IASLonline

Der Text des Lesers

Beiträge zur leserorientierten Literaturwissenschaft

  • Catherine Mazauric / Marie-José Fourtanier / Gérard Langlade (Hg.): Le texte du lecteur. Préface de Pierre Bayard. (ThéoCrit' 2) Bruxelles, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien: Peter Lang 2011. 298 S. 2 Abb. Broschiert. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-90-5201-731-0.
[1] 

Der Leser ist das Stiefkind der Literaturwissenschaften. Sicherlich, der Blick auf die aktuelle Forschungspraxis zeigt einen beachtlichen Anteil von Veröffentlichungen zur Rezeptionsgeschichte. Aber was den kreativen Beitrag des Rezipienten zur Konstruktion literarischer Werke, die konkrete Interaktion von Leser und Text angeht, herrscht in den Bibliothekskatalogen weitgehend Leere. Dieses Missverhältnis ist überraschend, zumal in der rezeptions- und wirkungsästhetischen Theoriegrundlegung der 1960er und 70er Jahre beide Möglichkeiten des Lesereinbezugs gleichermaßen enthalten sind: In Literaturgeschichte als Provokation lokalisiert Hans Robert Jauß den Leser im Zentrum der Literaturgeschichtsschreibung, während sein Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik sowie Wolfgang Isers Die Appellstruktur der Texte sich den Effekten literarischer Texte widmen.

[2] 

Dennoch hat die Wirkungsforschung bislang weniger Durchschlagskraft bewiesen als die Rezeptionsforschung. Zwar würde auf dem Papier jeder Forscher die essentielle Rolle des Lesers für die Literatur unterschreiben; nichtsdestotrotz konzentriert sich das Gros der Veröffentlichungen, die direkt mit dem Text arbeiten, nach wie vor auf hermeneutische oder strukturalistische Herangehensweisen. Die Suche nach der Bedeutung eines Textes und der Diskurs über die Autonomie des Ästhetischen halten den Leser systematisch aus dem Werk heraus.

[3] 

Eine Publikation, die sich diesem Ungleichgewicht entgegensetzt, ist der Sammelband Le texte du lecteur, herausgegeben von den Toulouser Literaturwissenschaftlern Catherine Mazauric, Marie-José Fourtanier und Gérard Langlade, der die Ergebnisse einer Tagung von 2008 zusammenstellt. Seine zentrale Forderung gilt einem Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft hin zum Leser. Der Forschungsfokus liegt auf der Frage, inwiefern Erinnerungen, Affekte, Erfahrungen, Welt- und Literaturwissen des realen Rezipienten zur Konstruktion des literarischen Werkes beitragen. Die 22 Aufsätze suchen nach den Quellen, aus denen sich die Leserbeteiligung speist, ergründen die Wechselwirkungen von Lektüre und Realität und versuchen nachzuvollziehen, wie sich die Animierung literarischer Texte durch den Leser konkret vollzieht. In Zusammenarbeit von französischen und kanadischen Forschern aus Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Pädagogik wird nach Wegen gesucht, der Singularität, Subjektivität und Transgressivität möglicher Lektüren Rechnung zu tragen.

[4] 

Diskursive Richtungswechsel und disziplinäre Randgebiete

[5] 

Die Beiträge des Aufsatzbandes sind relativ heterogen und lassen sich grob in fünf Themenbereiche unterteilen. Dominant ist die Gruppe der theoretischen Texte (Pierre Bayard: Julien Sorel était-il noir? » (S. 11–18), Alain Trouvé: „Le texte de lecture comme texte du lecteur«(S. 31–40), May Roy:»De la lecture comme invention«(S. 41–50), Vincent Jouve:»Du miroir au mirage«(S. 51–64), Marcel Goulet:»Textes singuliers et texte commun (S. 65–76)), die sich an einer Definition der Leserbeteiligung versuchen und Probleme skizzieren. Konkrete Vorschläge zu einer Kategorisierung der typischen Lektüreerlebnisse oder zu einer möglichen Herangehensweise an Texte und Leser bleiben weitgehend aus.

[6] 

Die theoretischen Beiträge werden von Analyse-Aufsätze ergänzt, die das kreative Produkt des Lektüreprozesses an konkreten Beispielen nachzeichnen (Annie Rouxel: Mobilité, évanescence du texte du lecteur« (S. 114–128), Micheline Cambron: »Savoirs du texte, savoirs du lecteur, savoir de la lecture« (S. 189–198)). Diese Zögerlichkeit und Unbestimmtheit ist der Tatsache geschuldet, dass der Sammelband ein bislang fast völlig unreflektiertes Forschungsfeld angeht.

[7] 

Darüber hinaus enthält der Band etliche Artikel zur Didaktik (Jérôme Roger:»L’autre de la lecture« (S. 31–40), Louis-Philippe Carrier:»L’infratexte sensible du lecteur«(S. 99–114), François Quet:»Entre posture et imposture«(S. 129–140), Olivier Dezutter:»Le genre épistolaire, une voix d’entrée dans le texte du lecteur«(S. 215–224), Amor Séoud:»Lire la lecture. Libres propos sur la liberté du lecteur«(S. 241–248)). Sie stimmen in dem Grundgedanken überein, dass der Literaturunterricht an Schule und Universität gewinnen könne, wenn er die subjektive Komponente des Lesens stärker zulasse. Die starke Präsenz der Arbeiten dieser Disziplin ist symptomatisch für die Randstellung der Leserforschung in der Literaturwissenschaft. Zwar wird das Lektüreerlebnis des Einzelnen in der Schule gutgeheißen, um eine gelungene erste Annäherung an literarische Texte zu ermöglichen. Die akademische Welt jedoch scheint von diesem Einfluss verschont bleiben zu wollen und die Herangehensweise bislang nicht wirklich ernst zu nehmen.

[8] 

An die pädagogischen Artikel schließen inhaltlich mehrere soziologische Arbeiten an (Martine Burgos/ Manon Hébert :»Observations des territoires mentaux convoqués par divers adolescents dans l’interprétation du Passeur de Loïs Lowry«(S. 249–270), Aurélie Dinh Van :»Textes de lecteurs et diversité culturelle«(S. 271–276), Marion Sauvaire :»Traces et tracées des diversités culturelles dans les textes de lecteurs«(S. 277–288)). Sie streichen die Kulturabhängigkeit der Lektüre heraus und charakterisieren die europäischen Unterrichtsmethoden als einen Sozialisationsprozess, der die Individualität des Leseprozesses auszumerzen versucht.

[9] 

Zuletzt finden sich, von der Zielformulierung des Buches etwas abgerückt, auch Artikel, welche die Darstellung des Lesens in literarischen Texten, den Einfluss der Lektüre auf das Schaffen des Autors oder die Rezeptionsgeschichte widerspiegeln (Alya Chelly-Zemni: »Virgile dans Virgile« (S. 89–98), Daniel Delas: »D’un lecteur postcolonial« (S. 289–298), Chantal Lapeyre : »Une ténébreuse affaire de langage« (S. 141–154), Bertrand Gervais: »La figure au bout des doigts« (S. 155–166), Soufian Al Karjousli: »Les lectures du texte coranique« (S. 199–214), Corinne Iehl : »Du texte à l’icône« (S. 177–188)). Auf diese Gruppe wird, da sie das zentrale Thema von Le texte du lecteur nicht ganz treffen, im Folgenden nicht genauer eingegangen.

[10] 

Hermeneutische Hindernisse und theoretische Auswege

[11] 

Die theoretische Diskussion eröffnet Pierre Bayards »Julie Sorel était-il noir?«. Der Aufsatz behandelt die Frage, inwiefern es vor dem hermeneutischen Gewissen verantwortbar ist, dass Leser ihre eigenen Vorstellungen auf literarische Texte projizieren und sich bei Interpretationen auf diese stützen. Bayard problematisiert dies stark und warnt vor einer zur starken Lokalisierung des literaturwissenschaftlichen Fokus auf der Leserseite. Der »risque du délire« (S. 14), also die Gefahr, dass die Subjektivität in ein wahnhaftes Phantasieren abdrifte und damit eine Fehllektüre erzeuge, sei dabei groß. Das Einbeziehen individueller Leserperspektiven sei nur dann zulässig, wenn diese das Werk bereichern, d. h. wenn sie herausstreichen, dass erst die Universalität der Aussage eines Textes das individuelle Lektüreerlebnis möglich macht. Im Endeffekt dient Bayard die Aktivität des Rezipienten also zur Unterstreichung für die Qualität der Arbeit des Autors. Mit dieser Argumentation wird er der sehr innovativ formulierten Zielsetzung des Bandes im Vorwort nicht unbedingt gerecht. Den Beitrag des Lesers instrumentalisiert er, um eine autorzentrierte Literaturwissenschaft zu stützen. Nicht der Dialog zwischen Leser und Text, sondern der unvergleichliche Charakter des Meisterwerks steht hier im Vordergrund.

[12] 

In eine ähnliche Richtung argumentiert Alain Trouvé in»Le texte de lecture comme texte du lecteur«(S. 31–40). Trouvé denkt die Lektüre als etwas Produktives, eine Interaktion zwischen Text und Leser, deren Ziel in der Sinnproduktion liegt. Indem der Rezipient sich ein Werk einverleibt und ihm seine Erinnerungen leiht, erzeuge er es erst oder, wie Trouvé formuliert: »le texte du lecteur est l’écho personnalisé du texte à lire« (S. 33). Trotz dieser Zugeständnisse an den Rezipienten, möchte sich der Artikel nicht vom hermeneutischen Dogma des Erkenntniswerts literarischer Texte verabschieden: Es sei oberstes Ziel des Werkes, dem Leser zu helfen, sein eigenes Leben, die eigene und fremde Psychologie und Emotion zu verstehen. Um diese These aufrecht erhalten zu können, argumentiert Trouvé, dass ein literarisches Werk aus zwei Bedeutungen bestehe: aus der, die der Text in sich trage, und der, die der Leser dazukonstruiere.

[13] 

Ingesamt wirkt der Artikel inkonsequent; auf der einen Seite ist es der Rezipient, der das Werk schafft, auf der anderen Seite existiert eine Bedeutung aber schon im Voraus. Allzu konservativ mutet auch die abschließende Forderung an, den kreativen Beitrag des Lesers nur unter der Bedingung zu akzeptieren, dass er die Grundbedeutung des Textes interessanter macht. Insofern bleibt auch Trouvés Artikel hinter der zunächst erzeugten Erwartung eines Paradigmenwechsels zurück. Vielmehr beherrschen Skepsis gegenüber dem realen Leser und Angst vor dem Verlust der Objektivität den Ton seiner Ausführungen. Innovative Ideen werden relativiert, der Leser wird nur in den Diskurs eingeführt, um gleich wieder ausgeschlossen zu werden.

[14] 

Von den kritischen Stimmen der beiden Eingangsaufsätze, lösen sich Max Roy (»De la lecture comme invention« (S. 41–50)) und Marcel Goulet (»Textes singuliers et texte commun« (S. 65–76)). Sie stehen beide für eine empirische Literaturwissenschaft, die ihre Ergebnisse – wie hierzulande die Forschung in Nachfolge von Siegfried Schmid und Norbert Groeben – nicht aus dem Text, sondern aus Interviews oder Tests zieht und damit der Kreativität des Lesers Raum zur Entfaltung bietet. Roy geht davon aus, dass jede Lektüreerfahrung individuell und deshalb keinesfalls verallgemeinerbar sei. Um die Rolle des Lesers zu erfassen, sei es nötig all seine Operationen, während der Lektüre aufzuzeichnen. Seine Motivationen, Erinnerungen, sein Wissen und sein individueller Charakter müssen, sobald sie in irgendeiner Form in das Lesen hineinspielen, erforscht und sichtbar gemacht werden. Goulet führt eine solche Bewusstmachung der Rezipientenaktivität an einem Beispiel vor. Er gibt mehreren Versuchspersonen einen literarischen Text zu lesen, den sie daraufhin in eigenen Worten noch einmal schreiben sollen. Dabei passten die Leser den ursprünglichen Text ihrer Situation an und machten ihn persönlicher, fügten diese subjektive Leseweise dann aber auch wieder in den Ursprungstext ein. Deshalb entwickelt Goulet die These, dass die Lektüre von zwei Prozessen gesteuert werde: einerseits ist sie das Produkt einer Subjektivierung, die sich aus der Einverleibung und der Auskleidung der Leerstellen mit der persönlichen Erfahrung und Erinnerung des Lesers ergebe, andererseits einer Objektivierung des entstehenden subjektiven Textes, also der Anpassung dieser Version an die neuen Informationen. Deshalb, so fordert Goulet, dürfe auch die Literaturwissenschaft nicht nur vom objektiven Text ausgehen, sondern müsse auch den subjektiven Anteil integrieren.

[15] 

Den überzeugendsten theoretischen Beitrag liefert Vincent Jouve mit »Du miroir au mirage«. Er kritisiert die beiden Positionen, die sich in der aktuellen Rezeptionsforschung diametral gegenüberstehen: die Wirkungsästhetik, die von einer Steuerung des Lesens über die objektiven Strukturen des Textes ausgeht, und ihre Gegenströmung, die die Freiheit des Lesers gegenüber dem Text verabsolutiert. Jouve schlägt nun ein Modell vor, das beide Standpunkte integriert: Sicherlich existiert der Text einerseits nicht als objektiver Inhalt. Wenn der Leser ihn nicht wahrnimmt, ist er auch nicht vorhanden. Andererseits kann der Rezipient eine Geschichte aber auch nicht völlig verändern. Er kann die Wörter nicht als Ausgangspunkt nehmen, um eine völlig eigenen Plot zu erleben: »quoi qu’on lise dans le roman de Flaubert, Madame Bovary reste l’histoire d’une provincial mariée à un officier de santé.« (S. 57) Zwar müsse man das kreative Moment der Lektüre anerkennen, dürfe aber auch die konstanten Elemente nicht leugnen. Ausgehend von der Prämisse, dass Subjektivität nicht zwangsweise die Arbitrarität der Lektüreaktivität impliziert, plädiert Jouve dafür, die individuelle Dimension auf ihre intersubjektive Komponente hin auszurichten und den Text als zugrundeliegende Analysekategorie beizubehalten. Diese Argumentation ähnelt der von Umberto Eco in Lector in fabula: Auch dort taucht die Idee der Kombination der Textstruktur mit der Individualität des Lesers auf 1 . Vorteil dieses Konzeptes ist es, dass es den Leser nicht als Gefahr, sondern als Bereicherung der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung denkt und beide bestimmenden Elemente, Text und Leser, integriert.

[16] 

Praktische Perspektiven und verstellte Ausblicke

[17] 

Eine Übertragung der theoretischen Überlegungen auf den Text wagt als einziger der Aufsatz von Micheline Cambron »Savoirs du texte, savoirs du lecteur, savoir de la lecture«. Die Verfasserin beobachtet sich selbst bei der Lektüre von Annie Ernaux‘ Les Années. Hierfür geht sie davon aus, dass der Leser normalerweise bestimmte kognitive Aufgaben übernimmt: Er muss inhaltliche Indizien entschlüsseln, über die Glaubwürdigkeit der Erzählung entscheiden, die Geschichte zeitlich strukturieren und sich die Makrostruktur vorstellen, um das Verhalten der Figuren korrekt zu beurteilen. Während sie diese Elemente untersucht, stellt Cambron beispielsweise fest, dass Annie Ernaux’ Text in ihr als Leserin ein Gefühl der Kompetenz erzeuge, weil sie sich der Erzählinstanz sehr nahe fühle. Dieses schreibt sie der Verwendung des Personalpronomens »je« zu. Inwiefern diese monokausale Verbindung zwischen Pronomen und Lektüreeindruck wirklich zutrifft, bleibt dahingestellt. Allerdings erscheint die Grundidee, von der eigenen Leseerfahrung auszugehen und zu versuchen, sie an den Text rückzubinden, sinnvoll.

[18] 

Etwas fragwürdiger wird Cambrons Analyse an den Stellen, an denen sie stark auf die persönliche Ebene geht. Beispielweise kommentiert die Verfasserin, als in Les Années ein Fondue erwähnt wird: »Pour mes enfants, la fondue bourguignonne est un plat mythique« (S. 197). Es ist sicherlich unnötig, solche peripheren Informationen herbeizuzitieren, um die Wirkung eines Textes zu erklären. Das biographische Wissen des Rezipienten kann und muss nicht vollständig entrollt werden, nur damit die Aktivierung des Lesers beschrieben werden kann. Trotz dieser Einschränkungen bleibt Cambrons Aufsatz die viel versprechendste Annäherung an die leserorientierte Literaturwissenschaft, die Le texte du lecteur zu bieten hat.

[19] 

Einen bereichernden Exkurs stellt Toviraaj Ramcharits»Le joueur/lecteur et l’autoconstruction du sens dans un environnement vidéoludqiue«dar. Der Artikel behandelt die Frage, wie Konsumenten von Videospielen diese mitkonstruieren. Unabdingliche Voraussetzung hierfür ist laut Ramcharits in erster Linie der Eindruck des Spielers, selbst in der Illusion der virtuellen Erfahrung aufzugehen. Diese wird über die Ähnlichkeit der Videowelt zur Wirklichkeit erreicht, also durch die Vergrößerung des Aktionsraumes, Modulationen von Wetter und Tageszeit, die Atmosphäre der Schauplätze oder eine Anpassung der Handlungsmöglichkeiten an den Ort. Dem Spieler müssen maximale Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, so dass er sich als »maître de son destin« (S. 229) wie in der wirklichen Welt fühlt. Eine Imitation der Realitätserfahrung ergibt sich beispielsweise auch dadurch, dass das virtuelle Umfeld sich durch das Eingreifen anderer Mitspieler verändert, während man selbst eine Pause einlegt.

[20] 

Genau wie in der Realität entsteht auf diese Weise eine Interaktion mit anderen. Die Annäherung der Spielwelt an die Wirklichkeit kann sich nicht nur auf dem Bildschirm, sondern auch über Elemente der Realität vollziehen, so z. B. wenn bei einem Autorennen der Joystick wie ein Lenkrad mit Pedalen und Gangschaltung gestaltet ist oder wenn der Sitz beweglich ist und die dargestellten Bewegungen imitiert. Interessant wäre es, Ramcharits Beobachtungen auf die Literatur zu übertragen. Die Tatsache, dass die Interaktion zwischen Text und Leser erst dann in Gang kommt, wenn der Leser den Eindruck bekommt, mit der Romanwelt einer Realität gegenüberzustehen, ist sicherlich auch für die Literatur zutreffend. Man müsste sich fragen, welche Elemente bewirken, dass der Leser die ihm gezeigte Welt für einen Moment als Realität annimmt und demgemäß reagiert.

[21] 

Lesedidaktik und Lesekulturen

[22] 

Diejenigen Autoren, die den Bereich der Didaktik behandeln, argumentieren alle in eine ähnliche Richtung. Sie konstatieren, dass die Schüler oder Studenten spontan zu einer subjektiven Lektüre tendieren, dass die Sozialisierung in Schule und Universität diese Impulse allerdings auszuradieren versucht und eine rein inhaltliche Deutung forciert (Roger/ Séoud). Die von der Institution gewünschte Lesehaltung ist die eines kühlen Detektivs, der kritisch mit dem Text umgeht und ihn einer Diskussion unterzieht (Quet). Um einen lustvollen Umgang mit Texten zu garantieren, sollte man die Schüler nicht in eine starre Form drängen, sondern sie zu einer imaginativen, identifikatorischen Leseweise anhalten, die sie Sensibilität für die Figuren und ihr Verhalten entwickeln lässt (Carrier). Das entspräche dann auch den neuen pädagogischen Forderungen nach der Autonomie des Schülers (Séoud).

[23] 

Vor allem Korrespondenzen und Briefromane eigneten sich besonders gut dazu, der Subjektivität des Lesers Raum zu geben. Sie machen die Mechanismen der Leseraktivität offenkundig, da sie das Wechselspiel der Positionierung des Rezipienten zum bereits gelesenen sowie seine Erwartung besonders inszenieren (Dezutter). Diese Argumentation ist im deutschen Forschungsbereich mit den Ideen von Harald Weilnböck vergleichbar, der sich ebenfalls für die persönliche Auseinandersetzung der Schüler mit der Literatur einsetzt, da diese ihnen wichtige pädagogische Schlüsselqualifikationen vermittle. 2

[24] 

Ähnlichkeiten untereinander weisen außerdem die soziologisch orientierten Essays (Martine Burgos und Manon Hébert»Observation des territoires mentaux convoqués par divers adolescents dans l’interprétation du Passeur de Loïs Lowry«(S. 249–270), Marion Sauvaire »Traces et racées des diversités culturelles dans les textes de lecteurs«(S. 277–288)) auf. Sie streichen heraus, dass Lektüreerfahrungen stark vom gesellschaftlichen Kontext abhängen, in dem man aufwächst. So zeigen Burgos und Hébert auf, dass die Lektüren von Jugendlichen in Frankreich, Kanada und Burkina Faso kulturspezifisch variieren.

[25] 

Während die französischen Testpersonen eine distanzierte Lektürehaltung einnahmen, Indizien zu analysieren versuchten und stets einen Sinn oder eine versteckte Realität hinter dem gesagten vermuteten, verwischten die aus Burkina Faso viel stärker die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, stellte Vergleiche zu ihrem eigenen Leben an und zeigten öfter Impulse, in die Romanwelt einzugreifen und sie zu verändern. Die Erfahrung mit den Schülern aus Québec zeigte ein Ergebnis zwischen subjektiver und inhaltlicher Leseweise. Außerdem stellte sich heraus, dass die Schüler die persönliche Lesart zugunsten einer textuellen aufgeben, je länger sie die Schule besuchen. Insofern wäre unser inhaltliches, werkimmanentes Lesen ein Produkt der Sozialisierung.

[26] 

Auch Marion Sauvaire arbeitet in »Traces et racées des diversités culturelles dans les textes de lecteurs« heraus, dass sich Lektüre und Lebenserfahrung junger Leser oft vermischen. Das schließt sie daraus, dass die Testpersonen ihre Leserfahrung in Lesetagebüchern stets in Kombination mit Alltagserlebnissen niederschrieben. Auch wenn diese Darstellungsweise von derjenigen, die ihnen in der Schule vermittelt wird, abweichen, ließen die Schüler häufig Subjektives einfließen. Die Auswahl ihrer kommentierten Textstellen kann auf diese Weise zum Indikator für persönliche Konflikte und gesellschaftliche Grenzen werden.

[27] 

Fazit

[28] 

Ingesamt betrachtet enthält der Sammelband einige interessante Beobachtungen zur Leserforschung. Jedoch bleibt er sowohl methodisch als auch in der Analyse eher vage, was sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass Artikel ein Thema nur beschränkt behandeln können. So einig sich die Beiträge bezüglich der Relevanz des Lesers für die Literaturwissenschaft auch sind, so schwer fällt es ihnen, diese in die Praxis umzusetzen. Eine klare Definition des Forschungsbereiches und das Ausschöpfen seines Potenzials werden noch nicht wirklich erreicht. Die Beiträge sind erste Schritte auf dem von der Hermeneutik gut abgeschotteten und unbekannten Terrain der leserorientierten Literaturwissenschaft. Diese Schritte sind unsicher und unkoordiniert und sie zeigen vor allem eins: Bis die Interaktion von Leser und Text die literaturwissenschaftliche Alltagspraxis Eingang finden kann, scheint es noch ein weiter Weg.

 
 

Anmerkungen

Umberto Eco: Lector in fabula. Le rôle du lecteur; Paris: Editions Grasset & Fasquelle, 1985; S.8.

   zurück
Harald Weilnböck: »Qualitativ-empirische psychologische Literatur- und Medien-Interaktionsforschung (LIR). Ein Design für integrale kulturwissenschaftliche Text- und Personenforschung – mit Überlegungen zu den wissenschaftsstrategischen Implikationen«; in: http://www.weilnboeck.entredeux.de/downloads/hw_2009c.pdf; S.5 (Stand vom 10.02.2012)   zurück