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Historische Selbstzeugnisforschung

  • Birgit E. Klein / Rotraud Ries (Hg.): Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente frühneuzeitlicher Juden in Aschkenas. Beispiele, Methoden und Konzepte. (Minima judaica 10) Berlin: Metropol 2011. III, 359 S. Kartoniert. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 3863310187.
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Zur Anlage des Bandes

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Der im Folgenden anzuzeigende Band geht auf eine Tagung zurück, die im Februar 2003 in Mülheim an der Ruhr zum Thema »Perspektivenwechsel: Ego-Dokumente, Selbst- und Fremddarstellungen frühneuzeitlicher Juden« stattfand. Ergänzt wird dieser Sammelband, der bei weitem nicht alle Tagungsbeiträge enthält, durch thematisch passende Texte, die aber nicht im Zusammenhang mit dieser Konferenz entstanden sind.

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Die Tagung wurde ausgerichtet vom interdisziplinären Forum »Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit« und thematisiert den Tagungsgegenstand als historische Quelle, indem sie seine verschiedenen Ausprägungen beleuchtet. 1 Behandelt wurden auf der Tagung Autobiographie, Reisebericht, Testament, Inventar, Schriftwechsel mit städtischen Behörden, Supplikationen, Gerichtsakten und Grabinschriften sowie eine Beobachtung zur Literalität von Juden in der frühen Neuzeit.

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Die Tagung schloss direkt an ältere Überlegungen innerhalb der Geschichtswissenschaft zum Themenkomplex der »Ego-Dokumente« an 2 und »stellte sich der Aufgabe zu untersuchen, inwiefern die Methoden, welche die Frühneuzeitforschung entwickelt hat, für die Erforschung der jüdischen Geschichte und Kultur fruchtbar gemacht werden können und wo der Übertragbarkeit Grenzen gesetzt sind.« 3

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Dieses Unterfangen spiegelt sich in dem vorliegenden Sammelband leider nicht in ausreichendem Maße wieder, der in seinem Klappentext auch noch verheißt:

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Lange dienten vormoderne Selbstzeugnisse von Juden allenfalls als Quellen für positivistische Narrative, nur zögernd setzte eine Neubewertung der Quellengattung ein. Der vorliegende Band, der auf eine Tagung des interdisziplinären Forums »Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit« in Düsseldorf zurückgeht, weitet den Blick. Er widmet sich Quellen, die Juden selbst schrieben, die deren mündliche Aussagen verschriftlichten oder das Urteil der Nachlebenden als Fremdbeschreibung festhielten. Konkret werden vorgestellt: Testamente, autobiografische Texte, Briefe, Aussagen vor Gericht, Supplikationen und Grabinschriften. Damit betritt der Band in methodischer und konzeptioneller Hinsicht Neuland.
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Tatsächlich sind die meisten Beiträge solide Arbeiten, die sich dem jeweiligen Gegenstand mit dem geläufigen methodischen Rüstzeug des Historikers nähern, aber nur in ganz wenigen Ausnahmefällen daraus Rückschlüsse auf die Problematik der Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente als historische Quelle ziehen. Dies mag natürlich damit zu tun haben, dass solche Studien auf Vergleichsmaterial angewiesen sind, etwa um durch einen Vergleich zwischen verschiedenen Quellengattungen einer historischen Person zum selben Gegenstand oder durch eine Serie von autobiographischen Quellen Rückschlüsse etwa auf dahinterliegende Subjekt- oder Identitätskonstruktionen zu ermöglichen.

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Zur Fragestellung des Bandes

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Diesen Fragenkomplex konturiert Gabriele Jancke in ihrer Einleitung zum Band unter dem Titel Jüdische Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente der Frühen Neuzeit in Aschkenas. Jancke stellt hier die zentralen Fragen, die sich anhand einzelner Gattungsbeispiele illustrieren ließen. Gleich zu Beginn stellt sie fest, dass die »von modernen Vorstellungen geprägten Konzepte von ›Individualität‹, ›Selbst‹ oder ›Subjekt‹ problematisch« (S. 9) sind, wenn man sie auf vormoderne Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente anwendet und stellt stattdessen die »Frage nach den in den Texten formulierten Personenkonzepten« (S. 10): »Durch einen vergleichenden Bezug auf Rousseau und Goethe konnte und kann man diesen Texten nicht gerecht werden« (S. 11). Sie konstatiert daher für die »historische Selbstzeugnisforschung« (S. 11) eine Abkehr von den »klassischen literarischen Gattungsbegriffe[n] der Autobiographie und der Memoiren« (S. 11), die »stattdessen thematisch-inhaltliche Interessen in den Vordergrund« (S. 11) stellt.

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Damit baut sie eine nahezu unüberbrückbar erscheinende Distanz zwischen historischer und literaturwissenschaftlicher Selbstzeugnisforschung auf, die die literaturwissenschaftliche Selbstzeugnisforschung auf Autobiographieforschung reduziert und dabei völlig negiert, dass sich die Literaturwissenschaft mit ihren Methoden eben auch Brief, Reisebericht und andere Gattungen erforscht hat. Mit ihrem genuinen Erkenntnisinteresse hat die Literaturwissenschaft erst den Blick geöffnet für die Konstruktionsbedingungen von Selbstzeugnissen und damit gezeigt, dass sich aus ihnen nicht nur historische Fakten destillieren lassen, sondern dass die Faktizität dieser ›nichtfiktionalen‹ Gattungen häufig eben stark an formalen Mustern orientiert ist. Diese müssen zunächst dekonstruiert werden, um daraus geschichtswissenschaftlich verwertbare Aussagen zu destillieren.

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Jancke ist sich dessen natürlich bewusst und versucht deshalb doch der Interdisziplinarität eine Brücke zu bauen:

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Mit dem Ablegen der modernen literaturwissenschaftlichen Formeln ›Autobiographie‹ und ›Memoiren‹ muss also keineswegs eine Blindheit gegenüber literarischen Strategien und Techniken einhergehen. Ganz im Gegenteil entwickelt die Selbstzeugnisforschung zunehmend und über die Fächergrenzen hinweg eine große Aufmerksamkeit für Fragen der autobiographischen Textsorte, der Schreibsituation, Schreibmuster und Schreibstrategien, für die Narrativität und Intertextualität dieser Schriften.[…] Intensiver interdisziplinärer Austausch zwischen literatur- und geschichtswissenschaftlich arbeitenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wird hierzu auch in Zukunft sehr notwendig sein. (S. 19)
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Angesichts dieser Erkenntnis fragt man sich natürlich, warum an dieser von einem »interdisziplinären Forum« ausgerichteten Tagung ausschließlich HistorikerInnen vorgetragen haben und ausschließlich geschichtswissenschaftliche Erkenntnisinteressen verfolgt werden.

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Jancke sieht als »zentrales Ergebnis« (S. 14) der historischen Selbstzeugnisforschung an, dass sich in ihr vor allem eine »Geschichte der Sozialität« (S. 15) und weniger eine – von der Autobiographieforschung überwiegend behaupteten –»Geschichte der Individualisierung« (S. 15) destillieren lässt, weil sich in den Selbstzeugnissen »Zugehörigkeit« (S. 15) und »Gruppenkulturen« (S. 15) spiegeln. Dies ist sicherlich nicht falsch, aber noch kein Gegensatz zur Autobiographie, vor allem nicht zur jüdischen Autobiographie, in der sich die Thematisierung von ›Zugehörigkeiten‹ und ›Gruppenkulturen‹ häufig wiederfinden lassen – wie auch die Autobiographieforschung inzwischen thematisiert hat. 4

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Zu einzelnen Beiträgen

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Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes realisieren die in der Einleitung aufgeworfenen Fragestellungen in unterschiedlichem Ausmaß. Neben routinierten Griffen in den gelehrten Zettelkasten des Historikers, der seine Quellenbelege zum Thema »Juden und jüdisches Leben im Spiegel christlicher Reisebericht« (Wolfgang Treue) ausschüttet und resümierend feststellt, dass diese »gründliche[n] und genau beobachtende[n] Berichte […] eine systematische Auswertung lohnen« (S. 353), gibt es auch sorgfältig gearbeitete Untersuchungen, die aus dem vorliegenden Material wesentliche Erkenntnisse über Quellenwert und kontextuelle Bedingtheit der untersuchten Texte gewinnen.

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Zu nennen ist hier etwa der Beitrag der Judaistin Rotraud Ries, die das Würzburger »Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken« leitet. In ihrem umfangreichen Beitrag über »Sachkultur als Zeugnis des Selbst. Person und kulturelle Orientierung des Kammeragenten Alexander David (1687–1765) in Braunschweig« untersucht sie sowohl die dingliche Hinterlassenschaft Davids wie sie sich in den nach seinem Tod angefertigten Inventar manifestiert als auch die Testamente und die darin zum Ausdruck kommende Selbstwahrnehmung des Kammeragenten. Aus diesem Tableau ergibt sich das vielschichtige Persönlichkeitsbild eines Menschen der frühen Neuzeit, der zwischen seiner jüdischen Herkunft und Identität einerseits und seinen christlich und großbürgerlich geprägten Geschäftsumfeld andererseits agiert und quasi nebenbei noch die jüdische Gemeinde in Braunschweig etabliert:

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Er war in hohem Maße Pionier und Einzelkämpfer und hat sich in dem gegebenen Rahmen in der Führung seines Lebens, in seinen Sozialkontakten, in seiner kulturellen Orientierung wie auch in der Gestaltung seines Testaments nach allen Seiten hin, zur jüdischen wie zur christlichen, in einer individualistischen und pluralistischen Art und Weise orientiert. (S. 100).
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Die Lebenszeugnisse Davids sind – Ries zufolge – aber nicht nur Resultat sondern gleichzeitig auch Ausdruck performativen Handelns, weil »die Selbstzeugnisse vielfach dazu dienen, sich in solche Strukturen einzubinden« (S. 101). In seinem Testament verfügt er sowohl jüdische als auch christliche memoriae, um seine Zugehörigkeit zu beiden Kulturen zu zeigen. In seinem Leben bzw. dessen materiellen Hinterlassenschaften wie sie sich in dem Inventar belegen lassen, finden sich Hinweise auf diese doppelte Zugehörigkeit, weil sich sowohl Gegenstände als auch Handlungen nachweisen lassen, die seine aktive Zugehörigkeit zur jüdischen Minderheit als auch zur christlichen Mehrheitsgesellschaft herstellen. Dazu zählen z.B. seine Stiftungen zu Lebzeiten für die eigene Braunschweiger Synagoge als auch für die in seiner Geburtstadt Halberstadt sowie Stiftungen an die christliche St. Martini-Kirche in Braunschweig. Mit diesen Handlungen konstituiert David die sozialen Zugehörigkeiten zu den bedachten Gruppen, und die materiellen Hinterlassenschaften sind sichtbarer Ausdruck dieser Zugehörigkeiten.

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Die Berliner Doktorandin Doreen Levermann (Freie Universität) widmet sich in ihrem Beitrag »Supplizieren jüdischer Untertanen in Preußen. Auf der Grenze zwischen Selbst- und Fremddarstellung (1648–1812)« einer bislang vernachlässigten Gattung. Bittschriften »zählten lange Jahre nicht zum Kanon der erforschungswürdigen Quellen: Das Spektrum […] schien offenbar zu gewöhnlich, Konflikte und Themen zu alltäglich sowie ihre Gestaltung zu stereotyp« (S. 185). Levermann dagegen sieht in ihnen vorwiegend »Produkte eines Kommunikationsprozesses« (S. 190), aus denen sich daher sehr wohl »Aussagen über intentionale Handlungen und aktive Entscheidungen historischer Menschen und somit auch über bewusst gewählte Selbstdarstellungen« (S. 190) destillieren lassen. Dies lässt sich am ehesten über eine vergleichende Untersuchung verschiedener Supplikationen unterschiedlicher Bittsteller, aber auch über einen Vergleich verschiedener Supplikationen eines einzelnen Bittstellers, erreichen. Besonders im letzten Fall lassen sich durchaus unterschiedliche, kontextabhängige Selbstdarstellungen einer einzigen Person erkennen, die ein sehr starkes Indiz für das Selbstbewusstsein und die Reflexivität der handelnden Subjekte sind.

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Fazit

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Der Band, der an die historische Selbstzeugnisforschung anknüpft und seinen Schwerpunkt auf jüdische Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente legt, bietet einen durchaus gelungenen Einblick in aktuelle Projekte und Forschungsvorhaben. Gattungsgeschichtlich relevante neue Erkenntnisse lassen sich aus der Summe der Einzeluntersuchungen jedoch nicht ableiten. Dazu ist die Heterogenität des untersuchten Materials zu groß. Erkennen lässt sich aus den einzelnen Beiträgen aber doch, dass eine stärker literaturwissenschaftlich orientierte Herangehensweise der Geschichtswissenschaft neue Impulse verleihen könnte, weil sich auf diese Weise das Bewusstsein für die formale Bedingtheit des Quellenwerts wecken ließe. Trotz entsprechender Anregungen in der Einleitung des Bandes unterbleibt eine solche Reflexion der gattungstypischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Beiträgen weitgehend.

 
 

Anmerkungen

Vgl. den Tagungsbericht von Birgit Klein unter der URL http://www.forum-juedische-geschichte.de/ForumBericht03.pdf   zurück
Der Tagungsbericht nennt explizit eine Tagung von 1992, deren Ergebnisse in dem Band Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin: Akademie, 1996 zusammengefasst sind sowie an den zweiten Band der online-Zeitschrift zeitenblicke (URL: http://www.zeitenblicke.de/2002/02/index.html), der sich den Ich-Konstruktionen der Frühen Neuzeit widmet.   zurück
Birgit Klein (vgl. Fußnote 1), S. 2.   zurück
Ich weise an dieser Stelle – wenn auch ungern – auf meine eigene Dissertation hin, die freilich erst 2009 erschienen ist und das kollektive Element der jüdischen Autobiographie zumindest im 20. Jahrhundert behauptet. Wolfgang Emmerich hat in seiner bereits 1974/75 herausgegebenen Anthologie Proletarische Lebensläufe die Dominanz des Kollektiven in den Arbeiterautobiographien des 19. Jahrhunderts festgestellt. – Vgl. Wolfgang Emmerich (Hrsg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. (Das neue Buch 50). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1974/75 (2 Bde.) und Markus Malo: Behauptete Subjektivität. Eine Skizze zur deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert (Conditio Iudaica 74). Tübingen : Niemeyer, 2009. – Beide Arbeiten zielen darauf ab, dass die Gruppenidentität deshalb so dominant thematisiert wird, weil die jeweilige bürgerliche »Leitkultur« sowohl die Arbeiter als auch die Juden ausgegrenzt hat und deshalb eine eigene Gruppenidentität gegen die Leitkultur gefunden werden musste.   zurück