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Seltene Einblicke in die ökonomischen Aktivitäten in einer spätmittelalterlichen Pfarrei

  • Hannes Obermair / Volker Stamm: Zur Ökonomie einer ländlichen Pfarrgemeinde im Spätmittelalter. Das Rechnungsbuch der Marienpfarrkirche Gries (Bozen) von 1422 bis 1440. (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 33) Bozen: ATHESIA BUCH Athesia 2011. 122 S. 4 Abb. Kartoniert. EUR (D) 16,90.
    ISBN: 978-88-8266.381-0.
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Bekanntlich war die Pfarrei bereits im Mittelalter die wichtigste Organisationsform des christlichen Lebens, die den Alltag der Menschen in hohem Maße bestimmte. Die nur spärliche Quellenüberlieferung aus mittelalterlichen Pfarreien korreliert hingegen nicht annähernd mit der großen Bedeutung dieser Institutionen.

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Überlieferungszufall

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Einem glücklichen »Überlieferungs-Zufall« 1 ist es nun zu verdanken, dass 2008 in einer dem Stadtarchiv Bozen übergebenen Privatbibliothek das Rechnungsbuch der Marienpfarrkirche Gies aufgefunden werden konnte, das nun im Südtiroler Landesarchiv einen dauerhaften Platz gefunden hat. Das Rechnungsbuch war Teil einer umfangreichen Serie, die allerdings heute – mit Ausnahme des vorgelegten Zeugnisses – als verloren gelten muss. Da Verwaltungsschriftgut aus Dorfpfarreien des Spätmittelalters insgesamt nur fragmentarisch überliefert ist, erscheint die Edition der Abrechnungen umso willkommener. Die Bearbeiter, Hannes Obermair und Volker Stamm, haben dabei nicht nur die Mühe einer editorischen Aufbereitung auf sich genommen, sondern dem Text zudem eine gründliche Kommentierung vorangestellt.

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Das Rechnungsbuch umfasst insgesamt 18 Jahre, wobei die Eintragungen von vielen verschiedenen Händen laufend vorgenommen wurden. Insgesamt 988 Buchungseinträge verzeichnet die Edition (S. 55–103).

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Eine typische Landpfarrei

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Die alte Pfarrkirche von Gries, heute zur Stadt Bozen zugehörig, ist kunsthistorisch interessierten Kreisen wegen eines dort vorhandenen Altars von Michael Pacher seit langem ein Begriff. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts dürften in dem Ort etwa 350–400 Personen gelebt haben; es handelte sich also um eine typische ländliche Gemeinde, wovon es im gesamten Reich unzählige gegeben haben dürfte. Im Hochmittelalter war die Grieser Kirche eine Eigenkirche Freisings gewesen, was auf das Frühmittelalter zurückzuführen ist, als Freising gerade in diesem Raum viele Besitz- und Rechtstitel erwerben konnte; bis in das ausgehende Mittelalter verflüchtigten sich jedoch diese alten Freisinger Rechtsansprüche in Gries. Die Regularkanoniker aus Au übernahmen seit 1412 hier die Seelsorge, die Chorherren fungierten also just in der Zeit als Pfarrherren, aus der das vorliegende Rechnungsbuch stammt.

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Abrechnungen der Kirchenfabrik

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Das Rechnungsbuch behandelt das Vermögen der Kirchenfabrik, das Vermögen also, aus welchem der Unterhalt der Pfarrkirche und sämtliche Kosten, die für den Gottesdienst anfielen, bestritten wurden. Verwaltet wurde dies von Kirchpröbsten, die über ihre Tätigkeit auch Rechenschaft abzulegen hatten. Diese Vorgänge bilden den Hintergrund für die Entstehung des Rechnungsbuches.

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Die Beschreibung der formalen Gestaltung dieses Zeugnisses pragmatischer Schriftlichkeit zeigt, dass wiederholt Lücken und Inkonsequenzen bei der Erstellung auftraten. Hinzukommt, dass Summen seitenweise, nicht jedoch jahresweise gebildet wurden. Das verwaltungstechnische Know-how war also in jener Zeit in Gries noch nicht sehr ausgeprägt.

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Wie sich aus den Eintragungen ablesen lässt, war die ökonomische Ausrichtung der Südtiroler Landgemeinde in hohem Maße nach Norden orientiert, vornehmlich in den oberbayerischen Raum hinein.

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Die Einnahmen der Kirchenfabrik stammten überwiegend aus Renten, die für ausgegebenen Grundbesitz entrichtet werden mussten, aber auch von verpachteten Tieren. Die Einnahmenseite war im Überlieferungszeitraum jedoch von keiner großen Stetigkeit geprägt, sondern wies im Gegenteil einen hohen Unsicherheitsgrad auf, viele Zahlungen erfolgten höchst unregelmäßig. Selten findet zudem der Zehnt Erwähnung, der wohl überwiegend in Naturalien abgeliefert wurde. Der Umgang mit dem Zehnten war überhaupt in hohem Maße von lokalen Gegebenheiten abhängig, was sich auch in dieser Quelle zeigt. Das Rechnungsbuch lässt überdies erkennen, dass die Gemeindekirche eine Art Bankfunktion für ihre Gemeindemitglieder übernahm. Die Pfarrgemeinde war weiterhin im ländlichen Raum für die öffentliche Wohlfahrt zuständig, auch das manifestiert sich verschiedentlich in den Eintragungen.

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Erhebliche Aufwendungen wurden außerdem für das Erscheinungsbild der Pfarrkirche getätigt. Naturgemäß machen Ausgaben für den Gottesdienst und das Gotteshaus einen großen Teil der Eintragungen aus. Gewaltig waren aber auch die Kosten, die beispielsweise für die Beschaffung einer neuen Glocke aufgebracht werden mussten.

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Ein Orts- und Personenregister (S. 105–111) sowie ein Sachregister (S. 112–116) erschließen den Band. Beigegeben sind überdies noch Farbabbildungen der Marienkirche sowie ausgewählter Seiten des Rechnungsbuches (S. 119–122).

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Wichtiges Zeugnis pragmatischer Schriftlichkeit

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Obermair und Stamm haben ein gleichermaßen bemerkenswertes wie seltenes Zeugnis pragmatischer Schriftlichkeit des Spätmittelalters im ländlichen Raum in vorbildlicher Art und Weise zugänglich gemacht. Quellen dieser Art helfen der Forschung allmählich ein genaueres Bild vom Leben der Landbevölkerung in dieser Zeit zu erhalten. Man kann also nur auf den eingangs zitierten »Überlieferungs-Zufall«, und damit auf das Auffinden vieler solcher Amtsbücher hoffen.

 
 

Anmerkungen

Arnold Esch: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240 (1985) S. 529–570.   zurück