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Vormoderne Hermeneutik.

Ein neuer Versuch über Thomas Bernhard und die Musik.

  • Axel Diller: »Ein literarischer Komponist?«. Musikalische Strukturen in der späten Prosa Thomas Bernhards. (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 165) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011. 404 S. Gebunden. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 978-3-8253-5867-9.
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Es gibt ein kurzes, aber sehenswertes Interview mit Thomas Bernhard aus dem Jahr 1984: Ein holländischer Fernsehreporter wartet vor Bernhards Vierkanthof in Ohlsdorf. Als der Schriftsteller schließlich mit seinem Auto vorfährt, versucht der junge Mann, ihn zu einem Gespräch zu überreden. Bernhard schüttelt den Kopf, geht in seinen Hof und will das Tor hinter sich schließen. Auf die Fragen des Reportes gibt Bernhard mit süffisantem Lächeln zurück: »Ich kann alle Fragen nur mit Vielleicht beantworten« und verschwindet schließlich in seinem Anwesen. Umso überraschender ist, dass er sich nach einiger Zeit doch noch herauswagt, um mit dem Reporter zu reden. Doch beantwortet er dessen Fragen derart ironisch, dass seinem Gegenüber schnell die Sinnlosigkeit seines Unterfangens deutlich wird. Die zunehmende Verunsicherung seines Gesprächspartners kommentiert Bernhard lakonisch: »Es wäre für den, der fragt, natürlich sehr interessant, dass er 10 Schilling hineinwirft und um 1 Million kommt unten etwas heraus. Bei mir ist es eher so, dass man oben 100 Schilling hineinwirft und 50 Groschen kommen dann unten heraus.« Aber auch der Fernsehreporter muss einräumen: »Die Schwierigkeit ist, dass ich eigentlich überhaupt keine Fragen habe«. 1

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Die Rolle des jungen Fernsehreporters spielt in der Bernhard-Forschung der musikologisch gebildete Literaturwissenschaftler. Geduldig harrt er vor Bernhards Werk aus und versucht, diesem seine Geheimnisse zu entlocken, indem er immer dieselben Fragen stellt: »Ist Der Untergeher nach dem Vorbild der Goldbergvariationen aufgebaut? Oder folgt er der Kunst der Fuge?« Doch das Werk antwortet immer nur: »Vielleicht«. So viele Mühen der Forscher auch aufwendet, so viele Schillinge er oben auch hineinwirft, es fallen unten nur ein paar Groschen Erkenntnis heraus. Was bisher allerdings noch nicht zu der Einsicht geführt hast, dass das magere Ergebnis vielleicht weniger mit der Rätselhaftigkeit des Werkes als mit der Art der Fragestellung zu tun haben könnte.

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Thomas Bernhard und die Musik

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Die jüngste Studie zum Thema »Bernhard und die Musik« hat der Germanist Axel Diller vorgelegt. Seine Siegener Dissertation hat sich zum Ziel gesetzt, die »Unzulänglichkeiten« der bisherigen Forschung auszugleichen. Zu Recht betont Diller, dass zu viele Beiträge zu diesem Thema »ein fundiertes musiktheoretisches Wissen vermissen« ließen. Begriffe wie »Fuge«, »Kontrapunkt« und »Variation« würden nur sehr ungenau angewandt, für Analogien von Text und Musik würden »konkrete und anschauliche Belege« fehlen, etwa in Form von »unmittelbaren Gegenüberstellungen von Textabschnitten und Partiturauszügen« (S. 12).

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Es zeugt durchaus von Mut, sich diesem Thema noch einmal zu stellen, schließlich ist es bereits in zahlreichen Arbeiten behandelt worden. Dies hat sicher damit zu tun, dass Bernhard selbst immer wieder die Musikalität seiner Texte betont hat: »Ja, was ich schreibe, kann man nur verstehen, wenn man sich klarmacht, daß zuallererst die musikalische Komponente zählt und daß erst an zweiter Stelle das kommt, was ich erzähle.« 2 Neben zahlreichen Aufsätzen liegen bereits drei Monographien vor, die sich ausschließlich dem Verhältnis von Bernhards Texten zur Musik widmen. Neben der musikphilosophisch ausgerichteten Studie von Gudrun Kuhn 3 sind dies die Arbeiten von Liesbeth Bloemsaat-Voerknecht 4 und Barbara Diederichs. 5 Letztere setzen sich genau wie Diller mit der Frage auseinander, ob sich in Bernhards Prosa musikalische Formen und Strukturen nachweisen lassen. Von all diesen Autoren grenzt sich Diller ab: Anders als Diederichs arbeitet er nicht mit computerphilologischen Methoden und sieht die Verwendung musikalischer Großformen in Bernhards Werk nur eingeschränkt verwirklicht. Anders als Bloemsaat-Voerknecht vergleicht er nicht den Inhalt einzelner Textstellen mit musikalischen Formen, sondern deren Struktur. Und anders als Kuhn hält Diller konkrete Vergleiche mit musikalischen Strukturen nicht für unergiebig, sondern gelangt in seiner Arbeit zu einem relativierenden Ergebnis: »Es wäre ebenso vermessen, zu meinen, Musikanalogien in Bernhard-Texten ohne Zweifel exakt benennen zu können, wie deren Existenz völlig zu leugnen.« (S. 79)

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Inhalt und Aufbau der Arbeit

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In der Einleitung seiner Arbeit legt Diller die Grundzüge der bisherigen Forschung dar und grenzt davon seine eigene Vorgehensweise ab. So schlüssig seine Darstellung ist, so fragwürdig ist doch seine Festlegung auf die »späte Prosa« Bernhards. Er zählt dazu Beton (1982), Wittgensteins Neffe (1982), Der Untergeher (1983), Holzfällen (1984), Alte Meister (1985) und Auslöschung (1986). Seine Auswahl begründet er damit, dass die Musik in allen diesen Texten eine große Rolle spiele. Dies ist richtig, aber bereits der im Jahr 1970 erschienene Roman Das Kalkwerk rückt die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der akustischen Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Ebenso wie Der Untergeher evoziert dieser Text zu Beginn das Motiv des Klavierspiels. Solche Parallelen entgehen Diller, weil er das Thema Musik allein in den späten Werken Bernhards verortet.

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Es folgt ein über 40 Seiten starker Forschungsbericht zu Thomas Bernhard im Allgemeinen und zur Musik in Bernhards Werk im Besonderen. Auch die wichtigsten Arbeiten im allgemeinen Forschungsgebiet »Literatur und Musik« werden von Diller dargestellt. Allerdings hinterlässt dieser Bericht eher den Eindruck einer fleißigen Sammelarbeit, der Autor hätte hier die Tendenzen der Forschung besser systematisieren und auf seine eigene Arbeit fokussieren können. Dagegen ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass Diller, bevor er sich an die Analyse der Texte und Musikstücke macht, auf 50 Seiten »Zentrale Aspekte der komparatistischen Betrachtung von Prosatexten und Musik« reflektiert. Dazu zählt auch eine kurze Darstellung der Intermedialitätsforschung, wobei zu bedauern ist, dass Diller sich im Wesentlichen auf einen Lexikon-Beitrag von Werner Wolf 6 stützt, ohne die ebenfalls grundlegenden Arbeiten von Irina Rajewsky und Uwe Wirth 7 auch nur zu erwähnen.

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In diesem Theorie-Teil seiner Arbeit geht es Diller vor allem darum, jene Eigenschaften von Literatur und Musik aufzuzählen, die einen Vergleich zwischen beiden Kunstgattungen erlauben. Auf semiotischer Ebene zählt er dazu die Tatsache, dass in beiden Zeichensystemen abstrakte Symbole verwendet würden, die »für etwas anderes« stehen (S. 110). Darüber hinaus bedürften sowohl die Literatur als auch die Musik einer Realisierung entweder im Gehirn des Lesers oder in der konkreten Aufführung und drittens teilten sie in ihrer Notation den Links-Rechts-Verlauf (zumindest im abendländischen Kulturkreis). Dieser sehr allgemein gehaltene Vergleich hätte freilich noch differenziert werden können. Aber Dillers Anspruch ist es nicht, vorhandene semiotische Theorien zu erweitern, er will vielmehr den von ihm vorgenommen Vergleich literarischer und musikalischer Codes als wissenschaftlich fundiert darstellen.

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Er widmet sich sodann den Möglichkeiten der Analogiebildung zwischen Musik und Literatur und begründet, warum er eine strukturanalytische Herangehensweise für sinnvoll hält (s.u.). In diesem Zusammenhang geht er auch der Frage nach, inwieweit das Phänomen der Wiederholung als »Form-Generator« (S. 114) oder der Rhythmus eines literarischen Werkes Rückschlüsse auf dessen Musikalität erlauben. Dabei betont er, »dass die wiederholte Benutzung silbengleicher Wörter und Wortgruppen rhythmische Strukturen generiert« (S. 122), und versucht dies mit detaillierten Textbeispielen zu belegen, deren klangliche Realisierung er in Oszillogrammen präsentiert.

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Im folgenden Hauptteil der Arbeit, den »Einzelanalysen«, widmet sich Diller vor allem dem Roman Der Untergeher und geht kurz auf Alte Meister und andere Werke des späten Bernhard ein. Er untersucht, »ob Bernhards späte Prosawerke auf formaler, sprachlicher und inhaltlicher Ebene Strukturen enthalten, die als genuin ›musikalisch‹ bezeichnet werden können.« (S. 14) Es geht also um die im Titel der Arbeit formulierte Frage, ob Thomas Bernhard ein »literarischer Komponist« war.

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Ergebnisse

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Das hervorstechende Forschungsergebnis der Arbeit (das in schematischer Darstellung das Titelbild ziert), ist schnell referiert: Wie Diller bereits in seiner Einleitung anhand einer exemplarischen »Darstellung der Methode« zeigen will, folgen sowohl der Beginn von Bachs Goldbergvariationen als auch der Beginn des Untergehers dem selben Strukturprinzip. Die ersten vier Sätze von Bernhards Roman sind, durch Kommata getrennt, jeweils in vier Einheiten gegliedert. Diesen 4x4-Beginn sieht Diller nicht nur in den ersten 16 Takten der Goldbergvariationen, sondern auch am Beginn von vielen vierstimmigen Fugen (vgl. S. 162 ff.) am Werk. Am Ende des Untergehers wird die 4x4-Stuktur Diller zufolge abermals wiederholt (S. 277). Es wundert deshalb nicht, dass der Autor dieses Verfahren auch an anderen Prosawerken probiert: So setzt er die ersten Sätze von Alte Meister in Bezug zum Beginn von Beethovens Sturm-Sonate (S. 290 f.), die genau wie die Goldbergvariationen im Text explizit genannt wird.

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Diese Strukturanalogien versucht Diller mit weiteren Belegen zu stützen: Die Tonrepetition G-G, die die Goldbergvariationen eröffne, finde sich auch im ersten Satz von Der Untergeher: »Auch Glenn Gould, unser Freund […]« 8 . Darüber hinaus erkennt er in der von Bernhard gern verwendeten Technik der quantitativen Steigerung von Wortgruppen (z.B. Musiklehrer, Musikschüler, Musikmenschen, Musikakademien, Musikuniversitäten) »ein typisches Formungsprinzip der Musik der Klassik« (S. 206): Schon Mozart kombiniere einen Themenstamm mit variablen und immer komplexer werdenden Elementen. Und natürlich kommt auch der Kontrapunkt nicht zu kurz. Wie Diller festhält, stellt Bernhard in Der Untergeher »den Charakter und das Verhalten seiner Figuren« immer wieder kontrastierend gegenüber und positioniere sie damit »wie die Stimmen in einem polyphonen Musikstück, also letztlich durchaus kontrapunktisch« (S. 245). Musikalische Großformen hält er dagegen ebenso wie Bloemsaat-Voerknecht nur für bedingt nachweisbar, sieht aber durchaus »Anspielungen« (S. 201) auf Variationszyklus und Fuge. Ebenfalls an die Arbeit von Bloemsaat-Voerknecht angelehnt sind die Bezüge, die Diller zwischen der inhaltlichen Themenentwicklung zu Beginn des Untergehers und den Goldbergvariationen herstellt (S. 157 ff.).

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Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Diller diese Ergebnisse seiner Einzelanalysen literaturgeschichtlich einordnet (S. 327 ff.). Er vergleicht die Musikalität von Bernhards später Prosa in einer knappen Darstellung mit Werken von Albert Emil Brachvogel, Felix Huch, Luise Georg Bachmann, Robert Schneider, Peter Härtling und Thomas Mann. Problematisch erscheint allerdings, dass er behauptet, diese Werke arbeiteten in erster Linie mit »Musikbeschreibungen«, und Bernhards Ansatz davon abgrenzt. Die Musikbezüge lägen bei Bernhard »im Verborgenen« und seien in erster Linie »auf der formalen Ebene« zu finden (S. 344). So suggeriert Diller, dass Bernhard der einzige Autor sei, dessen Prosa eine Musikalität erzeugt, die über die inhaltliche Darstellung von Musik hinausgeht.

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Kritik

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Der Begriff der »Struktur« bzw. der »strukturellen Beschaffenheit« (S. 15) steht im Zentrum von Dillers Methode. In seiner Darstellung des Zusammenhangs von Struktur, Form und Inhalt kommt Diller zu dem Schluss, dass die Struktur und der Inhalt eines Textes in Analogie zur Struktur und zur Inhalt von Musik stehen kann (S. 113 f.). Positiv ist, dass Diller das Unterfangen eines solchen Strukturvergleichs mit Vorsicht angeht. Er ist sich bewusst, dass die Übertragung von musikalischen und literarischen Strukturen aufgrund der Unterschiede »nur bis zu einem gewissen Grad möglich ist« (S. 108) – allerdings ohne diesen Grad anzugeben. Auch weiß er, dass Begriffe wie »Motiv«, »Satz«, »Phrase« und »Sequenz« in der Literatur- und Musikwissenschaft unterschiedliche Bedeutungen haben (S. 109) – wie überhaupt Dillers Kenntnisse musikologischer Termini durchweg überzeugen.

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Dennoch reflektiert er den Begriff der Struktur nicht ausreichend. Seine Definition bleibt schwammig:

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»Der Begriff ,strukturalistisch‘ ist dabei in erster Linie im reinen Wortsinn (,an Strukturen orientiert‘) und unabhängig von philologischen Definitionen zu verstehen […]. Das Suchen nach augenscheinlichen Strukturen bildet – abseits von hermeneutischen Spekulationen – das argumentative Fundament der Ausführungen.« (S. 22 f.)
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Was unter »augenscheinlichen Strukturen« zu verstehen ist und unter welchen Erkenntnisbedingungen und –grenzen diese stehen, verrät der Autor allerdings nicht. Ärgerlich wird eine solche Herangehensweise dann, wenn die Wörter »Hermeneutik« und »Spekulation« meist im Paar auftauchen und Diller suggeriert, bei seinem eigenen Ansatz handele es sich um eine besonders avancierte Form der Textinterpretation:

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»Viele der Publikationen verfolgen jedoch – wenn nicht antiquierte so doch meist – konventionelle hermeneutische Strategien und weisen oft nur wenige strukturanalytische Überlegungen auf.« (S. 61)
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Die Analysen, die Diller präsentiert, arbeiten vorzugsweise mit einer Analyse der syntaktischen Strukturen von Sätzen. Während der literaturwissenschaftliche Strukturalismus (den Diller explizit verwirft) sich seiner eigenen semiotischen Grundlagen bewusst war, tut Diller so, als ließe sich die Zeichenhaftigkeit und Verweisstruktur von Texten einfach ausblenden. Die wiederholte Beschwörung einer »nahen Arbeit am Text« (S. 24) und einer ausschließlichen Konzentration auf die »Beschaffenheit« von Texten (S. 61) soll die eigene Vorgehensweise immunisieren und nicht zuletzt die zahlreichen Vorannahmen verdecken, ohne die Dillers Analysen nicht funktionieren würden. So etwa die These, dass die Kommata bei Bernhard eine »rhythmische Gliederung« erlauben (S. 35) – obwohl hier offensichtlich keine periodisch gleichmäßige, taktmäßige Gliederung wie bei Bach vorliegt, sondern eine unregelmäßige: Die Kommata trennen eine ungleiche Zahl von Wörtern und Silben.

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Schwerer wiegt jedoch die vage Verwendung des Analogie-Begriffs, auf den Diller immer wieder rekurriert (z.B. S. 24, 34), ohne dessen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zu reflektieren. Wenn er die Wiederholungen in Bernhards Texten als Beleg für deren Musikalität heranzieht, so stellt sich die Frage, ob Wiederholungen in der Literatur und Wiederholungen in der Musik nicht etwas völlig Verschiedenes sind. Der abstrakte Begriff der Wiederholung fungiert hier als tertium comparationis zwischen zwei fassbaren, aber völlig unterschiedlichen Phänomenen, deren Unterschiedlichkeit Diller aber zu selten herausstellt. Gleiches gilt für den Begriff der Themenverarbeitung in beiden Kunstgattungen (S. 185). Aus diesem Grund wundert es nicht, dass Diller einräumt, seine Überlegungen müssten »zum Teil spekulativ« bleiben (S. 71). »Aber auch unter Einbezug von Überlegungen aus dem Bereich der musikalischen Formenlehre sind (möglicherweise tatsächlich existierende) Analogien nicht wirklich ,beweisbar‘« (S. 79). Und eben weil er stets auf Analogieschlüsse zielt, ist Dillers Strukturbegriff weniger handfest als angenommen, sondern von jener hermeneutischen Spekulation durchdrungen, der er doch zu entkommen trachtete. Letztlich werden seine Strukturvergleiche und Analogiebildungen durch Metaphern zusammengehalten: Bernhards Prosastil wirke musikalisch »durch den absatzlosen, ununterbrochenen Redefluss« (S. 13), Diller spricht von einem »Melodiestrom«, es werde »ein mehrfacher ,Anlauf‘ genommen«, etc. (S. 26 f.). Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Diller Analogien als »geistige Konstrukte des Lesers« ausgibt, weshalb seine Forschungsergebnisse nicht »aufgedeckte, entschlüsselte Phänomene der ,Wirklichkeit‘«seien, sondern lediglich »Positionen kognitiver Prozesse« (S. 73).

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Es stellt sich jedoch die Frage, ob die von Diller aufgestellten Analogien wirklich die geistigen Konstrukte eines idealen Lesers sind oder nicht vielmehr die geistigen Konstrukte von Diller selbst. Dieser versucht immer wieder zu suggerieren, dass die Musik die ursprüngliche und vorhergehende Struktur sei, an der sich Bernhard orientiere. So erkennt er in dessen Texten »Dehnungs- und Umkehrungstechniken«, »die ursprünglich der musikalischen Kontrapunktik, wie sie in den Fugen der Barockmusik zu finden ist, entstammen.« (S. 84 f.) Solche Techniken gibt es aber, ebenso wie die von Diller herausgestellten Kontrast- und Steigerungsmittel, auch in der Rhetorik. Es ist partout nicht einzusehen, warum hier der Musik ein alleiniger Einfluss eingestanden werden sollte. Warum umständlich auf Kontrapunktik rekurrieren, wo doch die Antithese das literarischen Texten viel angemessenere Stilmittel ist? Warum Wertheimer als Goulds »Kontrasubjekt« bezeichnen (S. 175), wo es sich doch einfach um einen Antipoden handelt? Sicher lassen sich rhetorische und musikalische Gestaltungsmittel durch Analogieschlüsse vergleichen. Inwieweit dadurch an literaturwissenschaftlicher Erkenntnis gewonnen ist, mag jeder Leser für sich entscheiden. Fest steht, dass sich Bernhards Texte auch verstehen und rezipieren lassen, ohne auf musikalische Kompositionstechniken zurückzugreifen.

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Vormoderne Hermeneutik

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Dillers Dissertation ist damit ein Lehrbeispiel, wie positivistisch gehaltene Wissenschaftsprosa, wenn sie ihre epistemologischen Voraussetzungen nicht reflektiert, in eine vormoderne Form von Hermeneutik umschlägt. Während Diller mit Oszillogrammen, Tabellen und Schemata ,harte‘ und spekulationsferne Wissenschaftlichkeit simuliert, folgt die Methode viel eher jenem Prinzip der Suche nach Ähnlichkeiten und Analogien, die Michel Foucault als zentrale erkenntnistheoretische Maßgabe des 16. Jahrhunderts identifiziert hat. 9 Dass der Autor den »im Verborgenen« (S. 344) liegenden Code von Bernhards Texten entschlüsseln will, indem er diese Wort für Wort, Takt für Takt mit einem ähnlichen Musikstück vergleicht, ist keine avancierte Methode, sondern entstammt einem Wissenssystem, dass die Literaturwissenschaft schon seit langem hinter sich gelassen hat. Auch andere Interpretationstechniken des Autors verweisen auf die Vormoderne. Die Rede ist nicht nur vom Auffinden von Geheimcodes (z.B. ›G. G.‹), sondern auch von dem Bemühen, im gehäuften Auftreten bestimmter Zahlen einen versteckten Hinweis des Autors erkennen zu wollen (S. 47 f.).

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Es wäre durchaus eine eigene Untersuchung wert, warum gerade die Bernhard-Forschung nicht frei ist von jener Spielart der Wissenschaft, die Bernhard selbst in seinen Texten wie kein zweiter zu persiflieren wusste – man denke nur an Konrad, der im Kalkwerk dem Wesen des Gehörs durch die »urbantschitsche Methode« auf die Schliche kommen will. An einem Satz wie dem folgenden, der die spektakuläre Vereinigung von moderner Computerphilologie mit archaischer Zahlenmystik bezeugt, hätte Bernhard sicher seine helle Freude gehabt:

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»Auf Basis der Ergebnisse ihrer computergestützten Untersuchung des Textes (Clusteranalysen unter Einbezug der Fuzzy-Set-Theorie) kommt Diederichs allerdings doch zu dem Schluss, dass in Der Untergeher durchaus 30 zentrale ,semantische Felder‘, also 30 übergeordnete Sinnabschnitte auf der Makroebene, auszumachen seien und sogar die Einteilung – analog zu den Goldberg-Variationen – in zehn Dreiergruppen vorhanden sei« (S. 189).
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Überhaupt ist der Stil der Arbeit – wie der vieler germanistischer Dissertationen – umständlich und wackelig. Formulierungen wie »Zwar dürfte Haas zuzustimmen sein« (S. 54), »Diesbezüglich wäre zu entgegnen« (S. 74) oder »Desgleichen ist aber auch zu sagen« (S. 108) lassen Dillers Gedankenführung undeutlich werden. Und offensichtlich gilt die Maßgabe des Leitmediums Spiegel Online, dass der Bindestrich den Genitiv zu ersetzen habe, inzwischen auch in der Germanistik. Warum spräche Diller sonst von »Bernhard-Texten«? (S. 79) Oft begnügt sich der Autor mit naiven Feststellungen, die einer germanistischen Dissertation unwürdig sind: »Dennoch ist anhand der Graphik erkennbar, dass das Wort klanglich markant ist« (S. 121), »Gould war sicherlich ein komplizierter Mensch, hatte aber letztlich keinen wirklich schlechten Charakter« (S. 262). Und warum im Titel einer Arbeit über den Schriftsteller Thomas Bernhard nach einem »literarischen Komponisten« und nicht nach einem »komponierenden Literat« gefragt wird, bleibt das Geheimnis des Autors.

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Fazit

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Es steht außer Frage, dass Axel Diller über fundiertes musikwissenschaftliches Wissen und detaillierte Kenntnisse der Forschungsliteratur verfügt. Auch versucht er im Laufe der Arbeit, seine Vorgehensweise immer wieder zu differenzieren. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Arbeit ihre eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und Möglichkeiten nicht genügend reflektiert. Zudem ist der Aufwand, den der Autor betreibt, beträchtlich und durch das magere Forschungsergebnis nicht gerechtfertigt. So braucht er über 20 Seiten, um darzulegen, dass sowohl der Beginn der Goldbergvariationen als auch der Beginn des Untergehers auf einer 4x4-Struktur beruht. Die Arbeit ist langatmig und voller Redundanzen. Viele unnötige, referierende Einschübe blähen den Umfang zusätzlich auf: etwa das Porträt Glenn Goulds und die Ausführungen zur Kulturgeschichte der Goldbergvariationen.

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Auch wenn man es Diller zugute halten könnte, dass er sich bei seinem Vergleich der späten Bernhardschen Prosa auf die Analyse von Notentexten stützt: Die dadurch gewonnene Erkenntnis ist so überschaubar, dass sie auch in Aufsatzform hätte präsentiert werden können. Zwar ist Dillers Studie der bisher gründlichste und musikologisch kompetenteste Versuch, in Bernhards Texten musikalische Strukturen nachzuweisen. Aber auch sie stößt an die Grenzen, die solchen Analogiebildungen gesetzt sind. Vielleicht liegt ihr Wert deshalb gerade in ihrem Scheitern.

 
 

Anmerkungen

Das Interview ist zu sehen unter http://www.youtube.com/watch?v=VwXX8vlPHIU.   zurück
Sepp Dreissinger (Hg.): Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra: Bibliothek der Provinz 1992, S. 109.   zurück
Gudrun Kuhn: Ein philosophisch-musikalisch geschulter Sänger. Musikästhetische Überlegungen zur Prosa Thomas Bernhards. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996.   zurück
Liesbeth Bloemsaat-Voerknecht: Thomas Bernhard und die Musik. Themenkomplex mit drei Fallstudien und einem musikthematischen Register. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006.   zurück
Barbara Diederichs: Musik als Generationsprinzip von Literatur. Eine Analyse am Beispiel von Thomas Bernhard Untergeher. Diss. Gießen 1998. URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2000/301/pdf/d000103.pdf. Weitere Monographien, die sich in Unterkapiteln mit dem Nachweis von musikalischen Formen von Bernhards Prosa beschäftigen, sind: Ingrid Petrasch: Die Konstitution von Wirklichkeit in der Prosa Thomas Bernhards. Sinnbildlichkeit und groteske Überzeichnung. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1987; Gregor Hens: Thomas Bernhards Trilogie der Künste. Der Untergeher, Holzfällen, Alte Meister. Rochester/ NY u. Woodbridge/Suffolk: Camdon House/ Boydell & Brewer 1999.   zurück
Werner Wolf: Intermedialität. In: Ansgar Nünning (Hg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2004, S. 107–110.   zurück
Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen: Francke 2002; Uwe Wirth: Intermedialität. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, Bd. 1. Stuttgart: Metzler 2007, S. 254–264.   zurück
Thomas Bernhard: Der Untergeher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 7.   zurück
Michel Foucault: Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 49–58.   zurück