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Affirmative Subversion?

Ein kulturwissenschaftlicher Sammelband auf der Suche nach Haltungen

  • Kai Sina / Ole Petras (Hg.): Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest. Dresden: Thelem/ w.e.b. Thelem 2011. 290 S. einige s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-939888-92-5.
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Dietmar Daths wucherndes Œuvre, René Polleschs Prekariatstheater, die Guerilla-Taktiken der Yes Men und der Satirezeitschrift Titanic, das Schicksal des Protestsongs im Mainstream der Gegenwart oder Hans Weingartners cineastische Kapitalismuskritik – die Themen des von Ole Petras und Kai Sina sorgfältig edierten Bandes dürfen zumindest bei jüngeren Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern auf unmittelbares Interesse rechnen. Aus diesen Reihen rekrutiert sich auch die Mehrzahl der Beitragenden, einige von ihnen bereits mit einschlägigen poptheoretischen Monographien 1 hervorgetreten. Trockener Akademismus, der sich in popkulturellen Kontexten nicht selten blamiert, ist dabei ebenso wenig intendiert wie das Versprechen einer beruhigenden Vogelperspektive : »Der Abstand der Kritiker zum Kritisierten ist geschrumpft«, konstatieren die Herausgeber, und auch nach Preisgabe des »Anspruch[s] auf Allgemeingültigkeit und Letztverbindlichkeit« bestehe »ein weitverbreitetes Bedürfnis nach kritischen Darstellungen und Deutungen der gesellschaftlichen Zustände« (S. 8). Wer wollte dem widersprechen?

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Anspruch und Programm

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Wenig Widerspruch erregen zunächst auch die knappen Vorgaben, um nicht zu sagen: Lizenzen der Herausgeber. Mit Niklas Luhmann lässt sich noch einmal der Anspruch auf einen »totale[n] Blick auf die Gesellschaft als Ganzes« (S. 7) zurückweisen, mit Georg Bollenbecks gewichtiger Geschichte der Kulturkritik 2 die mit der »Erosion des Bildungsbürgertums« 3 einhergehende »Konfusion« (S. 7) als pluralistische Basis einer »zutiefst demokratischen Kritikkultur« 4 begrüßen. Die auf dieser schmalen Basis eher eilig eingeführte Rede von pluralistischen »Kulturen der Kritik« (S. 9 passim) ließe man sich allerdings lieber gefallen, wäre sie nicht auf Kosten einer zum »Generalangriff auf die Gesellschaft« entstellten »alten ›Kulturkritik‹« (S. 9) gewonnen. 5

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Ungeachtet der von den Autoren immerhin gestreiften Frage, ob ihre Skizze nicht eher die Produktionsbedingungen kulturwissenschaftlicher Sammelbände (vgl. S. 10) als den kulturkritischen Status quo erfasst, präjudiziert der reizarme Gestus des Vorworts eine klare Tendenz der versammelten Beiträge: Nicht der kühne Entwurf, sondern das Referat, die Suche nach kritischen Vorbildern, Haltungen, Positionen steht im Mittelpunkt. In Umkehrung des popaffinen Verfahrens der subversiven Affirmation ließe sich folglich von einem Bedürfnis nach affirmativer Subversion sprechen. Ehe ich mit Janet Boatins und Christoph Rauens Abhandlungen zu Dietmar Dath bzw. Diedrich Diederichsen zwei Beiträge vorstelle, die als biographies intellectuelles die den Band prägende Suche nach kritischen Modellen exemplarisch vorführen, lohnt ein kurzer Blick auf das versammelte Material, der zwei weitere gemeinsame Merkmale offenbart.

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In der Rubrik »Narratives« (S. 17–82) finden sich drei literatur- und eine filmwissenschaftliche Analyse: Neben Boatins später ausführlich gewürdigter Dath-Lektüre untersucht Kai Sina die Feuilleton-Debatte um angebliche rechtskonservative Tendenzen in Uwe Tellkamps Prosadebüt Der Eisvogel, während Markus Wiefarn in exemplarischen Lektüren zweier einer »Literatur der Arbeit« (S. 51) zugerechneten Texten Kathrin Rögglas und Anne Webers eine Verschiebung des kritischen Fokus herausarbeitet: »Wurde Kritik vormals vor allem im Namen der Arbeitenden geübt, so wird sie nunmehr vor allem an den Arbeitenden geübt.« (S. 65) Auf der Folie einer kurzen Geschichte der »Darstellung des deutschen Linksterrorismus im Spielfilm« (S. 69) referiert Claudia Hillebrandt »Spielarten politischen Protestes« (S. 73) in den Filmen Hans Weingartners, die der Rubrik entsprechend tatsächlich als Narrative behandelt werden, die sich mehr oder weniger bruchlos mit den publizistisch verbreiteten Statements des erfolgreichen Regisseurs zur Deckung bringen lassen.

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Unter dem Schlagwort »Performatives« (S. 83–192) versammeln die Herausgeber sechs thematisch und stilistisch auffallend divergierende Beiträge zu »performativen Medien wie Theater, Fernsehen und Popmusik« (S. 10). Mit dem kritischen Potenzial von Performances beschäftigen sich Caroline Lodemann und Nina Ort: Während Lodemann einsichtig macht, wie René Polleschs (Nicht-)Theater sowohl die »Geste von Kritik« (S. 87) als auch »das Sprechen für Andere« (S. 93) als performativ nicht zu bewältigendes Repräsentationsproblem ausstellt, bedienen sich die von Nina Ort vorgestellten »Kommunikationsguerilla« (S. 95) wie NSK –Neue Slowenische Kunst (vgl. S. 97 ff.) oder die Yes Men (vgl. S. 103 ff.) einer »Strategie der affirmativen Überidentifikation«, die das semiotische Fundament des »neoliberalen Wirtschaftssystems« erschüttern, indem sie es coram publico »zu Ende denken« (S. 105).

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Mit Simon Zumstegs »Latenz der komischen Partei. Kritik nach Helge Schneider« (S. 109–126) folgt der in jeder Hinsicht außergewöhnlichste Beitrag des Bandes, dessen Konstellierung von Klee’schem »Schellen-Engel« (S. 110 passim) und »helgemoniale[r]« Botschaft nicht anders als kühn zu nennen ist. Schneiders »unablässige Inszenierung stolpernder Souveränität« (S. 123), sein »Aushöhlen der Klischees von innen« (S. 124) zielen, so eine von Zumstegs stilistisch brillant vorgetragenen Pointen, auf einen »Linkshelgeianismus« als »Nährboden für das Gegenteil von Faschismus.« (S. 126) Von derlei geschichtsphilosophischen Spekulationen ist Björn Bohnenkamps unterhaltsamer Beitrag »Switching Television. Kritik im/am System« (S. 127) weit entfernt. Der Autor widmet sich den Verfahren und Rückkopplungseffekten der Satire-Sendungen Kalkofes Mattscheibe und Switch reloaded, ohne allerdings – trotz sporadischen Baudrillard-Bezugs – über allzu Konsensfähiges (»Besonders prekär wird das Verhältnis zwischen Fernsehen und Realität im Genre der Informationsprogramme und Nachrichten«, S. 144) hinauszugehen. Deutlich theoriefreudiger präsentiert sich demgegenüber Sascha Seilers Bestandsaufnahme zum »Protestsong im Mainstream-Pop des 21. Jahrhunderts«, dessen knapp ein Drittel des Beitrags einnehmende Diskussion der (Nicht-)Brauchbarkeit des Mainstream-Begriffs (vgl. S. 151ff.) das fehlende Bemühen um begriffliche Trennschärfe einiger anderer Beiträge hervortreten lässt. Dieser Vorwurf ist Ole Petras‘ engagierter Untersuchung »Zu den Idiomen der Kritik im deutschsprachigen Independent« (S. 168) nicht zu machen; vor allem in der Parallelführung der Bandgeschichten von Blumfeld und Tocotronic kann der Mitherausgeber den »Abschied von der auf Abgrenzung bedachten Utopie des Punk« als »verbindendes Element der Gegenwartskunst« (S. 191) plausibel machen.

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Ebenfalls konzise bei beeindruckend weitem Fokus präsentiert sich Thomas Ernsts Analyse der Satirezeitschrift »Titanic zwischen Avantgarde, Dekonstruktion und Aufklärung« (S. 213), die mit Christoph Rauens unten gewürdigtem Beitrag zu Diederich Diedrichsen die dritte und letzte Sektion »Diskursives« (S. 193–286) eröffnet. Ernst konzentriert sich zunächst auf »ästhetische und inhaltliche Aporien« (S. 218) literarischer Subversion, um anschließend eine überzeugende Situierung der Zeitschrift im Kontext der Neuen Frankfurter Schule vorzunehmen. Kulturkritisch im besten Sinne ist Ingo Irsiglers Versuch, zwei mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Romane gegen ihre Laudatoren zu lesen; dabei gelingt ihm vor allem »im Falle Julia Francks« der Nachweis eines »bemerkenswerten Missverhältnis[ses]«, dass nämlich »an junge Autoren Maßstäbe angelegt werden, die von ihnen offensichtlich gar nicht erfüllt werden wollen.« (S. 258) Der feuilletonistische Kurzschluss von Autorinnen wie Katharina Hacker oder Julia Frank mit »Grass & Co.« (ebd.) entspringe, so Irsigler, weniger einem Bedürfnis nach einer Renaissance engagierter Literatur als dem merkantilen Interesse, »die deutsche Gegenwartsliteratur national und international aufzuwerten.« (S. 258) Demgegenüber fällt Kristin Bulkows und Christer Petersens den Band beschließende »Skizze einer qualitativ-quantitativen Inhaltsanalyse des Fernsehpreisskandals 2008« (S. 262) um Elke Heidenreich und Marcel Reich-Ranicki zumindest vom kritischen Ertrag etwas ab: So wird zwar mit großem statistischen Aufwand vorgeführt, dass und wie auch dieser Skandal einer gängigen »Rhetorik« (S. 277), »Dynamik« (S. 280) und »Ökonomie« (S. 283) folgt, doch wirken diese Bemühungen angesichts des recht erwartbaren Ergebnisses etwas überorchestriert: »Im Gegenteil haben […] alle Beteiligten von der durch den Skandal verursachten öffentlichen Aufmerksamkeit profitiert, die Skandalierer ebenso wie die Medien: Zeitungen wurden gelesen, Sendungen wurden geschaut und der Star in seinem Marktwert erhöht« (S. 285).

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Festzuhalten bleibt nach dieser ersten Durchsicht, dass die Beitragenden »Kritik« vor allem als dezidierten Wider- bzw. Einspruch und »Pop« im Sinne von am Markt erfolgreich interpretieren. Dass auf Grundlage dieser naheliegenden, aber keineswegs zwingenden Vorentscheidung der Status des eigenen kritischen Textes praktisch durchgehend unreflektiert bleibt, überrascht ebenso wenig wie die weitgehende Beschränkung auf linksliberale, feuilletonistisch arrivierte Akteure. 6 So muss sich »dieses Buch« vielleicht auf eine etwas andere als die proklamierte Art den Vorwurf gefallen lassen, tatsächlich »kein Außen« (S. 15) zu kennen.

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Exemplarische Lektüren – exemplarische Biographien

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Mit bald drei Dutzend eigenständigen, programmatisch genreüberschreitenden Buchveröffentlichungen gehört der 1970 geborene Dietmar Dath nicht nur zu den produktivsten, sondern auch den provokantesten Autoren der neueren Generation. Politisch erklärter Marxist, ästhetisch bricoleur, (pop-)kulturell bestens informiert, in manischer Schlagzahl publizierend, macht es der umstrittene Autor selbst seinen Bewunderern nicht leicht, ihm zu folgen. So ist es hilfreich, dass Janet Boatin ihrem Beitrag über »Dietmar Daths popintellektuelle Kritik« (S. 17–32) mit den beiden Romanen Die salzweißen Augen (2005) und Dirac (2006) einen überschaubaren Werkausschnitt zugrunde legt und sich dabei auf Daths »spezifisches Profil als Popintellektueller« (S. 17) beschränkt. Zwar wäre eine Reflexion auf den Umstand, dass es sich bei den Romanen um Daths erste Suhrkamp-Publikationen nach gut zehnjähriger Independent-Odyssee 7 handelt, ebenso lohnend gewesen wie ein kurze Rechtfertigung der Reduktion auf den Aspekt des Popintellektualismus, doch verspricht Boatins Entscheidung, sich Daths aufeinander bezogenen Romanen intertextuell zu nähern, eine nachvollziehbare Annäherung an einen schwierigen Autor.

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Nach einem sehr gelungenen Kurzreferat zum diskursiven Schicksal des Intellektuellen im 20. Jahrhundert wird Daths Verfahren als Montage von »Wissen aus klassischen Texten« mit »Trash und Science Fiction« (S. 21) klassifiziert. Diese wiederum erfordere vom Rezipienten eine Lektüre »von innen« (S. 21), die zuletzt Moritz Baßler als adäquate »Rezeptionshaltung« bei der »Beschreibung von Popkultur« 8 gefordert hat, was zunächst einmal nicht mehr oder weniger meint als die Vertrautheit mit den aufgerufenen disparaten Codes. Ungeachtet der Frage, ob die »Innen«-Metapher dem von Dath auch auf anderen Ebenen, etwa der Textsorten, Verlagshäuser oder Publikationsarten betriebenen Entgrenzungsprojekt gerecht wird, rührt die Faszination des »›Vorzeige-Kommunist[en]‹ « (S. 23) Dath nun aber gerade von dessen in Aussicht gestelltem Zugriff auf die »Sachen« bzw. die »Realität« jenseits »des Textes.« 9 Das meint offenbar nicht weniger als eine »Abrechnung mit den Poststrukturalisten« (S. 27) auf dem Wege »drastische[r] Kunst und Erlebnisformen« (S. 25) als »ästhetische[r] Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage.« 10 Konkret, so Boatin, äußert sich diese »Ästhetik der Drastik« 11 in »Gattungskapriolen zwischen Science Fiction, Epos und Horror« (S. 25), »intermedialen Verweisstruktur[en]« (ebd.), »Authentizitätsmarkierungen« (S. 27), »zeitlupengedehnt, detailliert und gefühlskalt« (S. 31) beschriebenen Szenen und Metalepsen, die insgesamt auf »eine nicht-kathartische Verflüssigung von Grenzen zwischen Fiktion und Realität« (ebd.) abzielen. Soweit, so vertraut.

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Anstatt nun aber deutlich zu machen, worin sich die skizzierte Ästhetik von der andernorts pauschal kritisierten Postmoderne unterscheidet, verfolgt Boatin diese drastisch evozierte »Verflüssigung« weiter im »Nicht-Ort Dirac« (S. 28). Dieser übernimmt vom Vorgängerroman das Ensemble der Protagonisten, die nun erkennbar als »prototypisch für eine Idee« (S. 30), ferner auch als »ineinander über[gehend]« (ebd.) angelegt sind und sich auf »vier narrativen Zeitebenen« (S. 29) bewegen, die von einer geheimnisvollen »Frau von der Küste« zusammengehalten werden. Die nichtlineare Anordnung dieser Ebenen rekurriert offenbar auf »Paul Diracs wissenschaftlichen Erkenntnisse[]«(ebd.), über die wir allerdings weniger erfahren als über die Enden zweier Figuren: »David Dalek bricht das Buch ab und geht seinem ›Nachsehdrang‹ nach«, indem er zu einer angeblichen UFO-Fundstelle pilgert (S. 30). Die Drastikerin Nicole stirbt trotz Sprung vom Turme nicht, sondern »löst sich zeit- und räumlich auf, landet bei der Frau von der Küste und lebt fortan in einer (mythologisch bebilderten) Zukunftsvision« (S. 31), was Boatin als »polemische Pointe« (ebd.) gegen das berühmte Schlussbild vom verschwindenden Gesicht im Sand in Foucaults Die Ordnung der Dinge deutet.

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»Naturwissenschaftliche Theoreme, Ufos, Nicoles Quasisuizid und Kommunismus« (S. 31) – der ob dieser Gemengelage verwirrten Leserschaft wissen Daths Figuren zumindest den Trost, man wisse »›doch jetzt mehr als vorher‹«(S. 31), oder, in Boatins Paraphrase: »Wissen ist es, an das man glauben kann. Dass Dirac keine klare Vision […] als Schlusswort ausspricht, sondern mit einem fluiden Nicht-Ort schließt, zeichnet Daths prozessuale politische Ästhetik aus. […] Dath interessiert sich nicht für die kathartische Wirkung von Kunst, sondern bewahrheitet in seinen Texten einen Glauben: Literatur könne auf-, um- und beschreiben, was möglicherweise irgendwann Realität wird.« (S. 31 f.)

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Ob Boatin ihrem Autor, den sie doch immerhin einführt als einen Kritiker jenes postmodernen anything goes, das »alles zulasse, aber nichts bewege« (S. 17), mit einer solch vagen Rede gerecht wird, sei dahingestellt. Problematischer erscheint die Verwischung der Grenzen von Zitat, Paraphrase und These, die unentscheidbar macht, in wessen Namen diese Rede ergeht. Wer mag, kann darin eine ironische Mimesis an den literarisch dargestellten »fluiden Nicht-Ort« erkennen, der nicht »irgendwann«, sondern umstandslos in kritische »Realität« überführt wird – mir persönlich erschiene eine Analyse von Verfahren und Funktion dieses literarischen Utopieversprechens allemal geeigneter, Daths offenbar auch von der Autorin geteiltes Bedürfnis zu stillen, es möge endlich »›um etwas Größeres gehen […] als bloß um das Gequatsche um das nächste Buch.‹ « 12

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Verweist Daths Oeuvre auf eine Zukunft jenseits des Textes, über die nur spekuliert werden kann, lädt der publizistische Werdegang des 1957 geborenen Poptheoretikers Diedrich Diederichsen zur Retrospektive ein: Obwohl nur ein gutes Jahrzehnt älter als Dath, gehört Diederichsen einer anderen Generation an, deren Pop-Sozialisierung sich noch im Umfeld von »maoistischen Kadergruppe[n]« und »permissive[n] Pädagogen« (S. 197) abspielte. Damit geraten drei Jahrzehnte westdeutscher Mentalitätsgeschichte in den Blick, die Christoph Rauen in seinem Beitrag »Kulturalisierung als Potenzierung der Kritik« (S. 193–211) exemplarisch befragt: »Wie kommt es, dass Diederichsen als ein ehemals linksaußen angesiedelter Autor sich dem parlamentarischen Spektrum annähert?« (S. 193)

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Rauens angenehm floskelfreier, gründlich recherchierter Beitrag unternimmt es zu zeigen, wie sich Diederichsen in den 1980er Jahren als Metakritiker (»Kritik2«) etabliert und über die »Infragestellung und partielle Rücknahme dieser Metakritik seit den 1990er Jahren (Kritik3)« (S. 193) der sogenannten gesellschaftlichen Mitte annähert. Dabei lässt sich einiges lernen über die Aporien, in die sich jede Kritik als Relatum ihres ›Gegenstandes‹ früher oder später verstrickt.

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Diederichsens Ablehnung der gemäß Greil Marcus zum »nervtötenden Jingle« 13 verkommenen Kulturkritik der Frankfurter Schule beruht, wie Rauen in seiner Beschreibung der ersten Kritikphase zeigt, nicht auf inhaltlicher Auseinandersetzung, sondern auf deren Klassifizierung als Mainstream. Damit ist die entscheidende Volte, leider verdeckt von einem für sich genommen amüsanten Exkurs über die »Durchsetzung der Langhaarfrisur in den 60er Jahren« (S. 195),bereits geschlagen: »Kritische Haltung« (ebd.) ist bei Diederichsen weitgehend synonym mit »Subkultur« (S. 196) und als solche dem bekannten Mechanismus von Verfremdung und Adaption durch die ›Mitte‹ ausgesetzt, der wiederum zu wachsendem »Radikalisierungsdruck« (S. 196) führt. Rauen schließt sich an dieser Stelle zwar Detlef Siegfrieds Einsicht an, dass »Gegenkultur und Kulturindustrie nicht als Antipoden [zu] sehen« sind, »sondern voneinander abhängige Faktoren moderner Massenkultur« 14 darstellen, lässt dabei jedoch den entscheidenderen Begriff der Mode, der im Kontext der aktuellen »Hipster«-Debatte 15 noch einmal an Relevanz gewonnen hat, beinahe unberücksichtigt. Eine vertiefte Reflexion – und Kritik – dieser alles andere als zwingenden Kopplung hätte sich schon deshalb angeboten, weil sich Diederichsens post-avantgardistische »Subversion durch Affirmation« (S. 198) auch modisch materialisiert: »Business-Anzüge tragen, weil man es liebt, sie zu hassen«, lautet die eher schlichte Formel (ebd.). Zum Business-Anzug der Sprache werden dabei die »mehreren Anführungszeichen« 16 , ohne die keine potenziell bzw. potenziert ironische Aussage das Haus verlassen darf. Kritik wird damit zur ›Form‹-Sache, etwa wenn sich Diederichsen 1982 trotz geteilter Ziele vom »Auftreten« von Hausbesetzern distanziert (vgl. S. 202), vor allem aber gerät sie in die Gefahr des allzu Reaktiv-Oberflächlichen, wo nicht Albernen, das letztlich in kein eigenständiges Verhältnis zum kritisierten Gegenstand treten kann. 17 Ein in diese Richtung zielendes Unbehagen ist Rauens Beitrag anzumerken, wird jedoch zugunsten einiger Randbemerkungen zu Rainald Goetz, den Gegenkulturen der 60er und 70er Jahre sowie Niklas Luhmann (vgl. S. 201 ff.) nivelliert. Etwas weniger Empathie mit dem greifbare Gegner ermangelnden – diese operieren längst selbst im Namen von Ironie und Partikularität – Popkritiker (vgl. S. 206) zugunsten einer klaren Perspektivierung wäre an dieser Stelle durchaus angezeigt gewesen.

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Problematisch wird die lustvoll-ironische Entwendung der gegnerischen Zeichen nicht allein, wenn dieser das eigene Verfahren kopiert wird und »Wege aus der Ironiefalle« 18 (S. 208) suchen lässt, sondern vor allem dann, wenn der Gegner sich nicht als diskursiver Pappkamerad erweist wie etwa jener notorische ›Spießer‹, ohne den keine ›Jugendbewegung‹ auszukommen scheint. Insofern leuchtet es ein, dass Rauen den »Zusammenbruch des Ostblocks und das Erstarken einer rechtsradikalen Jugendkultur in den frühen 90er Jahren« (S. 203) als Auslöser der »Kritik3«-Phase bestimmt. Die »teils selbstkritische, teils apologetische Revision des Pop-Programms, an der Diederichsen seit den 90er Jahren arbeitet« (S. 204), bescherte dem neueren Popdiskurs vor allem die vielzierte und noch mehr gescholtene Differenzierung in einen metakritischen »Pop 1« der 80er und einen oberflächlich-ironisch fehlentwickelten »Pop 2« mit Autoren wie Stuckrad-Barre, Kracht oder Illies (vgl. S. 206f.). Vor allem Illies‘ Bestseller Generation Golf habe, so Rauen, Diederichsen dazu angeregt, »sich eindeutiger als bisher zu bestimmten ›Ideen von 68‹ zu bekennen. Freilich bleiben diese Ideen abstrakt und zielen etwa darauf, dass Freizeitkultur wieder politisch interpretiert werden solle« (S. 208). Diederichsens vor allem von Rainald Goetz hämisch kommentierte ›Repolitisierung‹ mit ihrer »harsche[n] Rhetorik«, so Rauen weiter, habe in der Rückschau vor allem die »Annäherung an den politischen Mainstream verdeckt« (S. 205). Ähnlich befremdlich erscheint auch Diederichsens Versuch, im Vorwort zur Neuausgabe seines Generationenbuchs Sexbeat (1985/2002), »die Erfahrungen, die ich vor 83 gemacht habe« 19 , zur widerrechtlich angeeigneten Blaupause der Pop 2-Autoren zu stilisieren. Hier spricht unverkennbar der beleidigte, da massenkompatibel gewordene Hipster, der für seine »Erfahrungen« einen Authentizitätsbegriff reklamiert, den er andernorts nur belächeln würde.

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Ein besseres Beispiel für die von Rauen zu schwach pointierte ›Beschränktheit‹ der Kopplung von Mode und Kritik lässt sich kaum finden. Rauen hingegen interessiert, durchaus mit Gewinn, an Diederichsens Vorwort ein anderer strategisch-rhetorischer Aspekt: »Man konnte ja auch nicht ahnen«, schreibt der zum Professor beförderte Popkritiker anlässlich der Neuausgabe, »daß so manche Generation ins Land schreiten würde, die dasselbe nochmal und nochmal aufs Neue entdecken würde: Daß nämlich die 68er Linken in einen Gegensatz zu sich selbst geraten waren und so konservativ wie korrupt geworden waren« 20 .

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Das führt Rauen zu der These, die Funktion des Diskursphänomens »Hippie« als »Negativbeispiel für […] ideologische Verblendung sowie für den Verrat am eigenen Idealismus« bestehe vor allem darin, »die eigene Kapitulation vor dem Status quo zu rechtfertigen« (S. 209). Das ist ein anregender Gedanke, der Rauen jedoch lediglich zu einer Binnendifferenzierung im Bereich der neueren Popliteratur (vgl. S. 210), nicht aber zur Reflexion der Motivation und Verfahren des eigenen Textes führt. Dies ist umso erstaunlicher, als dass es sich bei Diederichsens Vorwurf an die »68er Linken« um Rauens eigene Frage an Diederichsen handelt. Daraus ist ihm kein Vorwurf zu machen, die selbstgestellte Aufgabe, Diederichsens »intellektuelle Vita« als »einen langen Weg nach Mitte« (S. 194) darzustellen, ist über weite Strecken hervorragend gelöst. Doch gerade weil es Rauen gelingt, seinem Autor und/als Kritikerkollegen auf Augenhöhe zu begegnen, würde man sich einen etwas ehrgeizigeren bzw. risikofreudigeren Zugang wünschen – wobei ich nicht ausschließen mag, dass Rauen in feiner Ironie darauf vertraut, dass viele der klug gewählten Zitate für sich – und damit nicht immer für ihren Autor – sprechen.

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Fazit

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Dem eher bescheidenen Anspruch, »das Problemfeld gegenwärtiger ›Kulturen der Kritik‹ anhand erster und punktueller Analysen zu öffnen« (S. 15), wird das insgesamt ebenso gut informierte wie lesefreundlich geschriebene Buch nicht nur gerecht, sondern übertrifft ihn allemal. Zu empfehlen ist es allen, die sich einen ersten Überblick über das kritische Geschäft der arrivierten mittleren Generation verschaffen möchten – und nebenbei etwas über die Strategien der Nachrückenden erfahren, die noch »zwischen den Orten« (S. 7) sind und sich weder auf der kulturkritischen Kanzel noch im theorizistischen Diskursnebel einzurichten trachten. Hätte man sich auch gelegentlich eine stärkere Akzentuierung der eigenen Sprecherposition gegenüber dem verhandelten Material gewünscht und, damit einhergehend, eine vertiefte Reflexion des eigenen kritischen Geschäfts im Verhältnis zu dem, was einmal »Kulturkritik« hieß, so vermag der Fokus auf einer theoretisch informierten historischen Rekonstruktion insgesamt zu überzeugen – lassen die Beiträge nach dem theory overkill der letzten drei Dekaden doch in jedem Fall genügend Raum, sich von dem reichlich und gut dokumentierten Material zu eigenen Lektüren anregen zu lassen.

 
 

Anmerkungen

So etwa Thomas Ernst: Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart. Bielefeld: transcript 2011; Ole Petras: Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bielefeld: transcript 2011; Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.   zurück
Vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München: C. H. Beck 2007.   zurück
Ebd., S. 270.   zurück
Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 8. Hier zitiert auf S. 9.   zurück
Zumindest deren angebliche »hegemoniale Gesten und universelle Standpunkte« (S. 9) wären mit Namen zu belegen gewesen.   zurück
Einzig Kai Sinas Beitrag ist mit Uwe Tellkamps »Der Eisvogel« einem von der Literaturkritik einer »rechts-revolutionären Tendenz« verdächtigen Text gewidmet, die jedoch in eine »demokratische Lesart« (S. 11) überführt werden soll.   zurück
Mit germanistische Aufmerksamkeit nicht unbedingt erbettelnden Titeln wie Cordula killt dich! oder Für immer in Honig.    zurück
Moritz Baßler: Rezension zu Diedrich Diederichsen: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag (2005), Dietmar Dath: Die salzweißen Augen (2005), in: Arbitrium 3/24 (2006, S. 418–422, hier S. 422).   zurück
Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 53.   zurück
10 
Ebd., S. 25.   zurück
11 
Ebd., S. 63.   zurück
12 
»Schreiben, wie die Welt sein sollte«. Interview mit Dietmar Dath, in: Der Spiegel, 26. Januar 2009, S. 132–134, hier S. 133. Von der Autorin zitiert auf S. 32.    zurück
13 
Greil Marcus: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert. Berlin: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1992, S. 87 (hier zit. S. 195).    zurück
14 
Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen: Wallstein 2006. S. 356 (hier zit. S. 195).   zurück
15 
Vgl. zuletzt Mark Greif (Hg.): Hipster. Eine transatlantische Diskussion. Berlin: Suhrkamp 2012.    zurück
16 
Diedrich Diederichsen: Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenschauplätze. In: D.D. (Hg.): Staccato. Musik und Leben. Heidelberg: Akselrad 1982, S. 85–101, hier S. 96 (hier zit. S. 203).   zurück
17 
Anders als Dath wird Diederichsen im Popdiskurs von Künstlern wie Rainald Goetz, Karen Duve oder Christian Ulmen weniger als Reiz- denn als Witzfigur dargestellt. Dass Diederichsen das »›Unangepasste‹«bereits 1982 als »erzbürgerliche[n] Reflex« (Diedrich Diederichsen 1982, S. 96; hier zit. S. 198) geißelt, bewahrt seine Diskurstaktik häufig nicht davor, selbst reflexhaft zu erscheinen.    zurück
18 
So der Untertitel eines Diederichsen-Beitrags für die FAZ vom 13. Oktober 2000, hier zit. S. 208.   zurück
19 
Diedrich Diederichsen: Sexbeat. Neuauflage. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2002, S. X (hier zit. S. 209).   zurück
20 
Ebd., S. X (hier zit. S. 209).   zurück