der Geschichte der europäischen Komödie. Neumann listet zahlreiche Novellen auf, die – schaut man genauer auf das Figurenreservoir und die Problemkonstellation – etwa Anleihen bei Marmontels Contes moraux machen. Da ist er wieder – der souverän über die europäische Gattungs- und Stofftradition verfügende Tieck, der ab den 1820er Jahren zudem redlich bemüht ist, mit seinen Arbeiten nicht nur die Literaturkritik auf seiner Seite zu haben (oder sich durch eigene literaturkritische Arbeiten ein poetologisches Zeugnis auszustellen), sondern gleichermaßen die Wünsche des sich etablierenden literarischen Marktes zu erfüllen.

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Tieck und die Literaturgeschichte

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Dass ein Autor, dessen poetisches Werk eine ausgeprägt literaturgeschichtliche Dimension beinhaltet (oder zumindest inszeniert), und dessen kritisches Werk wiederum maßgeblich auf die Traditionsverortung des poetischen einzuwirken strebt, dass solch ein Autor also für die Literaturgeschichtsschreibung eine besonders interessante Herausforderung darstellt, dürfte deutlich geworden sein. Dies umso mehr, als Tieck nicht nur ein Zeitgenosse der Etablierungsphase früher disziplinärer Germanistik oder Anglistik ist, sondern auch durch seine Editionstätigkeiten (Novalis, Friedrich Schlegel, Maler Müller, Kleist, Lenz, Solger) und seine literaturkritischen Arbeiten die Maßstäbe für den wissenschaftlichen Umgang mitprägt. Ralf Klausnitzer skizziert in seinem kenntnisreichen Beitrag »Tieck und die Formierung der neueren Philologien« (S. 604‑619) zum einen die auf Popularisierung ausgerichteten Bestrebungen des Autors, alte Texte zugänglich zu machen. Zum anderen weist der späte Tieck der Kritischen Schriften (1848‑1852) sowohl durch die Geste der Selbstauslegung als auch die Inszenierung der Fremdauslegung der germanistisch-disziplinären Zunft den Weg, auf dem er in Zukunft behandelt zu werden wünscht.

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Dass diese sich nicht unbedingt daran hält, beweist Gerhard Kaisers Beschäftigung mit »Tieck in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts« (S. 620‑633). Sehen die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzenden literaturgeschichtlichen Einlassungen der Brüder Schlegel in Tieck noch den Repräsentanten einer Selbstermächtigung der Phantasie, der sich von den starren antiken Vorgaben im Rückgriff auf das Mittelalter emanzipiert, so erfolgt bald eine religiös oder nationalistisch verengte Rezeption. Zudem etablieren sich zwischen 1810 und 1840 unter anderem jene negativen Werkbewertungsstereotype die – vermittelt über Rudolf Hayms Die romantische Schule (1870) – auch für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts und zum Teil auch darüber hinaus prägend werden sollen (vgl. S. 625). Michael Ansels Studie zur Hegelianischen Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert hat zudem deutlich gemacht, dass kaum ein Autor, der um die Romantik oder die sogenannte ›romantische Schule‹ epochentypologische Bemühungen zeigte, an Tieck vorbeikam. 4

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Nach 1870 entstehen jedoch kaum noch neue Werturteile, die einen Anspruch auf normativen Vollzug stellen. Demgegenüber steigt die Zahl der Studien an, die sich mit ausgewählten Aspekten innerhalb von Tiecks Arbeiten beschäftigen und auf diesem Weg sowohl zu einer Versachlichung der Diskussion als auch zu einer Spezialisierung der Tieck-Philologie beitragen. Der Weg zu einer abwechslungsreichen, sich ab den 1970er Jahren intensivierenden Tieckforschung des 20. und 21. Jahrhunderts – wie sie Heidrun Markert analysiert (S. 673‑686) – ist damit geebnet.

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Fazit

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Das vorliegende Handbuch kann ohne Zweifel als gelungene Übersicht über das Werk und den seit dem 19. Jahrhundert stetig wachsenden und methodisch reflektierter werdenden Umgang mit Tieck gelten. Der im Vorwort formulierte Anspruch jedoch, die »von den jüngeren Theoriedebatten beeindruckten Arbeiten mit einer umfassenden Erschließung und Kontextualisierung der älteren Forschung zu einem Gesamtbild zu bündeln« (S. XI‑XII), wird nur bedingt eingelöst. Maßgeblich für zahlreiche Beiträge ist demgegenüber die in der Tradition ›klassischer‹ Literaturgeschichte stehende Einflussforschung. Fragen nach dem Entstehen und den Bearbeitungsmöglichkeiten von Forschungsdesiderata – wie sie häufig durch theoriegeschichtlich induzierte Perspektivwechsel oder methodische Neuerungen auftreten – werden kaum gestellt. Auch wenn die Hauptaufgabe eines Handbuchs darin zu sehen ist, die Summe von Wissensbemühungen zu bilden, kann es doch nicht schaden, Forschungslücken offensiver zu exponieren. Auf der Grundlage der gebotenen Informationen hat der Leser allerdings alle Möglichkeiten genau das zu tun.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Achim Hölter: Ludwig Tieck: Literaturgeschichte als Poesie. (Beihefte zum Euphorion; Heft 24) Heidelberg: Winter 1989, S. 5.   zurück
Vgl. zum Beispiel die immer noch gern zitierte Ausgabe: Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der Schriften von 1828–1854. Unter Berücksichtigung der Erstdrucke herausgegeben, mit Anmerkungen und Nachwort versehen von Marianne Thalmann. München: WBG 1963–1966. Vgl. Walter Schmitz / Jochen Strobel: Repertorium der Briefwechsel Ludwig Tiecks. Dresden: Thelem 2002. Vgl. Lothar Busch: Der handschriftliche Nachlass Ludwig Tiecks und die Tieck-Bestände der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Wiesbaden: Harrassowitz: 1999.   zurück
Vgl. grundsätzlich zu Tiecks »Poesie der Philologie« Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York: de Gruyter 2007, S. 371–444, Zitat: S. 371.   zurück
Vgl. Michael Ansel: Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik. Tübingen: Niemeyer 2003, zu Hegels Rezension von Solgers Nachgelassene Schriften und Briefwechsel (1828), die wichtige, auch und später immer wieder an Tieck exemplifizierte Kritikpunkte enthält S. 175–181; zu Karl Rosenkranz’ Aufsatz Ludwig Tieck und die romantische Schule (1838) siehe S. 181–196; zu Hermann Hettners Romantik-Konzeption in Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhang mit Göthe und Schiller (1850) am Leitfaden von Tieck siehe S. 223–227, S. 236–241; zum Tieck-Bild in Hayms Romantische Schule (1870) siehe S. 250–266.   zurück