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'Blut' als Perspektiv

Deutsch-jüdisches Schreiben im Fokus von Sprache und Gemeinschaft

  • Caspar Battegay: Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830-1930. (Jüdische Moderne 12) Köln, Weimar: Böhlau 2011. 329 S. Gebunden. EUR (D) 42,90.
    ISBN: 978-3-412-20634-5.
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Die wissenschaftlichen Diskussionen, was deutsch-jüdische Literatur, deutsch-jüdisches Schreiben ausmache, sind seit der Abkoppelung dieser Fragestellung vom rein ethnischen Aspekt zum vielbeschriebenen Gegenstand geworden. Die Lösungsvorschläge, die innerhalb neuerer theoretischer Zugriffe entwickelt werden, erstrecken sich von historischen, diskursanalytischen bis hin zu poetologischen Ansätzen oder aber einer Mischung aus all diesen. Klar scheint innerhalb dieser Diskussion lediglich die Partikularität der Analysen selbst, die für jeden Text der deutsch-jüdischen Literatur aufs Neue seine textlogische Verhaftung im deutsch-jüdischen Schreiben herausarbeiten und interpretieren muss. 1

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Genau in dieser Diskussion ist die Untersuchung von Caspar Battegay zu verorten, die sich unter dem Titel Das andere Blut der Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930 widmet. Battegay nähert sich seinem Gegenstand, indem er die ›Rede vom Blut‹ als Perspektiv bestimmt, Gemeinschaftsvorstellungen im deutsch-jüdischen Schreiben des gewählten Untersuchungszeitraumes zu analysieren, um damit die integrale Bezogenheit dieser beiden Größen herauszuarbeiten: »›Blut‹ zeigt auf drastische Weise an, wie Sprache mit Gemeinschaft interagiert, sie konstruiert oder ihr radikal entgegengesetzt wird« (S. 13).

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Methodisch-theoretische Prolegomena

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Battegay untersucht anhand des gewählten Perspektivs ›Blut‹ den Zusammenhang von Sprache und Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben 1830–1930. Er geht dabei davon aus, dass sich vorzugsweise an der »Rede vom Blut« (S. 13) Exemplarisches über Gemeinschaftsvorstellungen des Judentums darlegen lasse, die ihrerseits wiederum Auswirkungen auf deutsch-jüdisches Schreiben besitzen. Es ging dabei nicht darum, eine Motivgeschichte des Blutes zu schreiben, sondern Battegay demonstriert, dass das ›Blut‹ einen alternativen Blickwinkel eröffnet, die genannten Gemeinschaftsvorstellungen analytisch aufzuarbeiten.

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Ein solch multiperspektivischer Ansatz steht natürlich in der Gefahr, dort Komplexität zu produzieren, wo sie gar nicht vorhanden ist. Das vorliegende Buch zeigt jedoch genau das Gegenteil: Der bewusst analytisch auf ein bestimmtes Perspektiv festgelegte Zugang zum deutsch-jüdischen Schreiben, das in diesem Sinne durch die ›Rede vom Blut‹ analysiert wird, schärft besonders den Blick auf den poetischen Konstitutionsmodus deutsch-jüdischer Gemeinschaftsvorstellungen und berücksichtigt gleichzeitig deren kulturhistorische Verwurzelung.

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Dass die vorliegende Studie gerade auf die Größe ›Blut‹ rekurriert, um sich der Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben zu widmen, ist dabei auch von neueren judaistischen Forschungsarbeiten der letzten Jahre 2 motiviert, die vor allem die Kumulation verschiedenster Inhalte und Konzepte unter diesem Lemma betonen und es so für die Untersuchung deutsch-jüdischen Schreibens attraktiv – und anschlussfähig – machen. In den Prolegomena seiner Arbeit zeigt Battegay zunächst, dass der gewählte Zugang, das ›Blut‹, selbst einer Serie von »historischen Bedeutungstransformationen« (S. 25) unterworfen sei, die schlechterdings keine monoperspektivische Niederschrift einer Motivgeschichte des Blutes zulasse. Diese Bedeutungstransformationen machen es vielmehr nötig, die folgenden historischen Systematisierungen jeweils in die Lektüre einzubringen: ›Blut‹ sei erstens im Zeichen von Ethnisierungs- und Nationalisierungstendenzen mit einer »biopolitischen Wende« (S. 27) verbunden, es fungiere zweitens als Codewort innerhalb politischer Inklusions- und Exklusionsmechanismen, es werde drittens zur Metapher zirkulierender Finanzströme und es sei viertens, perspektiviert man es auf die Schrift, unhintergehbarer Marker von Authentizität (vgl. S. 27–37).

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Diese vier Raster-Merkmale einer »Dynamik des anderen Blutes« (S. 27), pointiert die Untersuchung auf die Frage, wie Schreiben und Gemeinschaft theoretisch zusammenhängen. Produktiv an diesem Ansatz erweist sich, dass das Perspektiv ›Blut‹ und mit ihm die kulturhistorischen Zugangsweisen in ganz besonderem Maße die Schaltstellen kultureller Poiesis sichtbar machen können. Die »Dynamik des anderen Blutes« (S. 27; Hervorhebung E.E.) deutet dabei auf die Tatsache hin, dass Blut im Kontext des Judentums einer Dialektik unterworfen ist, die dem Blut stets zwei traditionale Eigenschaften beilegt: Es handelt sich gleichermaßen um das »Blut der Blutsbrüderschaft und das, das beim Brudermord vergossen wird« (S. 25). Daraus ergibt sich, dass im Lemma ›Blut‹ – und das ist eines der besonders hervorzuhebenden Verdienste der Arbeit – genau die Orte der Kultur und Literatur aufgesucht werden können, an denen ›Ersetzung und Sinnverschiebung‹ (vgl. S. 44) stattfindet, an denen sich der Gegenstand, die deutsch-jüdische Literatur normativen Ordnungsversuchen sperrt.

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Dass sich eine Untersuchung zum ›deutsch-jüdischen Schreiben‹ im Anschluss daran auch der Frage stellen muss, ob es einen solchen Gegenstand, deutsch-jüdische Literatur, überhaupt geben kann, behandelt Battegay in einem abschließenden Prolegomenon. Er nimmt dabei das methodische Postulat zum Ausgangspunkt seiner Studie, die jeweiligen Texte selbst zum Fundament der Bestimmung zu machen, wie deutsch-jüdisches Schreiben im Einzelfall zu fassen ist. Das Perspektiv ›Blut‹ ermöglicht dabei eine Zusammenstellung von verschiedenartigsten Modellen deutsch-jüdischen Schreibens, die im Sinne eines Bildes im Kaleidoskop deutsch-jüdisches Schreiben aus der Perspektive der Gegenstände, der literarischen Texte, bestimmbar macht. Diese ›philologische Partikularität‹, das interpretatorische Ausloten des jeweilig deutschen und des jüdischen Aspekts mit den Mitteln einer philologischen Interpretation, das auf der Ebene der Texte selbst ausgeführt wird, kann dabei als ein grundlegender methodischer Beitrag einer noch lange nicht zu Ende geführten Diskussion um deutsch-jüdisches Schreiben bestimmt werden.

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Polyvalente Identität: Heine

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Die Auswahl der Autoren, anhand derer der theoretisch-methodische Ansatz auf seine Tragfähigkeit erprobt wird, ist wenig überraschend, vielmehr bezieht sich die vorliegende Studie auf Autoren, deren Literatur exemplarisch und einschlägig für die Frage nach deutsch-jüdischem Schreiben ist: Heinrich Heine, Moses Hess, Max Nordau, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Franz Kafka. Dennoch – und dies ist dem Perspektiv ›Blut‹ geschuldet – verfällt die Studie nicht in die beiden Extreme, die im Zusammenhang mit diesen Autoren immer wieder auffallen und ihrerseits beklagt werden (müssen). Erstens gelingt es Battegay, die biographisch-historisch signifikanten Fakten zu den jeweiligen Autoren als Teil einer kulturhistorischen Perspektivierung der jeweiligen Texte zu referieren und nicht als Argumente, die Lektüren stützen sollen. Zweitens wird der kulturelle Kontext der Texte dementsprechend in die Lektüren einbezogen und die Texte werden so nicht ausschließlich als Paradigmata textimmanent-poetologischer Interpretationen verstanden, die sich zugegebenermaßen für Heine und Kafka durchaus anbieten und grundsätzlich natürlich sinnvoll sind, aber im Fall der deutsch-jüdischen Literatur nicht unbedingt allein zur Klärung eines Forschungsdesiderates beitragen würden.

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Die Reihe der Einzelanalysen wird in diesem Sinne mit Heinrich Heine eröffnet. Das explosive Potential seiner Texte kommt anhand der ›Rede vom Blut‹ voll zur Geltung – wiederum mit hermeneutischem Mehrwert. Es gelingt so, die Frage nach Heines Konversion und der damit in Verbindung stehenden Transgression zwischen Judentum und Christentum, die biographisch zweifelsohne von entscheidendem Belang ist, nicht in Heines Texte zu projizieren. Vielmehr beleuchtet das vorliegende Buch die Transgression zwischen Christentum und Judentum als Textphänomen, das sich aus der poetischen Faktur der Texte selbst eruiert.

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Dem ›Blut‹ durch verschiedenste Texte Heines folgend, zeichnet Battegay Heines Auseinandersetzung mit der (romantischen) Christologie nach. Für den jungen Heine ist dabei der Schluss zu ziehen, dass »das Motiv des Blutstroms in den frühen Texten [...] mit kaum auszulotender Tiefe« (S. 76) ausgestattet sei, die sich zwischen einem Einschreiben in den Bildbestand der Epoche und einer rhetorisch-poetischen Verhandlung, Transformation und Ironisierung der damit behandelten Themen bewegt. In einem zweiten und dritten Schritt zeigt die Studie, wie ›im Blut‹ Heines Auseinandersetzung mit dem Judentum exemplarische Züge gewinnen kann, indem mit dem ›Blut‹ auf der einen Seite immer wieder auf traditionale Bildbestände des Judentums rekurriert wird, andererseits die Frage nach einer »anderen Welt« (S. 97) gestellt wird, in der Gemeinschaft jenseits von Gewalt und Vereinzelung zu denken wäre. Battegay analysiert Heines Literatur so im Zusammenhang einer ›Weltblutfrage‹, in der sich »auf paradigmatische Weise die Dialektik von Emanzipation und Repression, Modernität und Reaktion, Aufklärung und Mythos [kristallisiert]« (S. 96). Diese vielgestaltigen Spannungen der ›neuen‹ oder ›anderen Welt‹ untersucht die Studie anhand Heines Vitzliputzli und ausführlich am Text Donna Clara. Dieser Text leitet dabei zu der durchaus an moderne Diskussionen anschließenden Frage nach einer »De-Essentialisierung von Gemeinschaften« (S. 118), die sich im Umfeld von Heines Literatur geradezu aufdrängt:

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Wie kaum ein anderer [...] Text stellt dieser gewaltsame, ironische, erotische, fürchterliche, romantische, bittere, skandalöse Text ein Konzept von Gemeinschaft in Frage, dem sich Politik bis heute verpflichtet hat. Eine prinzipiell immer noch vom jus sanguinis formierte Gemeinschaft fordert von ihren »Fremden« in erster Linie immer noch »Integration«. Warum befördert sie nicht eine gegenseitige Erkenntnis von Andersheit? (S. 118)
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Es gehört mithin zu den besonderen Verdiensten der vorliegenden Arbeit, diese Fragen aus Sicht der Literaturwissenschaft aufzuwerfen, zu stellen und gerade nicht unbeantwortet zu lassen.

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Verhandlungen des Blutes: Zionismus

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Das Kapitel über die zionistischen Autoren geht mit dem Blut wohl einem in diesem Diskurs häufig vorkommenden Sprachbild nach. Die Analyse des ›Blutes‹ zeigt hier eindrücklich, dass der Zionismus nicht nur politisches Tagesgeschäft verhandelt, sondern dass nationaljüdische Ziele immer einer besonderen Rhetorik und Poetik unterworfen sind, die vor allem Phänomen der Sprache sind. Die vorliegende Arbeit versteht sich in diesem Punkt als »sprachkritische[r] Beitrag zur Literaturgeschichte des Zionismus« (S. 122).

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Am ersten gewissermaßen proto-zionistischen Beispiel Moses Hess zeigt der Autor die kaum trennbare Verbindung zwischen Ökonomie und einer Rhetorik des Blutes, die sich wiederum aus der Wahl einer Reihe von metaphorischen Vergleichspunkten zum Thema Blut speist. Durchaus sozialkritisch nämlich versteht Hess das Geld in diesem Sinne als »das soziale Blut, aber das entäusserte, das vergossene Blut« (Moses Hess: Über das Geldwesen; zitiert bei Battegay S. 133. Hervorhebungen dort), was das Feld für eine Reihe von metaphorischen Analogiebildungen im Schrifttum von Hess öffnet. Eine politische Körpermetaphorik und wiederum über das Blut vermittelte christliche Symbol- und Metaphernkonstellationen sind es, die als Leitmotiv durch Hess’ Schaffen verfolgt werden, um einerseits die fruchtbare und in dieser Weise noch nicht analysierte Korrespondenz der Thesen Über das Geldwesen von Hess mit paulinischem Gedankengut nachzuzeichnen, und um andererseits die Konzeption von Gemeinschaft im Buch Rom und Jerusalem aufzuzeigen.

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Die Adaption des Blutes und seine ambivalente Signifikation erweist sich auch im Zusammenhang mit dem von Nordau propagierten ›Muskeljudentum‹ und den sich hier ergebenden biopolitischen Aspekten. Wiederum kann anhand des Blutes der Ort aufgesucht werden, an dem der politische Zionismus das Eigene vom Fremden zu scheiden sucht, nicht ohne dabei eine besondere »Rhetorik des Militärischen« (S. 171) herauszustellen, die diesen Kategorien dadurch einen kriegerisch-paradigmatischen Wert zuspricht. Überraschend erscheint hierbei, dass gerade der politische Zionismus, dessen biopolitische Dimensionen zuweilen überdeutlich sind, von einer »exzessiven Blutrhetorik« (S. 162), anders als man vielleicht erwarten würde, absieht.

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In einem dritten Teilkapitel, das den Leser vom »Mammon« nach »Zion« führt, geht Battegay auf den Kulturzionismus ein und arbeitet hier besonders Martin Bubers ausufernden »Sound des Bluts« (S. 174) aus. Überzeugend erscheint hier die Feststellung, dass es sich bei Buber nicht nur um den Rekurs auf ein bestimmtes Metaphernfeld handelt, sondern, dass Buber in besonderem Maße »Tonfall, Ton, Klang oder Klagkulisse« (S. 176) hervorbringe, um mit diesen wiederum seinen fast schon beschwörenden Sprachgestus aufrecht zu erhalten. Hier zeigt der Verfasser beeindruckend auf, dass zionistisches Schreiben gerade nicht nur ein Phänomen einer spezifischen Rhetorik ist, sondern dass es gleichzeitig in nicht unerheblichem Maße poetischen Gehalt besitzt – ein Faktum, das die Studie in besonderem Maße befähigt, die Wahl der eigenen literaturwissenschaftlichen Analysekategorien vom Gegenstand her zu legitimieren.

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Blut und Sprach-Universalismus: Rosenzweig

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Dass sich Rosenzweigs Schreiben wie das Heines im Spannungsfeld zwischen Christentum und Judentum vollzieht, manifestiert sich nicht nur am Stern der Erlösung. Die immer wiederkehrende Frage des Problems »der konkreten Existenz des Volkes Israel als theologisch-politisches Partikel in der Weltgeschichte« (S. 197), die Frage nach Immanenz und Transzendenz, beleuchtet Battegay dabei zuerst anhand der sog. ›Gritli‹-Briefe, den Briefen Rosenzweigs an seine Geliebte, die Protestantin Margit Rosenstock-Huessy. Das sich nicht zuletzt aus dieser persönlichen Beziehung ergebende Thema des interreligiösen Dialogs, erfährt dabei ›im Blut‹ seine spezifische theologische und philosophische Zuspitzung, die wiederum in der Frage nach der Gemeinschaft gipfelt, dies nicht zuletzt im Stern. Die Analyse von Rosenzweigs Schreiben aus der Perspektive des ›anderen Bluts‹ trägt dazu bei, die bei Rosenzweig immer wieder irritierende Rede vom Blut zu präzisieren:

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In der Rede vom Blut versteckt sich [...] die konstitutive Ambivalenz von Rosenzweigs politischer Theorie des Judentums. Denn sie impliziert eine Weise politische Souveränität zu denken, die der von ihm selbst geforderten Unverletzbarkeit des Lebens diametral entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten denkt Rosenzweig mit »Blut« im Stern emphatisch die Vergemeinschaftung, ist aber blind für die im »Blut« immer ebenso angezeigte Vereinzelung. (S. 215)
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Ambivalente Subversion: Kafka

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Kafkas Schreiben zeichnet sich vor allem durch eine grundlegende Ambivalenz zu jedwedem Gegenstand aus, das ist Gemeinplatz der bisherigen Forschung zu Kafka. Indem der Verfasser diesen Gemeinplatz aufgreift, kann er jedoch gerade die Innovation, den sein Forschungsansatz mit sich bringt, voll ausschöpfen. In einem fulminanten Durchgang durch die Texte Kafkas, in denen das Blut eine tragende Rolle spielt (zum Beispiel ›Gracchus-Komplex‹, Beim Bau der chinesischen Mauer, verschiedene kleine Texte aus den Oxforder Oktavheften, Das Urteil, Schakale und Araber, Ein Brudermord), erweist Battegay anhand mikrologisch-genauer und kenntnisreicher Lektüren, die multiperspektivischen Deutungsmöglichkeiten, die für Kafkas Texte geradezu paradigmatisch sind. Er analysiert die poetologische Dimension des Blutes in der Schrift/dem Schreiben Kafkas, durchleuchtet dessen Topoi und Motive und geht auf Allegorien und Allegoresen des Blutes ein und verweist immer wieder auf die parodistische Wertung des Zionismus in Kafkas Texten. Dies veranschaulicht sich unter anderem an der Deutung des Gracchus-Komplexes: Battegays Interpretation stützt sich dabei vor allem auf Streichungen und Akzentsetzungen in der Handschrift Kafkas, in der nachfolgenden Stelle beispielsweise auf die sich ergebende Spannung zwischen ›Ziel‹ und ›Fahrt‹:

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Während der Zionismus von einem eindeutigen Narrativ des Ankommens träumt, erweist Kafka mit seiner kleinen Verschiebung im Verhältnis dazu dieses Narrativ tief von Ambivalenz durchzogen. In der Ambivalenz [...] verfehlt Kafkas Text die vom Zionismus entworfene Poetik der gelingenden Überfahrt (nach Zion) und verlegt das Ziel in ein(e) »ZielFahrt« – ein endloses Schreiben. (S. 248 f.)
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Dem Zionismus kommt innerhalb der Analyse von Kafkas Texten eine Schlüsselstellung zu, die sich zum einen auf einer theoretisch-methodischen Ebene äußert, zum anderen auf inhaltlicher Ebene. Folgerichtig macht Battegay zu Beginn seines Kafka-Kapitels darauf aufmerksam, dass die »Frage, wie sich das Schreiben Kafkas zum Zionismus als Ideologie verhält und wie sich dieses Verhältnis theoretisch begreifen lässt [...] nicht zufriedenstellen beantwortet worden« (S. 238 f.) sei. Der Weg, den Battegay zur Beantwortung wählt, gründet sich dabei maßgeblich auf die Ergebnisse der Editionsphilologie, die für Kafka mit dem Namen Roland Reuß und der Franz Kafka-Ausgabe (FKA) aus dem Stroemfeld Verlag verbunden ist. Battegay liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich gerade aus dem Nachvollzug des Schreibprozesses auch zum Problem des Zionismus in Kafkas Texten eine differierende und für die Forschung durchaus zu berücksichtigende Antwort ergeben kann.

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Gerade aufgrund dieser spezifischen Ausrichtung am kritischen Nachvollzug der Handschrift Kafkas wäre eine ausführlichere theoretische Verortung des eigenen methodischen Vorgehens innerhalb der neueren Kafka-Forschung höchst gewinnbringend gewesen, wozu aufgrund der analysierten Textfülle in der vorliegenden Arbeit sicherlich nicht der geeignete Ort war. Trotzdem könnte eine solche – vielleicht noch zu realisierende – methodisch-theoretische Verortung innerhalb der Kafka Forschung einen äußerst wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlich-methodenbasierten Untersuchung der zionistischen Kontexte Kafkas leisten, indem sie gerade den Übergang zwischen philologischer Lektüre und Verortung von Kafkas Texten im Kontext des Judentums im Kontrast zu anderen Theorieentwürfen zugänglich machen würde. Es wäre hier die Frage zu beantworten, welche texttheoretischen, kulturwissenschaftlichen und poetologischen Kriterien und Theoriegebäude gerade im Kontext einer solchen philologischen Lektüre neue Zugänge zu längst gelöst geglaubten Problemen liefern könnten.

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Literaturwissenschaft und Jüdische Studien

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Neben all den genannten Erträgen der Arbeit, liegt ihr Verdienst sicherlich in der Verbindung von judaistischem und literaturwissenschaftlichem Arbeiten. Diese Verbindung beschränkt sich nicht auf die Behandlung gemeinsamer Inhalte, sondern zeigt anhand neuester Theorieentwürfe und Methoden, dass der Beitrag, den die Literaturwissenschaft auf dem Feld der judaistischen Forschung zu leisten hat, nicht nur in einem Primat des Gegenstandes begründet liegt, innerhalb dessen die Literaturwissenschaft eben für die Analyse literarischer Texte zuständig ist und diese auf ihre jüdischen Inhalte überprüft. Vielmehr veranschaulicht die Arbeit, dass bestimmte kulturelle und literarische Problemstellungen nur im Modus der Poesie überhaupt aufschreibbar sind und somit als solche erst und bevorzugt mit den Mitteln der Literaturwissenschaft analysierbar werden. Die vorliegende Arbeit sollte so als Ausgangspunkt im Gespräch zwischen Literaturwissenschaft und Jüdischen Studien genommen werden, den begonnenen aber doch manchmal stockenden Dialog insbesondere auch auf methodisch-theoretischer Ebene weiterzuführen und daran anschließend, um des gemeinsamen Gegenstandes willen, eher das Verbindende denn das Trennende zu fokussieren.

 
 

Anmerkungen

Vgl. beispielsweise: Andreas Kilcher: »Was ist deutsch-jüdische Literatur? Eine historische Diskursanalyse.« In: Weimarer Beiträge 4 (1999), S. 485–517.   zurück
vgl. beispielsweise David Biale: Blood and Belief. The Circulation of a Symbol between Jews and Christians. Berkeley: University of California Press 2007.   zurück