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„Wir waren ein liberaler Verlag der bildungsbürgerlichen Mitte.“

Strukturen und Geschichte(n) der Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags von 1960 bis 2008

  • Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 5) Berlin: Akademie 2011. IX, 497 S. 52 Abb. Gebunden. EUR (D) 99,80.
    ISBN: 978-3-05-005191-8.
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Sogar die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts hat ihre Konstanten. Eine davon ist der Ruf nach der Volkshochschule. Immer dann, wenn sich im Laufe der Medienevolution bildungsbürgerlich imprägniertes Unbehagen angesichts eines neuen, aber unvermeidlich gewordenen Mediums ausspricht, wird der Ruf nach einführenden Volkshochschulkursen zur angemessenen Nutzung dieses Mediums vernehmbar. Dies gilt auch für das Anfang der 1960er Jahre noch relativ junge Massenmedium Taschenbuch. »Ein solcher Kurs müßte auf Wertvolles und Wertloses hinweisen, müßte auf die versteckten Perlen aufmerksam machen, die von der Masse der angebotenen Titel zugedeckt werden«. So fordert etwa – wie man nun in Elisabeth Kampmanns knapp 500-seitiger, Siegener Dissertation zu den Strukturen und zur Geschichte der Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags nachlesen kann – Reinhard Hauri 1961 in seiner Denkschrift Das Taschenbuch ein Bildungsgut?. Und nicht nur von Ferne gemahnt diese Sorge an die Debatten der jüngsten Medienvergangenheit um Nutzen und Nachteil des Internets.

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Vom Beginn seiner bundesrepublikanischen Geschichte – 1950 erscheinen die ersten rororo-Taschenbücher, mit denen der Rowohlt-Verlag Produktionstechniken und Vertriebskonzepte der amerikanischen pocketbooks importiert – bis in die 1960er Jahre hinein gilt das heute selbstverständliche Massenmedium noch als »Schwundstufe des herkömmlichen Buches« (S. 76) und als Affront gegen eine »bildungsbürgerliche Gralshütermentalität« (S. 88). Die argumentationsgeschichtliche Rekonstruktion jener vergangenen, und doch bisweilen so gegenwärtigen Diskurse, in denen sich diese kulturkritische Abwehrhaltung manifestiert, ist indes lediglich eines der zahlreichen Verdienste von Kampmanns methodisch reflektierter und empirisch gesättigter Studie.

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Verlagshistoriographie als exemplarische, literatursoziologische Kanonforschung: Forschungsgegenstand, Forschungsinteresse, Quellen

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Hauptanliegen von Kampmanns Arbeit ist es, die Auswahl und Positionierung der deutschsprachigen Literatur durch den dtv zu analysieren und mit ihrer Kanonisierung in Beziehung zu setzen. Für die Wahl des Gegenstandes sprechen allein schon die bloßen Zahlen, denn die verlagsgeschichtliche Bedeutung des dtv für die massenwirksame Verbreitung von literarischen Büchern und von Sachbüchern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen: Seit seiner Gründung unter der charismatischen Ägide Heinz Friedrichs 1960 bis zum Juli 2009 verlegt der dtv über 41.000 Titel in einer Gesamtauflage von 425 Millionen. Gleichwohl geht es der Autorin nicht um eine reine Verlags- oder Verlegergeschichtsschreibung. Das Forschungsdesign von Kampmanns Studie, die im Rahmen eines mehrjährigen, von Heinz Ludwig Arnold, Hermann Korte, Claudia Stockinger und Simone Winko initiierten und organisierten Forschungsprojektes zum Thema »Wertung und Kanon« entstand, gewinnt vielmehr dadurch ihr distinktives Profil, dass sie buchwissenschaftlich relevante Aspekte, das heißt die verlagsgeschichtlichen Prozesse und die Entwicklungen auf dem Buchmarkt, mit Fragestellungen der literatursoziologischen Kanonforschung kombiniert. Es geht Kampmann also zum einen zwar durchaus um die Rekonstruktion der Verlagsgeschichte des dtv, zum anderen (und mehr noch) aber darum, die Ergebnisse einer solchen Verlagshistoriographie exemplarisch für eine verlagsbezogene Kanon- und Literaturbetriebsforschung verallgemeinerbar und fruchtbar zu machen.

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Die Studie basiert auf der unmittelbar einleuchtenden – von der bisherigen Kanonforschung aber, wie Kampmann betont, überraschender Weise kaum fruchtbar gemachten – Annahme, dass Verlage in ihrer Schnittstellenposition zwischen Kultur und Wirtschaft gewichtige Teilnehmer an Kanonisierungsprozessen sind und über die Auswahl, Reihenzuordnung und die paratextuelle Gestaltung ihrer Verlagsprodukte einen erheblichen Einfluss auf die Rezeption und die Tradierung von Literatur ausüben: Als verlagsspezifische Kanonisierungspraktiken begreift Kampmann in diesem Zusammenhang die Produktion anschlussfähiger Diskurselemente und Wertvorstellungen für die Literaturkritik, die Positionierung von Texten durch Werbung und Pressearbeit im Wahrnehmungsbereich bestimmter Multiplikatoren sowie die Markierung literarischer Produkte durch labels wie »Weltliteratur« oder »Klassiker« als kanonisch. Um die in diesem Sinne verstandenen Kanonisierungspraktiken des dtv zu rekonstruieren, analysiert die Autorin sowohl veröffentlichtes wie unveröffentlichtes Material. Als Quellen dienen ihr die Produkte des dtv, das heißt die veröffentlichten Bände, die einer gründlichen, peritextuellen Analyse unterzogen werden, das veröffentlichte Werbungs- und Dokumentationsmaterial des Verlages, Experteninterviews mit ehemaligen Verlagsmitarbeitern (die methodisch mit der angemessenen Skrupulosität behandelten), sowie schließlich unveröffentlichte Verlagsunterlagen und Korrespondenzen aus dem Nachlass Heinz Friedrichs, der den Verlag von seiner Gründung bis 1990 leitete.

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Reflektierter Synkretismus im Zeichen eines ernüchterten Kanonmodells: Theorie und Methode

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Da die Autorin sich einem reflektierten Synkretismus verpflichtet zeigt, der – mit der Zielsetzung einer möglichst aspektoffenen Gegenstandsangemessenheit – auf den einsinnigen Anschluss an eine der gängigen soziologischen Großtheorien oder Gedächtnistheorien verzichtet, erhöht sich zwangsläufig der theoretische und methodenbezogene Begründungsaufwand. Mehr als fünfzig Seiten widmet Kampmann demzufolge im einleitenden Kapitel der Begründung und der Entwicklung eines adäquaten Beschreibungsmodells.

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Auf der theoretischen Diskussionsebene geht es um die Fragen, wie Verlage als Kanonisierungsakteure und wie Kanonisierungsakte als Handlungen von Akteuren begriffen werden können. Im Anschluss an Uwe Schimanks Kritik am »mangelnde[n] Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen« (S. 41) 1 und im Rekurs auf dessen Differenzierungstypologie kollektiver Akteure begreift Kampmann den Verlag »einerseits als handlungsfähiges Sozialsystem innerhalb des Sozialsystems Literatur«, will aber andererseits auch nicht darauf verzichten, »einzelne Akteure« (S. 42) – wie etwa das für die Kanonisierungspraxis des Verlages bedeutsame Wirken Heinz Friedrichs – und deren Handlungsprägung in den Blick zu nehmen. Um diesen Aspekt der Handlungsprägung sowie die Relationalität von Akteuren fokussieren zu können, greift Kampmann auf Bourdieus Habitus-Konzept zurück. 2

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Auf der methodenbezogenen Ebene geht es darum, wie die Kategorie der Kanonisierung operationalisiert und damit überhaupt erst historisch beschreibbar gemacht werden kann. Kampmann entwickelt in diesem Zusammenhang in kritisch begründeter Abgrenzung von der bisher etablierten Begrifflichkeit der Kanonforschung sowie von Assmann’schen Speicher- und Gedächtnismetaphern ein eigenständiges Modell zur Beschreibung von Kanonisierung, das die diskursive Präsenz eines Textes oder Autors hinsichtlich der Reichweite und Dauer der Diskurspräsenz differenziert und drei Status der Kanonisierung unterscheidet: die Publizität, die Etabliertheit und die Kanonizität. Diese Status sollen Kanonisierungsprozesse weniger als Ergebnisse von Exklusion, Selektion und Zensur, sondern eher als »Aufmerksamkeitsbündelungen für literarische Erzeugnisse« (S. 31) systematisch beschreibbar machen. Dieses heuristische Modell, das die Analysen der folgenden zehn Kapitel konfiguriert, ohne sie in ein allzu enges begriffliches Korsett zu zwängen, ist das Ergebnis eines deemphatisierten Kanonbegriffs, der auf der historischen Verlaufsannahme basiert, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Kanones ausbilden, die nicht mehr von repräsentativen Kanones dominiert werden, sondern in unterschiedlichen Nutzungs- und Milieuzusammenhängen stehen. Im Rahmen eines dergestalt ernüchterten Kanonverständnisses stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Popularisierung und Kanonisierung, das heißt die Frage, ob und wie die durch das Popularisierungsmedium Taschenbuch ermöglichte »Erweiterung des Leserkreises literarischer Texte« (S. 49) dazu beiträgt, dass etablierte Texte und Autoren den Status der Kanonizität erreichen.

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Ergebnisse

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In den zehn Kapiteln des mehr als 300-seitigen Hauptteils, dessen Spektrum von der Resonanzgeschichte des Taschenbuchs und einer instruktiven Skizze der Verlagsgeschichte des dtv über Analysen der Programmentstehung, der Reihengestaltung, des symbolischen Marketings des dtv und einer Fallanalyse zu Heinrich Böll bis zur empirisch fundierten Auswertung der Kanonisierungspraktiken des dtv von 1961 bis 2008 sowie einem kurzen Vergleich mit der Kanonisierungspraxis des Suhrkamp-Verlages reicht, liefert die Studie eine Fülle von Einzelergebnissen und Detailbeobachtungen. Nur die wichtigsten davon können hier zusammengefasst werden.

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Von der junk-Lektüre zum Arbeitsmittel der Akademiker: Diskursive Resonanzbedingungen einer medialen Erfolgsgeschichte

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Selbst ein heller Kopf wie Hans Magnus Enzensberger übt sich bei der Reflexion über das Medium Taschenbuch noch 1959, in seinem Essay Bildung als Konsumgut, in kulturkritischen Gesten: Das »Medium« der Verständigung zwischen der »normierten Verpackung« des Taschenbuch-Einbandes sei, anders als bei den über einen Buchhändler oder einen Kritiker vermittelten, ›echten‹ Büchern, »nicht die Vernunft, sondern der Reiz« (S. 88). Enzensbergers Mahnung kann exemplarisch für jene bildungsbürgerlichen Ängste vor einer kulturellen Enteignung durch das Taschenbuch stehen, die Kampmann im zweiten Kapitel ihrer Arbeit auf der Grundlage einer argumentationsgeschichtlichen Analyse des publizistischen Materials der 1950er und 1960er Jahre rekonstruiert. Das Taschenbuch, das zunächst im Verdacht steht, nach einmaliger Lektüre entsorgt zu werden, gilt zunächst noch als Zeichen einer das angemessene Leseverhalten untergrabenden Amerikanisierung. Aus dem bildungsbürgerlich sakralisierten Leseerlebnis, so die Befürchtung, werde durch die massenmediale Reizüberflutung eine wahllose junk-Lektüre.

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Die Studie zeigt, wie diese anfängliche Skepsis im Laufe der 1960er Jahre im Zuge der Bildungsexpansion einer zunehmenden Akzeptanz des neuen Mediums weicht. Die Vorbehalte werden nicht zuletzt dadurch abgebaut, dass Verlage wie Fischer, Rowohlt und dtv – in zum Teil hoher editorischer wie auch herstellerischer Qualität – etablierte und kanonisierte Titel im Programm führen. Das Taschenbuch gilt nunmehr als schmuckloses und deshalb ›echtes‹ Werkzeug für den ›wirklichen‹ Leser, als ein demokratisches Medium, das zum legitimen Arbeitsmittel der akademischen Berufsleser wird und das zugleich Weltliteratur auch den unterprivilegierten Leserschichten zugänglich macht.

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»[N]icht alles, was verrückt klingt, ist gut« – Geschichte, Programm und Verlagsphilosophie des dtv

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Dass sich der Gesellschafterverlag 3 dtv im Laufe der 1960er Jahre erfolgreich als »liberaler Verlag der bildungsbürgerlichen Mitte« (so der damalige Lektoratsleiter »Wissenschaft«, Walter Kumpmann) etablieren kann, ist angesichts der Konkurrenzsituation im literarischen Feld alles andere als selbstverständlich. In den Kapiteln 3 bis 5 ihrer Studie zeichnet Kampmann die Ermöglichungsbedingungen dieser Erfolgsgeschichte nach. Die detailsensible und das Buch in seiner materialen Erscheinungsform ernst nehmende Rekonstruktion der distinktiven Platzierungsstrategie des dtv vor allem in seinen Anfangsjahren gehört sicherlich zu den Glanzlichtern der Studie. Kampmann lässt transparent werden, dass und wie die Profilierung als innovativer Kulturverlag und gleichermaßen die Markenbildung durch das optische Auftreten der dtv-Taschenbücher Bedingungen der Möglichkeit des anhaltenden Erfolges sind.

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Für die Außenwahrnehmung als innovativer Kulturverlag ist zunächst die nachhaltig durch die habituellen Dispositionen Heinz Friedrichs mitbedingte Programmgestaltung prägend: Innovativ in der Erschließung neuer Programmgebiete vor allem im Sachbuchbereich (Nachschlagewerke und wissenschaftliche Publikationen wie zum Beispiel der »Atlas zur Weltgeschichte«, das »Grimm’sche Wörterbuch« oder der »dtv-Atlas«), inszeniert der Verlag sein belletristisches Programm mit seiner Sonderreihe, den Gesamtausgaben deutscher Klassiker (vor allem der bereits im Gründungsjahr begonnenen Herausgabe Goethes Sämtlicher Werke), aber auch mit der dezidierten Förderung ›neuer‹ Autoren aus dem Umfeld der »Gruppe 47« (Böll, Lenz) als, so der Werbe-Slogan, »ein Taschenbuch-Programm für Anspruchsvolle« (S. 127). Ausgegrenzt blieben – bei allem durch den Verlagsleiter geförderten Pluralismus – politisch-ideologisch Einsinniges, bloße Unterhaltungsliteratur, erotische Literatur sowie allzu Experimentelles. Friedrichs lebensphilosophisch geprägter Geschmack prämiert klassische Erzähltexte, wenn er ihnen Authentizität und existentiellen Belang zuschreiben kann (daher sein faible für Lenz 4 ), und er meidet das Extreme: »[N]icht alles, was verrückt klingt, ist gut« (S. 177), so der Verlagsleiter in einem Brief, in dem er gegen die Aufnahme von Arno Schmidt in das dtv-Programm optiert.

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Zur eigentlichen Markenbildung trägt indes – wie Kampmann argumentiert – noch mehr das optische und materiale Auftreten der dtv-Bände bei. Das Understatement des weißen Umschlags, die dezente, aber wiedererkennbare Gestaltung aller Verlagsprodukte durch den international renommierten Celestino Piatti kommuniziert künstlerischen Anspruch und Weltoffenheit, die Schrifttype, eine Akzidenz Grotesk suggeriert mit ihrer »Nähe [zur] produktästhetischen Avantgarde der 1960er Jahre« (S. 122) intellektuell-rationale Modernität. Hinzu kommt Kampmann zufolge schließlich noch die gehobene Qualität in herstellerischer Hinsicht (Ausstattung, Heftung und Papierqualität), die in der Außenwahrnehmung dafür sorgen sollten, dass, so Friedrich, »das Taschenbuch das Odium des ›Billigen‹ überwand« (S. 124).

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Vom Fürsprecher des ›kleinen Mannes‹ zum Autor, der die Frauen versteht – Symbolisches Marketing im dtv

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Dem symbolischen Marketing des Verlages, das heißt der Frage, wie der Verlag seine Produkte (Texte und Autoren) als symbolische Güter unter den Bedingungen des literarischen Feldes positioniert, widmen sich die Kapitel 6 bis 8. Gestützt auf die paratextuelle Analyse der Sonderreihe, der Neuen Reihe, den Reihen Weltliteratur für Anspruchsvolle und Autorenbibliothek sowie der zahlreichen Parallelausgaben von Uwe Timms Entdeckung der Currywurst diagnostiziert Kampmann einen nachhaltigen Paradigmenwechsel von der »Popularisierung zur Diversifizierung« (S. 290) in der Produktkommunikation des Verlages: Gemeint ist damit, »dass sich der dtv, wie der Taschenbuchmarkt insgesamt, von einem Angebot, in dem das Wenige massenhaft verbreitet wird, hin zu einem Angebot, das auf einzelne Zielgruppen zugeschnitten ist, bewegt« (S. 293).

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Dass solche Verschiebungen im symbolischen Marketing auch spezifische semantische Umbauten bei der Positionierung von Autoren zeitigen, demonstriert Kampmann dann am Beispiel der verlagsseitigen Darstellung Heinrich Bölls, mithin jenes Autors, der in der Außenkommunikation des Verlages bis heute eine zentrale Rolle spielt. Kampmanns Analyse der Betextung der bei dtv erschienenen Böll-Bände zeigt, wie sich das vom Verlag inszenierte Bild des Autors über die Jahrzehnte zwar nicht grundsätzlich wandelt, aber doch verschiebt: Das politische, mitunter auch parteipolitische Engagement des Autors wird in späteren Jahren – vor allem nach Bölls Tod – entweder auf virulente Diskurse zugeschnitten (so etwa auf den Feminismus, wenn seit den 1990er Jahren die Betextungen seine Wertschätzung der weiblichen Erfahrungswelt herausstellen) oder dergestalt ins Allgemein-Menschliche erhoben, dass eine gleichsam zeitlose Klassizität des Nobelpreisträgers in Szene gesetzt wird.

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Quantitative und qualitative Analyse der
Kanonisierungspraxis des dtv zwischen 1961 und 2008

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Vor dem Interpretationshintergrund der in den ersten acht Kapiteln gewonnenen Befunde unternehmen die letzten Untersuchungskapitel der Studie (Kapitel 9 bis 11) den Versuch, die komplexen Zusammenhänge der Kanonisierung zu operationalisieren und die Kanonisierungspraxis des dtv quantitativ und qualitativ näher zu bestimmen. Es geht der Autorin darum, einer Antwort auf die Fragen, ob und wie sich die zuvor analysierten Kanonisierungspraktiken des Verlages tatsächlich auswirken, empirisch zumindest näher zu kommen. Der Eintrag eines dtv-Titels in den literaturwissenschaftlichen Registrations- und Zirkulationsmedien Kindlers Literatur Lexikon und Wilperts Lexikon der Weltliteratur wird dabei als Indikation für die Kanonizität eines Textes gewertet, so dass sich nach Kampmann bestimmen lässt, welchen Kanonisierungsgrad ein Text zur Veröffentlichungszeit hat und wie sich dieser über die Jahre verändert.

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Der diachrone Vergleich der erhobenen Daten zeigt, dass die Kanonisierungsrelevanz des dtv vor allem bei Titeln, die in den 1970er Jahren als Taschenbuch herausgegeben wurden – gemessen an den beiden Registrationsmedien im Jahre 1988 – besonders stark ist. Dies liegt, so der Erklärungsansatz Kampmanns, zum einen an der Autorenpflege des Verlages, zum anderen an der offensichtlich stärkeren Bereitschaft, Autorinnen zu kanonisieren. Denn von den Programmen der 1970er Jahre werden entweder vor allem Titel von jenen Autoren erstmalig in die Nachschlagewerke aufgenommen, die – wie unter anderen de Bruyn, Bieler, Harig, Rosendorfer oder Wondratschek – bereits in den 1960er Jahren bei dtv veröffentlichen, oder Titel von Autorinnen wie Spiel, Lavant, Wohmann, Morgner und Frischmuth.

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Der die Untersuchung beschließende Vergleich mit der Kanonisierungsrelevanz des Taschenbuchprogramms des Suhrkamp-Verlages zeigt, dass beide Verlage zwar ähnlich viele bereits kanonisierte Titel im Programm führen, dass der Suhrkamp-Verlag aber, angesichts seines – wie Kampmann nachvollziehbarer Weise interpretiert – höheren symbolischen Kapitals innerhalb des literarischen Feldes, erfolgreicher darin ist, bislang noch nicht kanonisierte Titel zu kanonisieren.

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Der hier vorgelegte Versuch einer quantitativen und qualitativen Bestimmung der Kanonisierungspraxis ist zweifellos ein erster und wichtiger Schritt, der Erforschung der Kanonisierungsmacht von Verlagen ein empirisches Fundament zu geben. Gleichwohl – dies räumt die Verfasserin (S. 408) allerdings selbst ein – stellen sich angesichts der Komplexität von Kanonisierungsprozessen weitere Fragen, die Kampmanns Studie zwar in einem abschließenden Kapitel noch anreißt, aber nicht mehr selbst beantwortet. Um die Kanonisierungsmacht von Verlagen wie auch Kanonisierungsprozesse insgesamt präziser rekonstruieren zu können, müssten etwa – um hier nur bei dem von der Autorin gewählten Fall zu bleiben – auch die Entscheidungshintergründe und -kriterien jener Akteure, die darüber befinden, ob ein Titel in ein literaturwissenschaftliches Nachschlagewerk aufgenommen wird, untersucht werden. Kampmanns Analyse zeigt, dass Verlage offensichtlich kanonisierungsrelevante Instanzen sind, wie stark ihr Einfluss auf Kanonisierungsprozesse im vielstimmigen Ensemble kanonisierungsrelevanter Größen tatsächlich ist, bleibt allerdings eine offene, methodisch weiterhin herausfordernde Frage.

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Fazit

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Für die noch recht junge Teil›disziplin‹ der Kanonforschung, die bisher den Einfluss von Verlagen auf Kanonisierungsprozesse eher vermutet als tatsächlich untersucht hat, stellt Kampmanns Arbeit einen wichtigen Schritt dar. Kanon und Verlag überzeugt durch seinen gegenstandsangemessenen interdisziplinären – literatur- und buchwissenschaftliche, ökonomische und soziologische Aspekte vereinigenden – Zugriff. Damit liefert die Autorin nicht nur ein tragfähiges heuristisches Modell für die Analyse von verlagsspezifischen Kanonisierungspraktiken und einen ersten wichtigen, anschluss- wie ausbaufähigen Versuch, diese Kanonisierungspraxis empirisch zu präzisieren, sondern sie leistet auch einen profunden Einblick in die Verlagshistoriographie des dtv und damit – gleichsam nebenbei – auch in die bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte. Kurzum: Wer sich künftig mit den Zusammenhängen zwischen Kanonisierungsprozessen und Verlagspraktiken beschäftigt, wird an dieser Studie nicht vorbeikommen und ihr methodisches Niveau nicht unterschreiten dürfen.

 
 

Anmerkungen

Uwe Schimank: Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung. Ein Diskussionsvorschlag. In: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), Nr. 6, S. 421–434. Schimank entwickelt im Zusammenhang seiner Kritik an der Systemtheorie eine Differenzierungstypologie kollektiver Akteure, die zwischen handlungsprägenden und handlungsfähigen Sozialsystemen unterscheidet.   zurück
Bourdieus feldtheoretischer Ansatz wird durchaus kritisch reflektiert (s. S. 47 f.) und die Autorin betont, dass dessen Großtheorie nur teilweise den theoretischen Hintergrund für die Untersuchung der Kanonisierungsfunktion des dtv sein könne.   zurück
Die Gesellschafterstruktur, das heißt der Umstand, dass es sich beim dtv um eine Verwertungsgemeinschaft für Taschenbuch-Lizenzen aus mehreren Verlagen handelt, bildet – wie Kampmann eindrücklich zeigen kann – einen gewichtigen Handlungsrahmen für die Gestaltung des Verlagsprogramms: Der dtv muss zunächst die Lizenzen der Gesellschafterverlage verwerten; diese bleiben – auch wenn sich der dtv mit einer Sonderreihe und Originalausgaben im Sachbuchbereich früh Möglichkeiten schafft, diese Einschränkungen zu umgehen – programmbestimmend für die Allgemeine Reihe. Erst in den 1970er Jahren, als mehrere Gesellschafterverlage (Piper, Kiepenheuer, Insel) ihre eigenen Taschenbuch-Verlage gründen und sich das Lizenzangebot auf dem Markt verknappt, erodiert die Gesellschafterstruktur.   zurück
Die Geschichte der Lenz-Ausgaben im dtv beginnt mit einem vernichtenden Gutachten des dem formalen Experiment weit eher als Friedrich zugeneigten Lektors Bienek. Bienek hält Lenz für einen Autor, der »mehr durch seine Freundlichkeit besticht als durch sein Talent. Typisch ist für ihn zum Beispiel, daß er überhaupt keine Feinde hat: und das dürfte einem guten Autor nicht passieren!« (S. 179)   zurück