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Richard Wagner in Deutschland

Neue Studien zu seiner politischen und literarischen Rezeption

  • Udo Bermbach: Richard Wagner in Deutschland. Rezeption - Verfälschungen. Weimar: J. B. Metzler 2011. XII, 508 S. Gebunden. EUR (D) 39,95.
    ISBN: 978-3-476-01884-7.
  • Udo Bermbach / Dieter Borchmeyer (Hg.): Thomas Mann und Wagner. (wagner spectrum Jahrgang 7 Heft 2) Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. 264 S. Geheftet. EUR (D) 18,00.
    ISBN: 978-3-8260-4818-0.
  • Dorothea Kirschbaum: Erzählen nach Wagner. Erzählstrategien in Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«. (Echo - Literatur im interdisziplinären Dialog 14) Hildesheim: Georg Olms 2010. 304 S. Paperback. EUR (D) 39,80.
    ISBN: 978-3-487-14442-9.
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Die Wagnerforschung fristet in der Literaturwissenschaft seit geraumer Zeit ein Schattendasein. Einer der Gründe hierfür ist sicher, dass sie sich mit der Integration neuerer und neuester Theoriebildung schwer tut. Dies gilt auch für die Erforschung von Richard Wagners Rezeption in Deutschland und Europa. Entsprechende Studien verschreiben sich meist einer geistes- und motivgeschichtlich orientierten Einflussphilologie, Theorien zur Rezeptionsforschung, die durch die Konstanzer Schule oder die Semiotik (zum Beispiel von Umberto Eco) vorgelegt wurden, werden oft außer acht gelassen. Doch nicht nur im Hinblick auf die Methode, sondern auch in Bezug auf den Inhalt gibt es Nachholbedarf. Die Komplexität von Wagners Wirkung auf die Literatur ist bisher nur ansatzweise erfasst, obwohl – oder gerade weil? – Wagner zu den bekanntesten und einflussreichsten Künstlern des 19. Jahrhunderts zählt. 1 Der in der öffentlichen Diskussion lange dominanten Frage, ob Wagner ein Vorläufer Hitlers war oder von diesem vereinnahmt wurde, versuchte die Germanistik entgegenzuwirken, indem sie Wagner in die Nähe Friedrich Nietzsches und Thomas Manns rückte und damit dezidiert auf die moderne und kosmopolitische Deutungstradition seines Werkes verwies. 2 Dabei kamen aber andere Aspekte zu kurz: Die Wirkung Wagners in der Wiener Moderne ist kaum untersucht, obwohl sich zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler intensiv mit dessen Werk beschäftigt haben. Nicht beachtet wurde auch die Tatsache, dass Wagner in Literatur, Theater und Film des Expressionismus ebenso präsent ist wie im Werk Robert Musils, dessen Mann ohne Eigenschaften die beste Darstellung des Wagnerismus des dekadenten Bürgertums bereithält.

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Dass die Diskussion um Wagners politische und literarische Rezeption in Deutschland auch im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2013 immer noch um altbekannte Themen kreist, zeigen drei Bücher, die sich in unterschiedlicher Perspektive mit diesem Thema auseinandersetzen. Während sich der Politologe Udo Bermbach in Richard Wagner in Deutschland hauptsächlich mit dem völkischen und nationalsozialistischen deutschen Wagnerismus beschäftigt, nimmt Heft 2/2011 der Zeitschrift wagnerspectrum die Verbindungslinien zwischen Richard Wagner und Thomas Mann in den Blick. Letzteres gilt auch für Dorothea Kirschbaums Dissertation Erzählen nach Wagner, die das Erzählverfahren in Wagners Ring und Manns Joseph-Trilogie einer vergleichenden Analyse unterzieht.

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Völkische Vereinnahmung

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Richard Wagners Rezeption in Deutschland war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in zwei Lager geteilt. Für Nationalkonservative, völkische Antisemiten und Nationalsozialisten war Wagner die Leitfigur für eine kulturelle »Regeneration« des deutschen Volkes. Dagegen stand eine kritische Rezeption, die nicht nur von Thomas Mann, sondern zum Beispiel auch von seinem Bruder Heinrich, Carl von Ossietzky oder Paul Bekker getragen wurde. Der linke und moderne Wagner, der Anarchist, Sozialist und Revolutionär, wurde im Ausland entdeckt. Als erster stellte George Bernard Shaw 1898 in The Perfect Wagnerite das Werk Wagners in den Kontext des frühindustriellen Kapitalismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand dieses Wagner-Bild dank der Arbeit von Franz Wilhelm Beidler, 3 Theodor W. Adorno 4 und Hans Mayer 5 seinen Weg nach Deutschland. Bayreuth spielte in dieser Rezeptionsgeschichte immer eine entscheidende Rolle. Es war bis zum Zweiten Weltkrieg das Zentrum der konservativen und anschließenden faschistischen Verehrung Wagners und öffnete sich dann in den Fünfziger Jahren unter der Leitung Wieland Wagners linken Diskursen.

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Der »Bayreuther Kreis« und seine Verfälschungsstrategien

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Bisher ist die Geschichte Bayreuths vornehmlich anhand von Biographien erzählt worden, 6 deren Autoren immer auf die mehr oder weniger vorhandene Kooperationsbereitschaft der Bayreuther Archivverwalter angewiesen waren. Mit Udo Bermbachs Studie Richard Wagner in Deutschland liegt nun endlich eine umfassende Darstellung der ideengeschichtlichen Voraussetzungen und Wirkungen des »Bayreuther Kreises« vor. Es rundet zugleich Bermbachs Wagner-Trilogie ab: 2003 erschien mit Blühendes Leid seine Interpretationen von Wagners Bühnenwerken, zwei Jahre später in erneuter Auflage Der Wahn des Gesamtkunstwerks, in dem Bermbach das politästhetische Denken Wagners nachzeichnet. 7 Es steht außer Frage, dass Udo Bermbach gegenwärtig zu den besten Kennern Wagners zählt. Er überblickt das Werk bis in all seine Verzweigungen, weshalb auch Fachleute seine jüngste Studie mit Gewinn lesen können. In ihr bleibt der emeritierte Hamburger Politologe und Ideenhistoriker seinem Lebensthema treu: Den politischen Gehalt von Wagners Schaffen und Denken herauszustellen und seine Ästhetik im Kontext linksradikaler Denkströmungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu lesen. Bermbachs Leistung ist keine geringe: Wer seine Bücher liest, wird den Einfluss des Anarchismus und Frühsozialismus auf Richard Wagner nur noch schwer bestreitet können.

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In seinem neuen Werk konzentriert sich Bermbach nun vorrangig auf die Deutung Wagners in den Bayreuther Blättern. Diese Entscheidung hat für das Buch zwei Konsequenzen: Erstens verliert es die nicht von Bayreuth gesteuerte Rezeption in Deutschland oft aus dem Blick. Zweitens wird es zu einer Geschichte der antimodernen, antisemitischen und nationalistischen Rechten in Deutschland. Noch nie wurde so detailliert gezeigt, dass die Geschichte Bayreuths auch die Geschichte jenes Deutschlands ist, das sich vor den »Auswüchsen« der Moderne ins Heimatlich-Heimelige verkroch, Politik als Übel und Wagners Musik als Heilsbringerin sah. Gepflegt wurde ein reaktionär-romantisches Weltbild, in dem die Juden für den Untergang des Abend- und Vaterlandes verantwortlich waren. Bermbach erzählt diese Geschichte aber auch als eine Geschichte der »Verfälschungen«. In seinen Analysen zeigt er, wie in der noch unter Federführung Wagners 1878 gegründeten Monatszeitschrift die linksradikalen Tendenzen in dessen Schriften verleugnet wurden und Wagners Denken nach und nach ins Völkische verzeichnet wurde. Verantwortlich für dieses in der Öffentlichkeit immer noch fest verankerte Zerrbild Wagners waren zwei Personen, die die heimlichen Hauptfiguren von Bermbachs Buch sind: Hans von Wolzogen (1848–1938), der bis zur Einstellung der Bayreuther Blätter im Jahr 1938 als deren Herausgeber fungierte, sowie der Publizist und Bayreuther Chefideologe Houston Stuart Chamberlain (1855–1927).

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Die Verdrängung des frühen Wagner

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Bereits im ersten Kapitel zeigt Bermbach anhand der Geschichte der Wagner-Biographien, wie der Revolutionär Wagner in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. In der mehrbändigen Darstellung seines Hagiographen Carl Friedrich Glasenapp 8 wurden Wagners Rolle in der Revolution von 1848 und seine in den folgenden Jahren veröffentlichten Zürcher Kunstschriften ebenso wenig ernst genommen wie in Chamberlains äußerst einflussreicher Biographie Richard Wagner (1896). 9 Gleiches gilt für Autoren so unterschiedlicher Provenienz wie Robert W. Gutman, Julius Kapp, Curt von Westernhagen und Karl Richter. Während die beiden letztgenannten aufgrund ihrer rechtsextremen Gesinnung alle Gründe hatten, den linken Wagner totzuschweigen, kann man dies von einem Autor wie Hartmut Zelinsky sicher nicht behaupten. Doch auch vor ihm macht Bermbachs Kritik nicht halt, denn dass Zelinsky in seinem Buch Richard Wagner. Ein deutsches Thema 10 Hitler als den Vollstrecker der Wagnerschen Ideologie darstellt, führt Bermbach auf eine ungenügende Differenzierung zwischen dem Denken Wagners und dem seiner späteren Bayreuther Erbeverwalter zurück.

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Erst für Hans Mayers Arbeiten findet Bermbach mildere Worte, da in diesen der linksradikale Einfluss auf Richard Wagner deutlicher wurde. Gleiches gilt für die derzeitige Standard-Biographie von Martin Gregor-Dellin. Mit dieser sei

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Wagner dorthin zurückgekehrt, wo er seinen Ausgang nahm: zu einer politischen Linken, die für Aufklärung und Selbstbestimmung eintrat, die gegen alle Unterdrückung und Herrschaftsabhängigkeit Protest einlegte und die für ihre Überzeugungen auch persönliche Lebenskonsequenzen in Kauf nahm. (S. 54)
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Man vermisst bei diesem Überblick allerdings Ernest Newmans The Life of Richard Wagner (1933–1947). Bermbach hält sich hier zu strikt an seine Vorgabe, nur die deutschen Biographen Wagners zu untersuchen. Doch ein Seitenblick auf Newman wäre aufschlussreich gewesen, verdankt doch nicht zuletzt Theodor W. Adornos Versuch über Wagner dessen Darstellung zahlreiche Impulse.

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Unbehagen an der Moderne: Bayreuths »Kulturmission«

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Das zweite und dritte Kapitel, »Bayreuth und die Moderne« beziehungsweise »Der Bayreuther Gedanke« dürfen als das Herzstück des Buches gelten. Hier stellt Bermbach die Kulturmission Bayreuths dar, die er wie folgt zusammenfasst:

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Der Bayreuther Gedanke ist das begriffliche Amalgam eines von Wagner entworfenen, von seinen nachfolgenden Interpreten ausformulierten und erweiterten kulturellen Beziehungsgeflechts mit utopischer Ausrichtung, durch das eine verkommende Zivilisation überwunden werden und in eine neue, Moral und Sittlichkeit begründete Kultur und kulturdominierte Gemeinschaft überführt werden soll. (S. 181)
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Bermbach zeigt zunächst, wie Wagner in seinen theoretischen Schriften die Kultur der Politik konsequent vorordnete und dabei die seit Fichte und der Romantik virulente Idee übernahm, dass die deutsche Kultur tiefer als andere reiche. Er stellte deshalb die deutsche »Kultur« der französischen »Zivilisation« gegenüber und hoffte auf die Wiedergeburt des deutschen Wesens aus dem Geist der Kunst. Dies ist der Grundgedanke, der dann von Wolzogen und Chamberlain aufgenommen wurde. Allerdings vereinfachten sie (und in ihrem Kielwasser auch andere Rezipienten) Wagners »inhaltlich ambivalente Vorgaben« und eliminierten die »stark sozialistischen und anarchistischen Einfärbungen« (S. 91), die auch in Wagners späten Regenerationsschriften noch spürbar sind. Nur so konnten die Bayreuther Blätter zu einem beeindruckenden Zeitdokument strammdeutscher Halb- und Viertelbildung werden. Oder, um es mit Bermbach zu sagen, »zu einem der politischen Kristallisationszentren der antidemokratischen, nationalkonservativen und völkischen Bewegung« (S. 186).

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Wie Bermbach ausführt, blieben die Topoi der Bayreuther Zivilisationskritik »über Jahrzehnte im Kern gleich« (S. 88): Dem Kulturverfall, den die Bayreuther allerorten am Werk sahen, setzten sie eine völkisch-nationale Moderne entgegen. Das Werk Richard Wagners und seine Aufführung wurde als Rettung der deutschen Kultur begriffen, das deutsche Volk sollte vor französischer Zivilisation und Judentum bewahrt werden, der Niedergang des Christentums aufgehalten werden. Diese Themen wurden über die Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Variationen durchgespielt. In seinem Essai Ueber Verrottung und Errettung der deutschen Sprache betonte Wolzogen im Anschluss an Wagner das Echte und Ursprüngliche der deutschen Sprache, diese sei die Quelle der deutschen Gemeinschaft und drohe von der Emanzipation der Juden verunreinigt zu werden – dass es dabei mit Wolzogens eigenen sprachlichen Fertigkeiten nicht allzu weit her war, darf getrost als Treppenwitz der deutschen Kulturgeschichte verbucht werden. Kulturelle Vorbilder waren neben Wagner vor allem Goethe und Schiller, vereinzelt auch die Autoren der deutschen Romantik. Sämtliche wichtige Strömungen der Moderne, die in der Erscheinungszeit der Blätter entstehen, wurden unter »die generelle Verfallsrhetorik« summiert (S. 96). Auch die moderne Populärkultur in Gestalt der Operette und des Kinos wurde verworfen.

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Das Βayreuther Unbehagen an der Moderne betraf auch den Kapitalismus, wobei Wolzogen weder Wagners Revolutionsschriften noch der materialistischen Kritik der Produktionsverhältnisse bei Marx folgte, sondern, wie Bermbach überzeugend darlegt, den Thesen von Kathedersozialisten wie Gustav Schmoller, »die mit je unterschiedlichen Konzepten für eine soziale Umgestaltung der Gesellschaft, für die Besserstellung und soziale Absicherung der Arbeiter bei Beibehaltung eines liberalkonstitutionellen politischen Systems eintraten« (S. 120). Auch in den Überlegungen, die Wolzogen und Chamberlain in Bezug auf die Organisationsform der Gesellschaft anstellten, schimmerte das politische Denken ihrer großen Legitimationsfigur nur schwach durch. Wagners Idee einer »genossenschaftlichen Selbstorganisation des Volkes« (S. 122) bei gleichzeitigem »Anti-Institutionalismus« und »Anti-Etatismus« (S. 137) folgten sie nicht. Wolzogen beschwor in Anlehnung an Constantin Frantz – dessen Schriften Wagner gleichwohl sehr bewunderte – die Schaffung einer Konföderation, Chamberlain entwarf in seinem Band Politische Ideale (1916) einen föderalistisch aufgefächerten Bundesstaat. Romantische Vorstellungen von einer organischen Gemeinschaft werden in diesen Entwürfen ebenso virulent wie eine dezidierte Ablehnung der parlamentarischen Demokratie.

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Das Weltbild des Bayreuther Kreises wurde durch den Ersten Weltkrieg nicht erschüttert. Dessen Ausbruch wird zur »Katharsis des bisherigen Deutschland« stilisiert (S. 104), nach dessen Ende setzen die Bayreuther ihr völkisches Unwesen unbeirrt fort. Bereits zu Beginn der Zwanziger Jahre treten Autoren dem Kreis bei, die mit dem Nationalsozialismus sympathisieren. Am 1. Oktober 1923 besucht Hitler zum ersten Mal Wahnfried, 1924 ist dem ersten Heft des Jahrgangs ein Zitat Hitlers vorangestellt: »Dem äußeren Kampf muß der innere vorausgehen. Unser Kampf gilt dem heiligen Inhalt.« Folgerichtig werden Antisemitismus und Rassismus schärfer, wobei sich unweigerlich die Frage stellt, inwieweit sich der nun vertretene biologistische Rassebegriff auf Wagner, Chamberlain und Wolzogen berufen konnte. Bermbachs Darstellung ist hier sehr differenziert: Wagner war zwar ein Bewunderer Gobineaus, dieser publizierte nicht nur vor dem Ersten Weltkrieg in den Bayreuther Blättern, sondern wurde darin auch sehr häufig zitiert. Allerdings lehnte Wagner Gobineaus biologistischen Rassebegriff ab, weil sein Glaube an »das theologische Korrektiv in Gestalt des leidenden Jesu« (S. 148) und Schopenhauers Philosophie dem entgegenstanden. Chamberlain und Wolzogen verschärften zwar den bei Wagner nur vage vorhandenen Rassebegriff und machten den biologischen Gegensatz von arischer und semitischer Rasse stark. Gleichzeitig betonten sie aber, dass die Rasse als geistiges Phänomen begriffen werden müsse, es galt Chamberlain zufolge den »Juden in uns« zu bekämpfen. Damit verband sich auch eine Skepsis gegenüber Darwinismus und rassistischem Zuchtstaat, die in den Bayreuther Blättern bis zu Beginn der Zwanziger Jahre dominierte. Doch dann wurde der Rassebegriff von Nazis wie Karl Grunsky und Richard von Schaukal »aus der Wagnerschen Uneindeutigkeit in die Eindeutigkeit des Biologischen umgedeutet und aggressiv gegen die Juden eingesetzt« (S. 150). Wagners »sozialpolitisches Ideal« von der »Urgemeinschaftlichkeit« 11 wird »in eine Rassegemeinschaft umgedeutet« (S. 158). Propagiert wird zunächst ein »autoritärer Ständestaat« (S. 163), der sich gegen den modernen westlichen Parlamentarismus richtet. 1933 schwenkten die Bayreuther Blätter dann endgültig und vollständig auf die Ideologie der Nationalsozialisten ein, Wagner wurde nun zum Vorläufer der NS-Ideologie stilisiert. Es ist für Bermbach ein Leichtes zu zeigen, wie platt die Nazis Wagners anarchistisch-sozialistisches Vokabular in ihre Ideologie umdeuteten. Wagners sozialistische Definition des Volkes als jene, die »eine gemeinschaftliche Not« empfinden, 12 wird in Hermann Seeligers programmatischen Aufsatz Der deutsche Seher (1934) zur »Not des gemeinschaftlich deutsch fühlenden Menschen«. »Wagnergeist« wird »Hitlergeist«. 13

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Rechte Utopiebildung:
Arisches Christentum und »Nueva Germania«

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Im vierten und fünften Kapitel beschäftigt sich Bermbach mit zwei weiteren Aspekten der Bayreuther Mission einer Erneuerung des deutschen Volksgeistes. Der erste ist die Konzeption eines arischen Christentums in der von Wolzogen und Chamberlain entwickelten »Bayreuther Theologie«. Dabei konnten sie durchaus an Wagners Denken anschließen. Dieser folgte (wie viele Theologen des 19. Jahrhunderts) der scharfen Trennung von Altem und Neuem Testament, auch darauf gründete sein Antisemitismus. Dem harten und strafenden Gott der Juden wird Jesus Christus als Erlöser der Menschen entgegengestellt. Dass Jesus kein Jude gewesen sein könne, war deshalb nicht nur für Wagner, sondern auch für Wolzogen und Chamberlain klar. Während Wagner aber im Parsifal einen religiösen Synkretismus aus spirituellem Christentum und Buddhismus entwarf, betonten Wolzogen und Chamberlain, dass nur die Arier aufgrund ihrer edlen Anlagen fähig seien, tief religiös zu empfinden. Wie Wolzogen glaubte, konvergierten Ariertum und Christentum darin, den Menschen zur »reinen Menschlichkeit« zu transzendieren. »Dieses Rasse-Amalgam mit dem Christentum in Übereinstimmung zu bringen, ist die eigentlich zu lösende Aufgabe – und es ist eine Aufgabe Bayreuths, eine seiner zentralen Aufgaben« (S. 283).

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Der zweite Aspekt betrifft den wenig bekannten, dafür umso aufschlussreicheren Versuch einer Realisierung rechter Utopiebildung. Es geht um das Vorhaben Bernhard Försters, in Paraguay die Kolonie »Nueva Germania« zu errichten. Förster, Antisemit und Wagner-Verehrer, war mit Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth verheiratet. Er war der Überzeugung, dass nur in unberührtem Gebiet der deutsche Geist wiedererstehen könne. Die Regierung von Paraguay stellte ihm ein Gebiet zur Verfügung, das die Siedler zu 30 Prozent für die Landwirtschaft nutzten, der Rest war Urwald. Förster berichtete von seinem Unternehmen regelmäßig in den Bayreuther Blättern und berief sich dabei wiederholt auf den Geist Richard Wagners, der ihn bei seinem Vorhaben begleite – was nicht verhindern konnte, dass »Nueva Germania« in den Bankrott stürzte und Förster 1889 in einem Hotelzimmer in San Bernadino ums Leben kam, wahrscheinlich durch Selbstmord. Es ist bedauerlich, dass Bermbach sich auf die ideengeschichtlichen Verbindungen und Unterschiede zwischen den Schriften Wagners und Försters konzentriert und die konkreten Voraussetzungen des Projekts und die Ursachen seines Scheiterns nur streift. Bei der Schilderung der Probleme, mit der die Siedler in »Nueva Germania« zu kämpfen hatten, begnügt sich der Autor mit Andeutungen: »Der Alltag kannte harte Arbeit und Mangel, einfachstes Essen, mangelnde medizinische Versorgung, auch Probleme des Alkoholismus und der Kriminalität« (S. 325) und verweist sonst auf Daniela Kraus ungedruckte Wiener Dissertation über Försters Projekt. 14 Aufschlussreich ist allerdings der Abschnitt über das Bildungs- und Schulideal des Lehrers Förster, da es mit den in den Bayreuther Blättern immer wieder angedachten Schulexperimenten ernst zu machen versuchte.

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Die folgenden drei Kapitel nehmen dann einzelne Aspekte der Rezeption der Musikdramen in den Blick: Die Deutung der Siegfried-Figur in Bayreuth und Weimar, die völkische Vereinnahmung der Meistersinger, ein Überblick über die Deutungen des Ring des Nibelungen seit dessen Uraufführung im Jahr 1876. In letzterem stellt Bermbach sein beeindruckendes und detailliertes Wissen der Forschungsliteratur unter Beweis und kann so zeigen, welche enorme Spannweite die Deutungsgeschichte von Wagners Tetralogie umfasst. Dieser Abschnitt des Buches ist neben Dieter Borchmeyers immer noch lesenswertem Forschungsüberblick aus dem Jahr 1982 15 die beste Einführung in das kaum noch überschaubare Gebiet der Wagner-Literatur. Nicht zuletzt deshalb, weil Interpretationen des Rings immer auch Vorbild für die Interpretationen von Wagners Gesamtwerk waren und sind. Bermbachs historischer Überblick beginnt bei den ersten Deutungen des Rings im Bayreuther Kreis, die apolitisch (Heinrich Porges), schopenhauerisch (Otto Eiser) oder religiös (Felix Gross) ausfielen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Ring als Parabel vom Untergang des Deutschen Reiches aufgefasst. Bermbach verweist auch auf die erstaunliche Tatsache, dass die Tetralogie nach 1934 uninteressant wurde und sich die Interpreten lieber anderen Werken Wagners zuwandten, die sie im Hinblick auf die nationalsozialistische Ideologie für anschlussfähiger hielten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich dann drei grundsätzliche Forschungstendenzen unterscheiden: Die Betonung des Mythosgehaltes des Werkes (bei Schadewaldt, Hübner und Borchmeyer) konkurriert mit linken und gesellschaftstheoretischen (Mayer, Adorno, Bloch, Bermbach) sowie psychoanalytischen Deutungen (Donington, Schickling).

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Wagner im »Dritten Reich«

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Im neunten und zehnten Kapitel konzentriert sich Bermbach schließlich auf die nationalsozialistische Rezeption Wagners. Zunächst zeigt er, wie sich die Amalgamierung der Meistersinger von Nürnberg, Bayreuth und »Drittem Reich« bei der von Wilhelm Furtwängler dirigierten Festspieleröffnung 1933 manifestierte. Dies deutet Bermbach als »eine folgerichtige Erfüllung einer konsequent darauf zulaufenden, langen Interpretations- und Vereinnahmungsgeschichte, die Wagner selbst noch zu einem erheblichen Teil mitzuverantworten hat« (S. 421). Bereits nach der Uraufführung im Jahr 1868 erblickten die ersten Rezipienten und Interpreten in dem Werk den Inbegriff der deutschen »Kultur«, die Aneignung durch die Nationalsozialisten folgte dann jenem »Verfahren der semantischen Uminterpretation von Worten und Begriffen, der selektiven Herausnahme und Verdichtung von Einzelaspekten unter veränderten ideologischen Vorzeichen« (S. 433), dem Bermbach in diese Studie immer wieder auf die Spur kommt.

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Im zehnten Kapitel geht Bermbach dann dem »Liturgietransfer« Wagners ins »Dritte Reich« nach. In diesem Zusammenhang betont er, dass nicht, wie in der Forschungsliteratur oft und öffentlichkeitswirksam behauptet, 16 Hitler der Erfüllungsgehilfe von Wagners Ideen gewesen sei, sondern dass Hitler sich seinen Wagner zurechtgezimmert habe. Zwar bewunderte Hitler die Charakterstärke und Unbeugsamkeit des Revolutionärs von 1848, aber die Revolution, die er im Sinn hatte, war völkisch-nationalistisch, nicht anarchistisch. Hitlers »Volk« war anders als das Wagners rassisch bestimmt. Wagner ging es um die Überwindung der Politik durch Ästhetik, Hitler benutzte die Theatralisierung der Politik, um alle Lebensbereiche faschistisch zu durchdringen. Bermbach verweist auch auf die Tatsache, dass sich Hitler in seinen antisemitischen Äußerungen nie auf Wagner berufen hat und Wagner nie mit dem Antisemitismus in Verbindung gebracht hat. Exemplarisch zeigt Wagner die nationalsozialistische Vereinnahmung Wagners anhand des Parsifal, in dem der Bayreuther Kreis schon früh Ausdruck germanischer Religiosität erblickte. Im Anschluss daran benutzte Hitler die liturgischen Elemente des Musikdramas, um seine theatralisierte Politik »mit sakralen Momenten« auszustatten (S. 465). Dies ist es, was Bermbach als Liturgietransfer bezeichnet.

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Im Abschlusskapitel zeigt Bermbach, wie die Bayreuther Programmhefte ab 1951 nicht nur einen »Neuanfang«, sondern auch »Kontinuität« bergen. Es schreiben nicht nur Adorno und Bloch, sondern auch NS-belastete Forscher wie Wolfgang Schadewaldt und notorische Nazis wie Hans Grunsky, der noch im Jahr 1958 in seinem Aufsatz »Totem und Tabu im Lohengrinmythos« den völkischen Gedankenunrat des Antisemiten Leopold von Schroeder herbeischwadronieren darf. Otto Strobel, strammer Nazi und Parteimitglied, blieb auf Wunsch Wieland Wagners nach dem Krieg Leiter der Richard-Wagner-Forschungsstätte in Bayreuth.

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Fragen

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So überzeugend die Studie ist, tauchen im Lauf der Lektüre doch einige Fragen auf. Die wichtigste betrifft die Unterscheidung von linker und rechter Kritik der Moderne, auf die Bermbachs Argumentation gegründet ist. Die völkische Vereinnahmung Wagners durch Wolzogen, Chamberlain und die Nazis sei nur möglich gewesen, weil Wagners Nachfolger die anarchistischen und sozialistischen Elemente seines Denkens verleugnet hätten. Gleichzeitig muss Bermbach aber immer wieder einräumen, dass das völkische Denken seiner Erbeverwalter in Wagners Schriften bereits angelegt ist:

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Immer dort, wo es um die Bestimmung des ›Deutschen‹ oder des ›deutschen Wesens‹ geht, erteilt Wagner der Politik eine radikale Absage zugunsten der Kunst, differenziert aber zugleich auch die unterschiedlichen Formen und Entäußerungen der Kunst in zivilisatorisch und kulturell geprägte. Zivilisation – das ist Oberfläche und Effekt, Unterhaltung und Überraschung, Glanz und Macht, Parade und Uniform, vor allem aber moralischer und geistiger Leerlauf […] und all dies wird ›westlichen‹ Zivilisationen zugeschrieben, insbesondere der französischen. (S. 74)
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Es ist gerade die eigenartige Mischung aus sozialistischem Gleichheitsgedanken, radikaler Staatskritik und konservativem Kulturbegriff, die aus Wagner einen so widersprüchlichen und schillernden politischen Denker machen. Bermbach macht es sich zu einfach, wenn er den Frühsozialismus und Anarchismus als entscheidende Quelle von Wagners politischem Denken ausgibt. Zum radikal linken Denken gehört der Glaube an den Fortschritt der Zivilisation, an die Überwindung der Klassengegensätze und letztlich auch der Nation. Linke Utopien sind progressiv und grenzüberschreitend, während rechte Utopien ihr Heil in der Regression, im Volk und in der Abgrenzung suchen. Das Wechselspiel zwischen diesen beiden Polen ist es, was Wagners Denken auszeichnet und man hätte sich deshalb gewünscht, dass Bermbach in seiner Studie mit einer dialektischen Methode arbeitet. Stattdessen gewinnt man beim Lesen oft den Eindruck, dass der eigentlich linke Wagner von seinen rechten Nachfolgern verfälscht worden sei. In diesem Zusammenhang hätte Bermbach auch den Unterschied zwischen dem Wagner der Zürcher Zeit und dem Wagner der Regenerationsschriften noch deutlicher machen können. Dass in den späten Schriften anarchistische Elemente eine Rolle spielen, steht außer Frage, aber sie beruhen doch auf einem völlig anderen Denkmodell als die linkshegelianisch geprägten Kunstschriften der Jahrhundertmitte.

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Vor diesem Hintergrund scheint auch die These Bermbachs problematisch, dass Wagners Antisemitismus »für dessen Theorie des historischen Verfalls der Menschheit und der Notwendigkeit ihrer Regeneration« keine »ursächliche Rolle« gespielt habe. Die Juden seien für Wagner also nicht Ursache, sondern »Indikator« des Verfalls gewesen (S. 191). In diesem Zusammenhang verwundert auch Bermbachs Kritik an Chamberlain, dieser habe Wagners Pamphlet Das Judenthum in der Musik in einen »explizit politik- und gesellschaftstheoretischen Kontext« gestellt, wo es doch ästhetisch gemeint sei. Denn die Verbindung von Ästhetik und Gemeinschaft ist für Wagner, wie Bermbach selbst immer wieder herausstellt, die Leitidee. Daher stellt sich die Frage, ob die Juden in Wagners Konzeption einer ästhetischen Gemeinschaft nicht die Rolle jenes fremden Elements spielen, das ex negativo den Zusammenhalt und die Identität der Gemeinschaft erst garantiert. Sie waren also weder Ursache noch Indikator von Wagners Kritik der Moderne, sondern der unvermeidliche Schatten, den seine lichtvolle Utopie einer neuen Gemeinschaft warf. Freuds Diktum, dass es immer möglich sei, »eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben«, 17 trifft auch auf Wagner zu.

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Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Darstellung des Zusammenhangs von Musik und Politik, den Bermbach nur skizziert. Zwar legt er schlüssig dar, dass die Leitmotive des Rings noch als »Weltanschauungspartikel« (S. 222) gelesen werden können, während der späte Wagner seine Weltanschauung mehr und mehr in seine theoretischen Schriften verlegte. An dieser Stelle wäre es jedoch aufschlussreich gewesen, wenn Bermbach auf die Verwendung von Wagners Musik durch die Propagandamaschine der Nazis eingegangen wäre. Denn Wagners Rezeption im »Dritten Reich« ist geradezu ein Präzedenzfall für die seit der griechischen Antike virulente Frage, wie das politische Potential von Musik beherrscht und benutzt werden kann. Daran schließt sich die Frage an, ob Musik, insbesondere diejenige Wagners, a priori semantisiert ist oder ob sie weltanschaulich neutral ist und erst von den jeweiligen Rezipienten mit Bedeutung aufgeladen ist. Niemand hat dieses Dilemma der Politisierung von Wagners Musik im »Dritten Reich« so gut dargestellt wie Charlie Chaplin in seinem Film The great dictator (1940). Dort erklingt, während der Diktator Hynkel in der berühmtesten Szene des Films mit einem Luftballon in Form einer Erdkugel spielt, das Vorspiel zu Lohengrin. Exakt dieselbe Musik wird aber auch eingespielt, als der jüdische Friseur und Doppelgänger Hynkels am Schluss des Films seine Lobrede auf die Demokratie hält. Die Musik Wagners, so scheint es, ist ambivalent und sowohl für den einen wie für den anderen politischen Zweck einsetzbar. Da Udo Bermbach zweifellos der kompetenteste Autor für die Rezeption Wagners durch die Nationalsozialisten ist, bedauert man, von ihm nicht mehr über diesen Zusammenhang zu erfahren.

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Auch hätte dem Buch ein deutlicher Verweis auf die Rezeption Wagners außerhalb Bayreuths gut getan. Der Kontrast zum Bild Wagners in der Münchener und Wiener Moderne hätte Bermbachs Thesen ebenso eine schärfere Kontur geben können wie der Hinweis auf die Wirkung, die Wagner im europäischen Ausland entfaltet hat.

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Dies alles sind aber keine grundsätzlichen Einwände gegen die Konzeption und Darstellung des Buches. Weil es die Bayreuther Rezeption Wagners überzeugend in die Ideen- und Ideologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einordnet, ist es jetzt bereits ein Standardwerk, das so leicht nicht zu überbieten sein wird. Bermbach schreibt eine klare Wissenschaftsprosa, die nicht nur von einem Fachpublikum goutiert werden kann. Die Nachdrücklichkeit, mit der er auf das linksradikale Erbe in Wagners Denken verweist, mag an der einen oder anderen Stelle zu einseitig wirken, insgesamt ist sie jedoch berechtigt. Nach der Lektüre wird einmal mehr klar, dass Wagners Werk weder einen zeitenthobenen Mythos darstellt, noch unter das Rubrum »Protofaschismus« abgelegt werden kann. Wer es verstehen will, kommt an seinen anarchistischen und sozialistischen Elementen nicht vorbei.

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Altes und Neues zu Thomas Mann und Wagner

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Einen anderen Aspekt der Rezeption Wagners in Deutschland untersucht die Ausgabe 2/2011 des wagnerspectrum. Dieser Zeitschrift kommt das Verdienst zu, der Wagner-Forschung seit dem Jahr 2005 jenes Forum zu bieten, das sie benötigt, um ihrem Schattendasein zu entkommen. »Thomas Mann und Wagner« lautet der Schwerpunkt des hier zu besprechenden Heftes, und damit ist klar, dass es nun nicht mehr um die völkische und nationalistische Deutung Wagners gehen wird. Wie Dieter Borchmeyer in seinem »Editorial« betont, habe die »Verbindung von mythischer Archaik und moderner Nervenkunst« in Wagners Musikdramen den Nerv einer ganzen Epoche getroffen. Und eben für diese Epochenstimmung stehe auch das Werk Thomas Manns, das sich »von Anfang bis Ende in den Spuren Wagners bewegt« (S. 12). Um die moderne, nicht die antimodernen Stoßrichtung von Wagners Kunst wird es also im Folgenden gehen.

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Borchmeyer nennt die zwei wesentlichen Aspekte, die für die bisherige Forschung über die Verbindungslinien zwischen Richard Wagner und Thomas Mann ausschlaggebend waren. Zum einen das für den modernen Roman wie für das moderne Musiktheater zentrale Wechselspiel von Literatur und Musik: Wie hat die Literarisierung von Musik bei Wagner auf die Musikalisierung von Literatur bei Mann gewirkt? Wagner wollte den Roman in seinem Musikdrama aufgehen lassen und Thomas Mann Wagners Musikdramen in seinen Romanen. Wie das genau vonstatten ging, stellt die Literaturwissenschaft bis heute vor Probleme. Der zweite Aspekt ist die Rolle, die Thomas Mann bei der Entwicklung eines modernen, kosmopolitischen und dezidiert gegen jegliche völkische Vereinnahmung gerichteten Wagner-Bildes gespielt hat. Diese beiden Aspekte sind es auch, mit denen sich die Aufsätze dieses Heftes beschäftigen. Problematisch ist dieses Vorgehen deshalb, weil durch den Rekurs auf relativ gut erforschte Themen innovative Zugänge nur eingeschränkt möglich sind. Zumal, wenn in den Beiträgen selbst neuere und neueste Erkenntnisse der Medien- und Kulturwissenschaft nicht berücksichtigt werden.

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Deshalb verwundert es nicht, dass die in einigen Texten präsentierten Erkenntnisse vom matten Licht altbekannter Thesen getrübt werden. Die wesentlichen Ergebnisse von Dieter Borchmeyers Aufsatz »Kulissengeschiebe«, der Thomas Manns Joseph-Roman als »Kontrafaktur« liest, kennt man bereits aus früheren Texten des Autors. Es sei den Herausgebern jedoch zugute gehalten, dass darauf in der ersten Fußnote hingewiesen wird. Auch die Thesen, die Yvonne Nilges in ihrem Text über »›Enthusiastische Ambivalenz‹. Wagner als Paradigma des modernen Künstlers im Urteil Thomas Manns« entwickelt, wird man kaum als innovativ bezeichnen können. Dass in Manns Wagner-Rezeption »Negation und Affirmation« stets »dicht beieinander« stehen und sich gegenseitig »durchdringen« (S. 140), ist als These viel zu allgemein gehalten und Grundtenor fast jeder entsprechenden Darstellung. Gleiches gilt für Nilges Versuch, diese Ambivalenz von Manns Beschäftigung mit Wagner darauf zurückzubeziehen, dass das »Moderne« selbst »kontradiktorisch« sei (S. 141). Auch der erste Beitrag Hans Rudolf Vagets, des Herausgebers der verdienstvollen Anthologie »Im Schatten Wagners«, bringt wenig Neues. Wie in seinem Buch Seelenzauber bereits ausführlich geschehen, 18 untersucht Vaget die Rolle Hans Knappertsbuschs während des »Protests der Richard-Wagner-Stadt München« im Jahr 1933. Zwar kann Vaget zeigen, dass der damalige Staatsoperndirektor Knappertsbusch der Initiator jenes berühmt-berüchtigten Protests war. Dessen sozialhistorische Verortung im kulturnationalistischen und sich unpolitischen dünkenden Milieu des Bürgertums ist gleichwohl keine vermeldenswerte Neuigkeit.

[40] 

Dagegen ist der zweite Beitrag Vagets über »Wagner im Spiegel Heinrich und Thomas Manns« schon allein deshalb aufschlussreich, weil der Autor sich darin mit Diedrich Heßlings Lohengrin-Erlebnis in Heinrich Manns Der Untertan beschäftigt. Zu oft versperrt die Bedeutung Thomas Manns für die moderne Rezeption Wagners den Blick auf andere Autoren, nicht zuletzt auf Manns älteren Bruder Heinrich. Vagets Text kann der zukünftigen Beschäftigung mit Heinrich Manns Wagner-Rezeption als Ausgangspunkt dienen, zeigt er doch überzeugend, wie die genannte Lohengrin-Szene eine mustergültige Persiflierung des »einfältigen und chauvinistischen Wagner-Kult des wilhelminischen Deutschland« darstellt (S. 121). Darüber hinaus verweist er darauf, wie hier »im gezielten Gegensatz« zu den emphatischen Musikbeschreibungen in Thomas Manns Wälsungenblut die Musik Wagners »heruntergemacht« werde (S. 123). Hätte Heinrich einen größeren Gegensatz zu der musikalischen Prosa seines Bruders setzen können als folgenden Satz: »Im Orchester war großer Betrieb«? 19

[41] 

Die Rezeption von Wagners Musik bei Thomas Mann

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Damit ist der zweite Schwerpunkt des Bandes angezeigt: die Rezeption von Wagners Musik. Einen guten Ausgangspunkt ist hier der Aufsatz von Tim Lörke, »Ideenmusik – Thomas Mann, Paul Bekker und ein politisierter Wagner«, der zugleich als Scharnierstelle zwischen den politischen und musikalischen Auslegungen von Wagners Werk fungiert. Anhand des Streits zwischen Hans Pfitzner auf der einen sowie Paul Bekker und Ferrucio Busoni auf der anderen Seite zeigt Lörke in klarer Diktion, wie die Musik Wagners durch das konservative Milieu in Deutschland vereinnahmt wurde. Lörkes Ausgangsthese: Das Bildungsbürgertum, »das sich in besonderem Maße auf Kultur beruft«, sieht sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Wahrer der deutschen Kultur und steht »in Abwehr der Zumutungen der Modernisierung« (S. 70). Leitbild war dabei nicht das politische Denken, sondern die Musik Wagners. Diese galt als per se unpolitisch und musste deshalb vor der Unreinheit der modernen Zivilisation und dem demokratischen Parlamentarismus beschützt werden. Ideologische Grundlage bildete die romantisch-kunstreligiöse Verklärung von Musik überhaupt: »Sie vermittelt eine Ahnung jener Ganzheit, die durch die Modernisierung verloren gegangen ist« (S. 74). Der Gegensatz von Kultur und Zivilisation wird zum Gegensatz von Musik und Politik stilisiert.

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Diese konservative Wagner-Deutung musste unweigerlich zum Streit mit jenen Intellektuellen führen, die das moderne und politische Potential Wagners und der Musik hervorhoben. Man mag es im Hinblick auf die Konzeption des Heftes bedauern, dass Lörke in diesem Zusammenhang nur kursorisch auf Thomas Mann verweist und seine Thesen stattdessen ausführlich anhand der Auseinandersetzung zwischen Pfitzner und Busoni ausführt. Auch hätte der Autor noch auf Adornos Versuch über Wagner verweisen können, der sich als Reaktion auf die konservative Vereinnahmung von Wagners Musik lesen läßt und Wagners Kompositionsweise konsequent auf ihren sozialen Gehalt hin überprüft. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass hier ein wichtiger Aspekt der Rezeption Wagners überzeugend dargestellt und die wesentlichen Thesen der Studie Udo Bermbachs bestätigt und bereichert werden.

[44] 

Ganz auf Thomas Manns Rezeption der Musik Wagners konzentriert ist dagegen der Aufsatz von Jörg Krämer: »Ich weiß Bescheid« – Thomas Mann über Richard Wagner, vonseiten der Musik betrachtet. » Er widmet sich der Darstellung von Musik in Manns Texten, wobei Krämer zu Beginn zurecht betont, dass in den bisherigen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zum Thema »der Fokus nahezu ausschließlich auf der literarischen Seite« liege. Es gehe fast immer um »textbezogene« Probleme. »Kaum jemals aber ist in der Forschung die Frage gestellt worden, wie es um Manns musikalische Fachkenntnis bestellt war und was von seinen Äußerungen über musikalische Sachverhalte aus musikologischer Sicht zu halten ist« (S. 38).

[45] 

Im Folgenden zeigt Krämer, dass Mann trotz einer soliden musikalischen Ausbildung zur Musikwissenschaft lebenslang eine große Distanz bewahrt hat, wohl auch, um sein romantisches Musikverständnis nicht zu gefährden. Er sah sich vielmehr als Prototyp einer »species von musikerlebenden Hörern«, wie er in einem Brief an Adorno schreibt. 20 Dieses musikerlebende Hören teilt Krämer nun in drei Gruppen ein: Private Aufzeichnungen, veröffentlichte nicht-fiktionale Texte sowie musikbezogene Passagen in Manns fiktionalen Texten. Er trifft diese Unterscheidung, weil mit jeder Gruppe »medial unterschiedliche Aussageabsichten« verbunden seien. Musikbezogene Passagen in fiktionalen Texten hätten »primär eine intratextuelle, also poetische Funktion innerhalb des literarischen Textes« (S. 41). Dass damit bei Thomas Mann die Genauigkeit der Beschreibung von Musik geopfert wird, zeigt Krämer anhand der Darstellung des Vorspiels von Tristan und Isolde in der Novelle Tristan. Immer wieder entfernt sich Mann weit vom musikalischen Sinn der Partitur, seine Beschreibung steht zu diesem sogar in Gegensatz. Wichtige Teile der Musik werden einfach übergangen. Zu den Vorzügen von Krämers Aufsatz gehört, dass er darin keinen Mangel sieht, sondern die Ursache in Manns »Montagetechnik« ausmacht. Diese verwische »die ursprüngliche, textexterne Realie«, also die Partitur Wagners (S. 48). Wie bei den großen Autoren des späten Realismus resultiere daraus »eine virtuose und dichte Mehrschichtigkeit, eine Gleichzeitigkeit von scheinbar realistischer (Musik-) Beschreibung, deren symbolischer Funktionalisierung und Einbindung in den Verweisungszusammenhang und Beziehungszauber des jeweiligen Werkes« (S. 47).

[46] 

Die Pointe des Aufsatzes liegt in der Erkenntnis, dass Mann auch in nicht-fiktionalen Texten, etwa seinem berühmten Essay Leiden und Größe Richard Wagners aus dem Jahr 1933 dieselbe Technik anwendet. Präzise Ausführungen zur Musik bildeten auch hier die Ausnahme (vgl. S. 49). Ähnliches gilt für die privaten Aufzeichnungen. Thomas Mann hörte Musik mit Hilfe des Textbuches, nicht mit Klavierauszug oder Partitur und fokussierte sich auf die Leitmotive – ganz im Gegensatz zu Schnitzler, »der sich Wagners Musik lebenslang am Klavier im vierhändigen Spiel erarbeitete« (S. 53). Manns Verhältnis zur Musik blieb fern kompositionstechnischer Details, romantisch geprägt.

[47] 

Erzählen bei Mann und Wagner

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Der Medienwechsel von Musik in Text, den Jörg Krämers Aufsatz exemplarisch verhandelt, bildet seit langem einen Schwerpunkt der Mann-Forschung. 21 Er steht auch im Zentrum von Dorothea Kirschbaums Bonner Dissertation Erzählen nach Wagner. Und wie viele Interpreten vor ihr führt auch Kirschbaum die Übernahme musikalischer Strukturen in Manns Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder auf seine Rezeption von Wagners Musikdramen, insbesondere des Ring des Nibelungen zurück. 22 Allerdings tut sie dies auf der Basis einer Analyse der Partituren Wagners, die sie mit narratologischen Fragestellungen zu verbinden sucht. Dies ist umso erfreulicher, als eine interdisziplinäre Verbindung von Musikanalyse und Literaturwissenschaft auch in der Wagner-Forschung immer noch die Ausnahme bildet.

[49] 

Der Titel der Studie gibt ihre doppelte Ausrichtung wieder. Zum einen wird die Präposition »nach« temporal begriffen, Manns Roman als Nachfolgewerk des Ring dargestellt. Zum anderen bezieht sich »nach« aber auch auf den Modus, in dem diese Aneignung geschieht. Kirschbaum will überprüfen, inwieweit die Joseph-Tetralogie Erzähltechniken des Rings aufgreift und weiterentwickelt. Dieser Ansatz ist freilich nicht ganz neu, ebenso wenig wie die der Arbeit zugrunde gelegte Idee, dass die Erzählfunktion in Wagners Musikdramen von der Musik übernommen wird (S. 37). An dieser Stelle hätte Kirschbaum zumindest erwähnen sollen, dass bereits Dieter Borchmeyer, Carl Dahlhaus und Reinhold Brinkmann diese Frage in ihren Studien immer wieder verhandelt haben. 23

[50] 

Der Aufbau der Arbeit ist von erfreulicher Klarheit: Nach einem einleitenden Kapitel (S. 25–38), das ausgehend von Thesen Thomas Manns grundlegende Probleme für die Untersuchung von Wagners epischem Drama erläutert, widmet sich der der erste Teil (S. 39–114) der Erzähltechnik des Ring des Nibelungen. Störend ist hierbei, dass die Autorin immer wieder verallgemeinernd vom »Musikdrama« spricht, so als stünden die Erzählszenen und die Kompositionstechnik der Tetralogie stellvertretend für Wagners Gesamtwerk (was nicht der Fall ist). Der zweite Teil (S. 115–193) versucht dann die dabei gewonnenen Einsichten auf Manns Joseph-Tetralogie zu übertragen. Der dritte Teil (S. 195–280) versucht schließlich, die narratologische Gestaltung kulturhistorisch zu begründen. Dabei gelangt Kirschbaum zu der These, dass es die Darstellung des Inzests sei, die die erzählerische Verfahrensweise beider Werke motiviert.

[51] 

Die Ambivalenz der »Leitmotive«

[52] 

In ihrer Untersuchung der narrativen Gestaltung des Rings geht es Kirschbaum zunächst darum, die für die Leitmotive grundlegende »Ambivalenz« zu fassen, »einerseits so ›sprechend‹ zu wirken und andererseits doch eigentlich gar nicht festlegbar zu sein«. Dies führt sie auf die »Schwierigkeit der Bedeutungszuweisung« zurück (S. 49). Mit Bezug auf Christian Thoraus Studie Semantisierte Sinnlichkeit 24 (S. 50 ff.) analysiert sie dies zeichentheoretisch: »Das musikalische Leitmotiv hat die Möglichkeit, im Zusammenspiel mit anderen Medien, denotative, der musikalischen Struktur nicht immanente Bezüge zu stiften.« Doch auch daraus resultiere »nie Eindeutigkeit« (S. 54). So banal diese Erkenntnis wirkt, ist sie doch im Kontext der Wagner-Forschung nicht zu unterschätzen. Denn noch immer wird in Arbeiten über Wagner von einem eindeutigen semantischen Bezug der Leitmotive ausgegangen. Im Folgenden erläutert Kirschbaum dies anhand des sogenannten ›Schwertmotivs‹, das im Lauf der Handlung verschiedene Bedeutungszuweisungen erfährt. Dabei konzentriert sich ihre Analyse auf die strukturelle Ebene, es geht der Autorin um die Funktionsweise der Bedeutungsgenese im Musikdrama, nicht um die Bedeutung selbst. Auch wenn diese Darstellung einsichtig ist, geht sie kaum über die von Thorau entwickelten Thesen hinaus.

[53] 

Innovativer ist dagegen der folgende Abschnitt, in dem Kirschbaum mit Hilfe der von Genette entwickelten Kategorien strukturaler Erzähltextanalyse zeigt, dass das Orchester als »heterodiegetischer Erzähler mit Nullfokalisierung« fungiere, die Figurenrede als »homodiegetischer Erzähler mit interner Fokalisierung« (S. 74). Es ist überzeugend, dass die Autorin den Unterschied zwischen dem Wissen der Figuren und dem Wissen der Musik mit der Differenz bewusst/unbewusst erklärt. Die von ihr dabei vorgenommene Kategorisierung ist schlüssig: Die Musik weiß entweder mehr als die Figuren und ergänzt deren Rede um das ihnen unbewusst bleibende Wissen (S. 76–81); sie »unterstreicht« als bestätigender Kommentar die in der Figurenrede angelegte »Innensicht« (S. 103), oder Musik- und Figurenwissen überschneiden sich, wenn eine Figur in ihrem Gesang ein zuvor im Orchester erklungenes Motiv übernimmt und sich des Wissens »vollbewusst« wird (S. 104–108).

[54] 

Dass die Musik gleichsam das Unbewusste der Figuren bildet, wird jedem, der auch nur oberflächlich mit dem Ring des Nibelungen vertraut ist, sofort einleuchten. Kirschbaums Studie kommt das Verdienst zu, zur wissenschaftlichen Fundierung dieser Beobachtung beizutragen. Problematisch ist dabei allerdings, dass die Exemplifizierung ihrer These zum Teil auf eben jener eindeutigen Bedeutungszuweisung der Leitmotive beruht, die sie zuvor widerlegt hat: So behauptet sie, das Erklingen des ›Fluchmotivs‹ im Orchester zeige den eigentlichen Grund von Wotans Verzweiflung (S. 69). Aber eben so dürfte sie nicht argumentieren, wenn sie ihre eigenen Erkenntnisse ernst nähme. Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Darstellung: Auch wenn es zu begrüßen ist, dass Kirschbaum ihre Thesen anhand zahlreicher Notenbeispiele belegt, bewegt sie sich linear am (Noten-)Text entlang, wodurch ihre Ausführungen bisweilen langatmig geraten.

[55] 

Erzählen in »Joseph und seine Brüder«

[56] 

Der zweite Teil der Arbeit ist weniger überzeugend. Es wird nicht deutlich, nach welchen Kriterien die Autorin ihre Analyse der Joseph-Tetralogie gliedert. Sie stellt verschiedene, dem Romantext entlehnte konzeptionelle »Grundprinzipien« (S. 128) dar: Die »rollende Sphäre« (S. 128–133), das »Mittlertum« (S. 133–137), das »Fest der Erzählung« (S. 138 ff.), deren Bezug zu Wagner oberflächlich bleibt. Die Parallelen zum Erzählverfahren des Ring sind so allgemein gehalten, dass sie auch auf zahlreiche andere Werke erzählender Literatur angewendet werden könnten. Sicher gibt es sowohl im Ring des Nibelungen als auch in Joseph und seine Brüder eine »Problematik des Anfangens« (S. 121), die Frage »Wer spricht?« ist nicht eindeutig zu beantworten, eigentliches und uneigentliches Sprechen überlagern sich, der »Eindruck der Unzuverlässigkeit des Erzählers« drängt sich auf (S. 128), die Motivstrukturen beider Werke dient der Strategie der »Vergegenwärtigung« (S. 141). Aber das trifft auf viele moderne Erzähltexte zu. Hinzu kommt, dass die Komplexität des in Joseph und seine Brüder entwickelten Erzählverfahrens sowie dessen ständige narrative Kommentierung und Reflexion weit über den Ring des Nibelungen hinausgehen. Ein einseitiger Rückbezug auf Wagner trägt hier nur wenig Erhellendes bei. Die Konzeption des Buches, die in einer vergleichenden Analyse zweier Werke besteht, stößt hier an ihre Grenzen.

[57] 

Der Inzest – strukturelle Kategorie beider Werke?

[58] 

Fragwürdig ist auch Kirschbaums anschließender Versuch, die in beiden Werken konstatierte »Darstellung der Bewusstwerdung« als »Entwicklung hin zum Ausgleich der Gegensätze Liebe und Macht (Ring) beziehungsweise Seele und Geist (Joseph)« zu lesen (S. 193). Die Thesen, die Kirschbaum in diesem Zusammenhang ausbreitet, sind teilweise so alt wie die Wagner-Forschung selbst. 25 Dass die Autorin dies nicht erwähnt und man den Eindruck gewinnen könnte, sie habe diese Zusammenhänge als Erste entdeckt, ist ärgerlich. In der Sache läuft es auf eine esoterische Deutung des Rings hinaus, die einem oberflächlichen Verständnis hegelianischer Dialektik folgt. Es werde »die Synthese der Dichotomie von Liebe und Macht verfolgt«, die sich, wie die Figur der Brünnhilde zeige, in »drei Stufen« vollziehe: »vom reinen Wissen durch die Liebe […] zur Synthese von Wissen und Liebe« (S. 204). Das ist dann doch etwas zu schablonenhaft gedacht. Im Ring wird der Gegensatz von Liebe und Macht nicht entfaltet, um überwunden zu werden. Beide sind, wie die Götterdämmerung anhand der Beziehung von Siegfried und Brünnhilde zeigt, dialektisch miteinander verschränkt. Der Schluss der Götterdämmerung ist ambivalent, die Liebe nicht im Diesseits realisierbar. Der Gewinn des Wissens ist im Ring immer nur von kurzer Dauer, die wissend gewordene Brünnhilde stürzt sich am Ende ins Feuer.

[59] 

Gewagt erscheint in diesem Zusammenhang vor allem der Versuch, die »Gedankenfigur des Inzests« in den Rang einer »strukturellen Kategorie« zu heben und sie in dieser Funktion »nicht nur zur Beschreibung der inhaltlichen, sondern auch der formalen Zusammenhänge und Wechselspiele« heranzuziehen (S. 222). Die im Ring relevanten Phänomene der »Wiederholung, Verwandtschaft, Selbstbezüglichkeit und Abweichung«, die Kirschbaum auf inhaltlicher und struktureller Ebene ausmacht, bezieht sie allesamt auf das Inzest-Motiv zurück. Als Beleg fungiert dabei unter anderem die Feststellung von »Motivverwandtschaften« (S. 229). Das »Spiel mit dem immer gleichen Material, wenn auch in größtmöglicher Variation, wird auf narrativer Ebene zur Entsprechung der schicksalhaften Ausweglosigkeit« (S. 231), was für die Autorin alles Ausdruck des Inzests ist. Damit wird dieser Topos aber überlastet, die Setzung erscheint willkürlich und argumentativ nicht überzeugend. Zumal Kirschbaum im Folgenden versucht, auch in der Josephs-Tetralogie den Inzest als Leit-Kategorie zu etablieren.

[60] 

Während es der Autorin im ersten Teil der Studie gelingt, die gattungstheoretischen Überlegungen zu Wagners Ring mit dem Analyseinstrumentarium der strukturalistischen Narratologie zu fundieren und weiterzuentwickeln, sind ihre Thesen zu Thomas Manns Josephs-Tetralogie wenig überzeugend. Gleiches gilt für ihren Versuch, den Inzest als die Schlüsselkategorie für die Deutung beider Werke herauszustellen. Obwohl es erfreulich ist, dass Kirschbaum ihre Thesen immer wieder anhand der Partitur überprüft, weist die Arbeit methodische Schwächen auf. Der Anschluss an die Forschung ist lückenhaft, gleiches gilt für das Literaturverzeichnis. Ihre Ausführungen bleiben werkimmanent, Kontextualisierungen zu anderen Werken oder gar zur Sozial- und Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bilden die Ausnahme.

[61] 

Fazit

[62] 

Sämtliche hier angezeigte Bücher zeugen davon, dass es der Wagner-Forschung immer noch schwer fällt, Anschluss an aktuelle Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften zu finden. Zudem bezieht man sich immer noch auf Themen, die in der Wagner-Forschung seit langem diskutiert werden: Wagners Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten, Wagners Einfluss auf Thomas Mann. Während es Udo Bermbach trotzdem gelingt, Wagners Rezeption in Deutschland auf eine solide Basis zu stellen, macht sich die mangelnde methodische und inhaltliche Innovation in der Thomas Mann-Ausgabe des wagnerspectrum und in Dorothea Kirschbaums Studie Erzählen nach Wagner deutlich bemerkbar. Erfreulich ist hier in erster Linie, dass immer mehr literaturwissenschaftliche Arbeiten die Beschäftigung mit Wagners Musik ernst nehmen und musikwissenschaftliche Analysetechniken miteinbeziehen. Zu hoffen bleibt dennoch, dass vom anstehenden Wagner-Jahr sowohl methodisch als auch inhaltlich neue Impulse ausgehen werden.

 
 

Anmerkungen

Den bisher ambitioniertesten, aber in der deutschen Forschung nicht beachteten Versuch unternimmt Timothée Picard: Wagner, une question européenne. Contribution à une étude du wagnérisme 1860–2004. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2006. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Arbeiten, die die Rezeption auf bestimmte Epochen und Länder begrenzen. Vgl. u.a. Matthias Duncker: Richard-Wagner-Rezeption in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Hamburg: Kovač 2009; Annegret Fauser, Manuela Schwartz (Hg.): Von Wagner zum Wagnérisme. Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 1999; Steffen Prigniz: Streitfall Richard Wagner. Alltag und Prozess seiner Rezeption in Rostock. Hamburg: Kovač 2011. Eine Untersuchung der Rezeption Wagners auf der Bühne bietet Nora Eckert: Der Ring des Nibelungen und seine Inszenierungen von 1876 und 2001. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2001. Einen motivgeschichtlichen Ansatz verfolgt die jüngst erschienene Materialsammlung von Eckart Kröplin: Richard Wagner. Musik aus Licht. Synästhesien von der Romantik bis zur Moderne. Eine Dokumentardarstellung, Würzburg 2011.    zurück
Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten Dieter Borchmeyers, Hans Rudolf Vagets und Eckhard Heftrichs. Vgl. Dieter Borchmeyer: »Ein Dreigestirn ewig verbundener Geister«. Wagner, Nietzsche, Thomas Mann und das Konzept einer übernationalen Kultur. In: Heinz Gockel, Michael Neumann, Ruprecht Wimmer (Hg.): Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1993 S. 1–15; Ders.: Richard Wagners und Thomas Manns mythische Parallelaktionen: »Der Ring des Nibelungen und Joseph und seine Brüder«. In: Silvio Vietta, Herbert Uerlings (Hg.): Moderne und Mythos. München: Wilhelm Fink 2006, S. 103–114. Hans Rudolf Vaget hat seine Beschäftigung zum Thema zusammengefasst in Hans Rudolf Vaget (Hg.): Im Schatten Wagners. Thomas Mann über Richard Wagner. Texte und Zeugnisse 1895–1955, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Fischer 2005 [1999], S. 301–335. Auf die Verbindungslinien zwischen Wagner und Thomas Mann weist ebenfalls hin: Eckhard Heftrich: Geträumte Taten. Joseph und seine Brüder. Über Thomas Mann. Bd. 3. Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1993. Dass das Interesse an dieser Fragestellung immer noch aktuell ist, bezeugt Holger Pils, Christina Ulrich (Hg.): Liebe ohne Glauben. Thomas Mann und Richard Wagner. Göttingen: Wallstein 2011.   zurück
Franz Wilhelm Beidler: Cosima Wagner-Liszt. Der Weg zum Wagner-Mythos. Ausgewählte Schriften des ersten Wagner-Enkels und sein unveröffentlichter Briefwechsel mit Thomas Mann. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Dieter Borchmeyer. Bielefeld: Pendragon 1997.    zurück
Theodor W. Adorno: »Versuch über Wagner«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970 ff., Bd. 13, S. 7–148.   zurück
Hans Mayer: Richard Wagner. Hg. von Wolfgang Hofer, 2. Aufl., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998.   zurück
Vgl. neben F.W. Beidler: Cosima Wagner-Liszt (wie Anm. 3) die folgenden Darstellungen: Gottfried Wagner: Wer nicht mit dem Wolf heult. Autobiographische Aufzeichnungen eines Wagner-Urenkels. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997; Brigitte Hamann: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth. München: Piper 2002; Oliver Hilmes: Herrin des Hügels. München: Siedler 2007. Zu Bayreuth außerdem: Nike Wagner: Wagner-Theater. Frankfurt/M.: Insel 1998 sowie Wolfgang Storch (Hg.): Der Raum Bayreuth. Ein Auftrag aus der Zukunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.    zurück
Udo Bermbach: »Blühendes Leid«. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen. Stuttgart: Metzler 2003; Ders.: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie. 2. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler 2004 [1994].   zurück
Carl Friedrich Glasenapp: Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1905–1911.   zurück
Houston Stewart Chamberlain: Richard Wagner. München 1896.    zurück
10 
Hartmut Zelinsky: Richard Wagner. Ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876–1976. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1976.   zurück
11 
Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, 16 Bde, Leipzig o. J. [1911], Bd. III, S. 5.    zurück
12 
Ebd., Bd. III, S. 48.    zurück
13 
Zit. nach Bermbach: Richard Wagner in Deutschland, S. 168 f. und S. 173. Die Originalzitate finden sich in Hermann Seeliger: »Der deutsche Seher. Die nationalsozialistische Idee bei Richard Wagner.« In: Bayreuther Blätter 1934, S. 127–161.   zurück
14 
Daniela Kraus: Bernhard und Elisabeth Försters Nueva Germania in Paraguay. Eine antisemitische Utopie. Wien 1999 [ungedruckte Dissertation].   zurück
15 
Dieter Borchmeyer: »Wagner-Literatur – Eine deutsche Misere. Neue Ansichten zum ›Fall Wagner‹«. In: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur, 3. Sonderheft, Forschungsreferate, 2. Folge, 1993, S. 1–62.   zurück
16 
Hartmut Zelinsky: Richard Wagner (wie Anm. 10); Joachim Köhler: Wagners Hitler. Der Prophet und sein Vollstrecker. München: Siedler 1997.   zurück
17 
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 78.   zurück
18 
Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik. Frankfurt/M.: Fischer 2006, bes. S. 323–357.   zurück
19 
Heinrich Mann: Der Untertan, Studienausgabe in Einzelbänden, hrsg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt/M.: 1991, S. 347.   zurück
20 
Brief an Theodor W. Adorno, 30. Dezember 1945. In: Theodor W. Adorno – Thomas Mann. Briefwechsel 1943–1955. Hrsg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt/M.: 2003, S. 21.   zurück
21 
Vgl. u.a. Hans Rudolf Vaget: Seelenzauber (wie Anm. 18); Johannes Odendahl: Literarisches Musizieren. Wege des Transfers von Musik in die Literatur bei Thomas Mann. Bielefeld: Aisthesis 2008.    zurück
22 
Simone Seider: Richard Wagner im Sanatorium und im alten Orient. Thomas Manns Wagner-Sicht im »Zauberberg« und in »Joseph und seine Brüder«. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2003; Dieter Borchmeyer: Richard Wagners und Thomas Manns mythische Parallelaktionen (wie Anm. 2); Eckhard Heftrich: Geträumte Taten (wie Anm. 2).    zurück
23 
Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee, Dichtung, Wirkung. Stuttgart: Reclam 1982; Ders.: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen. Frankfurt/M., Leipzig: Insel 2002; Reinhold Brinkmann: »Szenische Epik. Marginalien zu Wagners Dramenkonzeption im ›Ring des Nibelungen‹«. In: Carl Dahlhaus (Hg.): Richard Wagner – Werk und Wirkung. Regensburg: Gustav Bosse 1971, S. 85–96. Carl Dahlhaus: Wagners Konzeption des musikalischen Dramas. München u.a.: dtv/Bärenreiter 1990.   zurück
24 
Christian Thorau: Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners. Stuttgart: Steiner 2003.    zurück
25 
Die These, dass der Ring auf Dualismen beruhe, die sich in einer höheren Form der Liebe auflösten, hatte bereits Hans von Wolzogen 1876, also im Jahr der Uraufführung entwickelt. Vgl. hierzu Udo Bermbach: Richard Wagner in Deutschland. S. 376 f. Sie wird seither in fast jeder Interpretation, die sich an mythischen Denkschemata orientiert, wiederholt. Die Bewußtwerdung Brünnhildes ist bereits dargestellt bei Ulrike Kienzle: …daß wissend würde die Welt! Religion und Philosophie in Richard Wagners Musikdramen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 130–152. Kienzles Buch wird von Kirschbaum nicht einmal im Literaturverzeichnis erwähnt.    zurück