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Die politische Vision als literarischer Auftrag:

Hermann Brochs »Der Tod des Vergil«

  • Patrick Eiden-Offe: Das Reich der Demokratie. Hermann Brochs »Der Tod des Vergil«. München: Wilhelm Fink 2011. 404 S. Kartoniert. EUR (D) 49,90.
    ISBN: 978-3-7705-5106-4.
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Demokratie und American Empire

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Die vorliegende Studie erweist sich in ihrem Vorsatz wie in ihrer Ausführung als spannende Arbeit, weil sie sowohl ihre theoretische Grundlage wie auch Teile des zu untersuchenden literarischen Gegenstandes als ein zusammenhängendes Bild »aus Spuren« (S. 335) erst herstellen muss. Von der Annahme ausgehend, dass »Broch die Figur und die Epoche des historischen Dichters Vergil zum Gegenstand einer auch politischen Selbstverständigung seiner eigenen Gegenwart macht« (S. 9, Kursivsetzung im Original), nimmt sich der Autor vor, den politischen Inhalt von Brochs 1945 erschienenem Roman vor dem Hintergrund zeitgenössischer wie seit 2001 aktuell gewordener Debatten um das American Empire zu untersuchen. Als Grundlage seiner Analyse dient Eiden-Offe Brochs eigene politische Theorie mit ihren Konzepten von einem Reich »totaler Demokratie« (S. 20), ihrer Kontrapunktik zu Staat und Totalitarismus sowie der von Broch so genannten »demokratischen Ebenbildhaftigkeit« (S. 77) der Menschen. Diese letztere, so Broch, erhebe die Menschenrechte zum demokratischen Staatsprinzip (vgl. S. 35) und verleihe dem Staat dadurch eine religiöse Struktur, ohne selbst religiös zu sein (vgl. 67–71 und 77–80).

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Diese Konzepte »(re)konstruiert« Eiden-Offe, sie »theoretisch und begrifflich zu[...]spitzend« (vgl. S. 22), aus Brochs verstreuten, oft unvollendeten philosophischen und politisch-theoretischen Schriften, indem er sich neben modernen Theoretikern wie z.B. Claude Leford oder Jacques Derrida hauptsächlich auf den zeitgenössischen Staatsrechtler Carl Schmitt stützt, dessen Schriften Broch nachweislich beeinflusst hatten (vgl. S. 38–49). In einer Art »wechselseitiger Applikation« (S. 10) werden diese theoretischen Ideen dann in ihrer literarischen Gestalt im Roman aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Alternierend dazu bettet der Verfasser sie in den breit ausgefalteten Kontext einer theoretischen Auseinandersetzung Brochs (wie anderer politischer und wissenschaftlicher Größen) mit dem Demokratie- und Reichs- bzw. Empirebegriff und befragt sie hinsichtlich der Möglichkeit ihrer (amerikanischen) Verwirklichung. Nicht zuletzt erfährt Brochs politische Theorie in Gestalt von Slavoj Žižeks, Eric L. Santners und Kenneth Reinhards politischer Theologie des Nächsten einen möglichen Abschluss (S. 287–294).

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Durch so ein »Flickwerk« (S. 386) gewinnt Eiden-Offe dem schwer lesbaren Vergil eine tief gehende Ausarbeitung der im Roman bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse ab. Diese wird einmal unter dem Aspekt der von Vergil und Octavian gegensätzlich anvisierten Staatsstrukturen (vgl. S. 122–157) analysiert, einmal aus der Perspektive der aus dem politischen Prozess ausgeschlossenen Teile der Bevölkerung (nämlich Frauen, Kinder und vor allem Sklaven, vgl. S. 151–191) und einmal aus der Perspektive des Künstlers (vgl. S. 327–389), der sein Werk als ein politisch-theoretisch »unstimmiges Bild« (S. 362) eben wegen seiner »unaufhebbaren Ambivalenz« (S. 371) in die Welt und somit auch in den potentiellen Dienst der Politik entlässt.

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Es gelingt Eiden-Offe, zu zeigen, dass Brochs Vision der Demokratie als eines »Reiches der Menschengemeinschaft« (S. 147) wenn auch nicht zu Ende gedacht, so doch durchaus keine abstruse Idee ist, sondern theoretisch wie realpolitisch in den USA ihre Bestätigung findet. Die Ideen der andauernden Expansion, der nie aufhörenden Selbstevaluation und -innovation wie auch der aktiven Partizipation aller am Staat, ihren Differenzen zum Trotz (vgl. S. 63, S. 137), wird dem amerikanischen Staat lange vor Broch von Frederick James Turner und Alexis de Tocqueville bescheinigt (vgl. S. 219–242). Die amerikanische »demokratisch-imperiale Tradition« (S. 381) bleibt demokratisch, weil, wie ihre Gründerväter James Madison und Alexander Hamilton feststellten, einer der Grundpfeiler ihres Staates »eine dauernde Zwietracht zwischen Großen und Volk« (S. 255) ist, durch welche die Staatstrukturen vom Volk andauernd reguliert werden. Schließlich hat sogar Jacques Derrida den USA die, allerdings verpasste, Möglichkeit einer neuen, von ihnen ausgehenden, auf Menschenrechten basierenden Weltordnung bescheinigt (vgl. S. 381).

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Textanalyse

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Technisch ist die Arbeit so gut wie fehlerfrei. In dem sehr umfangreichen Buch gibt es so gut wie keine Tipp- und nur einen inhaltlichen Fehler (S. 319). Der letztere besteht darin, dass die Textanalyse Vergil hier als Pferdekäufer und Octavian als vom Kauf abratenden Freund darstellt, während im Roman das Umgekehrte der Fall ist 1 .

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Inhaltlich ist an der Studie allerdings zu beanstanden, dass sie sich in der Textanalyse allzu pointiert auf die (re)konstruierte politische Theorie Brochs stützt, wobei die herausgearbeiteten politisch-sozialen Aspekte vorprogrammierterweise die theoretische Thematik widerspiegeln und der Amerikazusammenhang wegen mangelnder Textbezüge ein wenig an den Roman herangetragen wirkt. Dazu noch werden weite Teile des Romans in der Analyse gar nicht berücksichtigt, auch nicht als Kontext. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. S. 182–183, S. 359–361) wird hauptsächlich der dritte Teil des Romans mit dem Streitgespräch zwischen Vergil und Octavian behandelt. Auch wenn der zweite und der vierte Romanabschnitt tatsächlich »das innere Geschehen Vergils« (S. 103) wiedergeben, sollte man nicht vergessen, dass gerade im zweiten Teil der dritte erzählerisch vorbereitet wird. Dieser fehlende intratextuelle Kontextbezug vermittelt einerseits den Eindruck, dass es im Roman fast ausschließlich um unterschiedliche Staatsvisionen geht, oder dass der Gesprächsschluss wirklich zum »Modell eines demokratischen modus vivendi« (S. 325, Kursivsetzung im Original) mit seinem ungeschlichteten Nebeneinander der »Uneinigkeiten« (vgl. S. 301) wird. Andererseits wird hierdurch den im Laufe des Gesprächs auftretenden, aber nur von Vergil wahrgenommenen Figuren Plotias, des Knaben Lysanias und des ihm zur Verfügung gestellten Dienersklaven unberechtigterweise auch eine Realität verliehen, die sie tatsächlich im Roman gar nicht haben. Plotia ist Vergils einstige Geliebte und Lysanias sein Wegführer vom Romananfang.

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Obwohl es stellenweise so aussieht, als ob diese Figuren am Freundesgespräch teilnähmen, befinden sie sich in der Wirklichkeit des Romans eher im Gespräch mit Vergil, oder sie sprechen Octavian durch Vergil an, und zwar als Aspekte von Vergils Wesen. Ihre Worte hört aber nur der Dichter. Auch da, wo der Knabe Lysanias von Octavian anscheinend wahrgenommen wird 2 , gibt der Romantext im Gegensatz zu Eiden-Offes Interpretation (vgl. S. 321–323) keine klaren Anhaltspunkte dafür, dass dies wirklich stattfindet. Der Knabe, der auf einem Ross durch die Luft einherreitet, spricht Äneis-Verse über Octavian und übergibt diesem das Gedicht. Abgesehen davon, dass ein durch die Luft reitendes Ross etwas Halluzinatorisches an sich hat und daher nur Vergils Fantasie entsprungen sein kann, spricht Octavian nach der »Begegnung« nur Vergil an, sagt aber kein Wort von einer anderen Figur. Zugleich ruft er seine Gefolgschaft, welche dann nach Octavians Bekanntmachung der Gabe den Manuskriptkoffer fortträgt 3 .

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Fazit

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Abschließend lässt sich sagen, dass es dem Autor in seiner breit ausgefalteten Untersuchung gelingt, den Vergil in Bezug zu Brochs politisch-theoretischen Ausführungen und zur zeitgenössischen wie aktuellen Debatte eines von Amerika ausgehenden Reichs der Demokratie zu setzen, wie auch, sich auf diesen Bezug stützend, die politisch-soziale Problematik im Roman in ihrer Vielschichtigkeit einleuchtend herauszuarbeiten. Insofern ist die Studie, trotz ihrer etwas eingeschränkten Textlektüre, jedem an Brochs Werk Interessiertem zu empfehlen, vor allem eben denjenigen, die sich mit dem politischen und theoretischen Gehalt von Brochs Schaffen bekanntmachen wollen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Hermann Broch: Der Tod des Vergil. In: Hermann Broch, Kommentierte Werkausgabe, Bd. 4. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, S. 369.   zurück
Vgl. ebd., S. 371.   zurück
Vgl. ebd., S. 372–376.   zurück